Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 16.09.2008, Az.: 13 A 284/08
Abschiebeschutz hinsichtlich der Türkei bei Lebererkankung und Listung zur Transplantation; Abschiebeschutz; Krankheit; Lebertransplantation; Türkei
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 16.09.2008
- Aktenzeichen
- 13 A 284/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45475
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2008:0916.13A284.08.0A
Rechtsgrundlage
- § 60 VII AufG
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger zu 1.) ein Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 7 AufEnthG hinsichtlich der Türkei solange vorliegt, bis entweder der Kläger in Deutschland eine Lebertransplantation erhalten hat und sein nachoperativer Zustand stabil und er dadurch nicht mehr gefährdet ist oder die Beklagte oder das Land Niedersachsen die notwendigen und angemessenen Kosten für den Kläger zu 1.) für eine Lebertransplantation und der Nachsorge in der Türkei einschließlich der notwendigen Medikamente übernimmt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens zu 2/3, die Beklagte zu 1/3.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweiligen Vollstreckungsschuldner können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leisten.
Tatbestand
Die Kläger, ein Ehepaar, begehren das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebehindernissen.
Die Kläger hatten früher unter anderen Namen und Angabe irakischer bzw. libanesischer Staatsbürgerschaften, schon erfolglos um Asyl nachgesucht. Auch Abschiebehindernisse wurden nicht festgestellt. Diese Entscheidungen sind bestands- bzw. rechtskräftig.
Nachdem bekannt wurde, dass es sich bei den Klägern um türkische Staatsangehörige handelt, wies die zuständige Ausländerbehörde die Kläger aus. Die Ausreiseverpflichtung wurde bislang jedoch nicht durchgesetzt.
Am 08.05.2006 beantragten die Kläger bei der Beklagten das Wiederaufgreifen des Verfahrens und die Feststellung von Abschiebehindernissen gem. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei. Der Kläger zu 1.) leide an einer Leberzirrhose. Auch bestünden bei beiden Klägern andere weitere Erkrankungen, die einer Abschiebung entgegenstünden. Dem Antrag war beigefügt:
eine ärztliche Bescheinigung der Dr. Müller-Bartels vom 13.07.2005, wonach der Kläger zu 1.) an einer Leberzirrhose leidet und die Klägerin zu 2.) an Dermatitis im Fußsohlenbereich und juckende Dermatose im Handgelenksbereich und zudem an Schlaf- und Unruhezuständen leidet;
ein Schreiben der MHH vom 11.08.2005, wonach beim Kläger zu 1.) eine chronische Virushepatitis B und Leberzirrhose vorliegt
ein "fachärztlicher Bericht" des Dr. Geletneky vom 26.08.2005, wonach bei der Klägerin zu 2.) insbesondere eine PTBS und beim Kläger zu 1.) eine schwere Depression vorliegen soll;
ein Schreiben der Dr. G. Penteker (von der Arbeitsgruppe der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung - IPPNW) vom 023.02.2006
Mit Bescheid vom 13.06.2006, am selben Tag als Einschreiben zur Post gegeben, lehnte die Beklagte eine Abänderung des nach altem Recht ergangenen Bescheides vom 28.10.1994 bezüglich der Feststellungen zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG. ab. Die Kläger hätten die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG nicht eingehalten. Zwar könne die Beklagte im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens auch von sich aus ein Verfahren wieder aufgreifen. Aber auch dafür lägen Gründe nicht vor. Lebererkrankungen seien in der Türkei behandelbar. Das Schreiben des Arztes der Organisation IPPNW gehe zudem von falschen Voraussetzungen aus, enthalte keine nachvollziehbare Diagnose und sei nicht geeignet, Abschiebehindernisse schlüssig darzulegen. Auf die Frist des § 74 Abs. 2 AsylVfG wurde von der Beklagten hingewiesen.
Die Kläger haben am 28.06.2006 Klage erhoben.
Die Kläger tragen vor, der Bescheid der Beklagten sei am 14.06.2006 zugestellt. Sie nehmen Bezug auf ihren bisherigen Vortrag und sind der Ansicht, die Ermessensentscheidung der Beklagten sei nicht ermessensfehlerfrei zu Stande gekommen. Nach Ablauf der Frist des § 74 Abs. 2 AsylVfG legten die Kläger am 31.08.2006 eine Bescheinigung der MHH vom 07.07.2006 vor, wonach der Kläger zu 1.) zu einer Lebertransplantation gelistet worden war. Aus einem weiteren Schreiben der MHH vom 03.11.2006 ergibt sich, dass der Kläger zu 1.) für die Dringlichkeitsstufe T2 gelistet worden war.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 13.06.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Verfahren wieder aufzugreifen und festzustellen, dass bei den Klägern Abschiebehindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gegeben sind.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
Sie tritt der Klage entgegen.
Die Beklagte legte im weiteren Verlauf des Verfahrens ein Sachverständigengutachten des Serafettin Kaya vom 22.02.2008 an das Verwaltungsgericht Freiburg vor, vom Gericht wurde die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19.03.1997 - 514-516.80/6TUR - zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
Alle Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden und mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der Kammer einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Im Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung gemäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO durch den Berichterstatter und weiterhin ohne mündliche Verhandlung, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist nur zum Teil begründet. Die Klägerin zu 2.) hat keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Feststellung von Abschiebehindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG, der Kläger zu 1.) hat nur einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebehindernissen im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang.
Die Entscheidung der Beklagten war allerdings seinerzeit bei Ergehen des Bescheides 13.06.2006 rechtmäßig und nicht zu beanstanden. Das Gericht darf jedoch nicht auf die Sachund Rechtslage zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung der Beklagten abstellen. Gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG ist vielmehr die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. bei einem Urteil nach § 101 Abs. 2 VwGO im Zeitpunkt der Entscheidung maßgebend.
Hier haben die Kläger im Laufe des Verfahren (Bl. 20 ff. der Gerichtsakte) vorgetragen und hinreichend dargelegt, dass der Kläger zu 1.) mittlerweile mit der Stufe 2 zur Lebertransplantation gelistet worden ist. Diese neue Sachlage konnte die Beklagte bei ihrer Entscheidung noch nicht berücksichtigen, ist aber nun vom Gericht in seine Entscheidung mit einzustellen.
Der Vortrag, dass nunmehr der Kläger zu 1.) gelistet worden sei, erfolgte allerdings erst nach Ablauf der Frist des § 74 Abs. 2 AsylVfG, obwohl die Kläger über diese Frist belehrt worden waren und ein rechtzeitiger Vortrag möglich war. Im Hinblick auf die erheblichen drohenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen meint das Gericht, den verspäteten Vortrag gleichwohl schon deshalb berücksichtigen zu können. Im Übrigen führt er nicht zu einer Verzögerung des Rechtsstreites, weil die dem Gericht vorliegenden Auskünfte und Gutachten ausreichend sind und keine weiteren Auskünfte mehr zur medizinischen Versorgung in der Türkei eingeholt werden müssen.
Aufgrund der im Laufe des Klageverfahrens eingetretenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers zu 1.) ist davon auszugehen, dass ohne Lebertransplantation und entsprechender nachsorgender Behandlung ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht. Denn eine derartige Listung zur Transplantation, wie beim Kläger geschehen, kommt nur bei ernsthaften, gefährlichen Lebererkrankungen in Betracht, die eine derartige Behandlung dringend erfordern.
Zwar ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass Lebertransplantation auch in der Türkei durchgeführt werden und grundsätzlich der Kläger zu 1.) dort auch eine Behandlung erhalten könnte. Allerdings ist nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19.03.1997 - 514-516.80/6 TUR - die Behandlung bei einer Lebertransplantation nur für staatlich oder privat krankenversicherte Personen kostenfrei. Nicht krankenversicherte Personen müssen danach für alle Kosten - seinerzeit waren dies umgerechnet ca. 50 bis 70 000 DM entsprechend 4 bis 5 Milliarden TL - selbst aufkommen.
Auch das von der Beklagten vorgelegte aktuelle Gutachten des Serafettin Kaya vom 22.02.2008 bestätigt, dass ohne Einsatz erheblicher finanzieller Eigenmittel auch heute noch eine Lebertransplantation und die Nachsorge in der Türkei tatsächlich nicht möglich sind.
Die Kläger sind nicht krankenversichert und es ist nicht ersichtlich, dass sie diese Mittel selbst oder mit Hilfe von Verwandten aufbringen können.
Nach alledem besteht für den Kläger zu 1.) keine Aussicht, aufgrund eigener Mittel in der Türkei hinsichtlich seiner Lebererkrankung so behandelt zu werden, dass ihm keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht. Solange nicht die Beklagte oder das Land Niedersachsen sich bereit erklären, die Behandlungskosten in der Türkei zu übernehmen, besteht deshalb insoweit für ihn ein Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 AufEnthG (vgl. auch VG Freiburg, Urt.v. 05.05.2008 - A 5 K 631/06 -, Asylmagazin 7-9/2008, 29f.).
Zwar hat der EGMR nun entschieden (Entscheidung vom 27.05.2008 - 26565 (N vs. UK), dass nach der EMRK die Unterzeichnerstaaten und damit die Beklagte, nicht verpflichtet sind, die sozioökonomischen Differenzen gegenüber weniger entwickelten Ländern auszugleichen und eine Verpflichtung, Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung kostenlose und unbegrenzte ärztliche Betreuung zu gewähren, nicht aus Art. 3 EMRK folgt, selbst wenn notwendige Arzneimittel in den Rückkehrstaaten oft teuer und schwierig zu beschaffen sind, weil die medizinische Versorgung von Ausländern eine zu große Belastung für diese Staaten darstellt. Das Gericht folgt dieser Auffassung. Gleichwohl war der Klage im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben. Denn der Anspruch des Klägers zu 1.) folgt nicht aus der EMRK, sondern aus § 60 Abs. 7 AufEnthG. Diese Vorschrift stellt allein auf eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben ab.
Im Übrigen ist die Klage jedoch unbegründet. Der Kläger zu 1.) hat keinen Anspruch auf einer weitergehende Feststellung von Abschiebehindernissen, die Klägerin zu 1.) hat überhaupt keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebehindernissen. Zu Recht hat die Beklagte bei ihrer Entscheidung darauf hingewiesen, dass in Bezug auf die im Antragsschreiben vom 05.05.2006 genannten Gründe schon die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG nicht eingehalten wurde. Die - vom Gericht in Hinblick auf § 114 VwGO nur eingeschränkt überprüfbare Ermessenentscheidung, das Verfahren auch von Amtswegen nicht wieder aufzugreifen, war nicht zu beanstanden. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Hinsichtlich der behaupteten psychiatrischen Erkrankungen der Kläger teilt das Gericht die Einschätzung der Beklagten, insbesondere die Würdigung der entsprechenden ärztlichen Schreiben. Anhaltspunkte dafür, dass eine Ermessensreduzierung auf Null eingetreten ist, wonach zwingend ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Klägerin zu 2.) geboten wäre, sind daraus nicht ersichtlich.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wird im Übrigen auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt, § 77 Abs. 2 AsylVfG.
Fragen der Reisefähigkeit der Kläger berühren nicht die Frage von zielstaatsbezogenen Abschiebehindernissen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.