Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 05.12.2016, Az.: 1 Ws 502/16
Anhörung des Verurteilten vor Reststrafenaussetzung trotz dessen Abschiebung nach Absehen von der weiteren Vollstreckung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 05.12.2016
- Aktenzeichen
- 1 Ws 502/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 35280
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2016:1205.1WS502.16.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 20.09.2016 - AZ: 83 StVK 47/16
Rechtsgrundlagen
- StGB § 57
- StPO § 454 Abs. 1 S. 2
- StPO § 454 Abs. 1 S. 4
- StPO § 454 Abs. 3
- StPO § 456a Abs. 1
Fundstellen
- StV 2019, 636
- StraFo 2017, 344-345
Amtlicher Leitsatz
Die Verfahrensregeln nach § 454 StPO sind auch dann zu beachten, wenn der Verurteilte sich zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr im Strafvollzug in Deutschland befindet, sondern nach Absehen von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456 a Abs. 1 StPO in sein Heimatland abgeschoben worden ist.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an dieselbe Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover zurückverwiesen.
Gründe
I.
Mit Beschluss vom 20. September 2016, der dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 4. Oktober 2016 zugestellt worden ist, hat die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Göttingen vom 6. September 2001 - ... - abgelehnt.
Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner sofortigen Beschwerde, die am 7. Oktober 2016 bei dem Landgericht Hannover eingegangen ist.
II.
Die gemäß § 454 Abs. 3 StPO statthafte und in zulässiger Weise eingelegte sofortige Beschwerde des Verurteilten hat in der Sache zumindest vorläufig Erfolg.
Die angefochtene Entscheidung leidet an Verfahrensmängeln, die die Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer gebieten. Die Verfahrensregeln nach § 454 StPO sind auch dann zu beachten, wenn der Verurteilte sich - wie hier - zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr im Strafvollzug in Deutschland befindet, sondern nach Absehen von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456 a Abs. 1 StPO in sein Heimatland abgeschoben worden ist (vgl. KG, Beschluss vom 18. August 2014 - 5 Ws 2/14 -, juris; OLG München, Beschluss vom 26. Februar 2014 - 1 Ws 120/14 -, juris; OLG Bremen NStZ 2010, 718).
1. Die Strafvollstreckungskammer hat entgegen § 454 Abs. 1 Satz 2 StPO die Vollzugsanstalt nicht angehört und von der in § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend vorgeschriebenen mündlichen Anhörung des Verurteilten abgesehen, ohne zu klären, ob von dieser mündlichen Anhörung ausnahmsweise abgesehen werden durfte.
Zwar ist anerkannt, dass von der mündlichen Anhörung - über die in § 454 Abs. 1 Satz 4 StPO ausdrücklich genannten Ausnahmefälle hinaus - dann abgesehen werden kann, wenn der Verurteilte ausdrücklich darauf verzichtet (vgl. BGH NStZ 2000, 279 [BGH 28.01.2000 - StB 1/2000; 2 StE 9/91]; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 59. Aufl. § 454 Rn. 24) oder wenn diese unmöglich bzw. dem Verurteilten unzumutbar ist, weil er sich nach vorausgegangener Entscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO im Ausland aufhält und ihm im Falle der Wiedereinreise die Verhaftung und Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe gemäß § 456a Abs. 2 StPO droht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO.). Die Möglichkeit der Anhörung des Verurteilten im Wege der Rechtshilfe scheidet vorliegend schon deshalb aus, weil der mit dem gesetzlichen Erfordernis der mündlichen Anhörung verfolgte Zweck, dem zur Entscheidung berufenen Gericht einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von dem Verurteilten zu verschaffen, auf diese Weise nicht erreicht werden kann (vgl. OLG Bremen aaO.; OLG Hamm NStZ-RR 2010, 339 [OLG Hamm 04.05.2010 - III-5 Ws 142/10]). Die mündliche Anhörung liegt damit auch im Interesse des Verurteilten. Ob dieser unter den gegebenen Umständen auf eine mündliche Anhörung verzichtet oder ob er bereit ist, sich der mündlichen Anhörung in der Bundesrepublik Deutschland zu stellen und das Risiko der Verhaftung bei Wiedereinreise in das Bundesgebiet zu tragen, ist bislang ungeklärt. Auch steht nicht fest, ob der Verurteilte einen - möglichen - Antrag auf Aufhebung bzw. Aussetzung des gegen ihn erlassenen Vollstreckungshaftbefehls bei der Staatsanwaltschaft Göttingen stellen will (vgl. OLG Hamm aaO.), und wie dieser Antrag letztlich beschieden würde. Die Strafvollstreckungskammer wird unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen aufklären und entscheiden müssen, ob eine mündliche Anhörung durchführbar ist oder davon ausnahmsweise abgesehen werden kann.
2. Zudem war die Frage, ob hier eine Reststrafenaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, nicht ohne Einholen eines Prognosegutachtens nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO zu beantworten. Die Voraussetzungen einer Begutachtungspflicht nach dieser Regelung sind vorliegend erfüllt.
a) Der Verurteilte ist wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b) StGB bezeichneten Art, nämlich wegen eines Verbrechens nach §§ 255, 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden.
b) Die Möglichkeit einer bedingten Entlassung ist im vorliegenden Fall auch zu erwägen. Anders läge es dann, wenn entweder aufgrund besonderer Umstände eine Aussetzung der Reststrafe offensichtlich nicht verantwortet werden könnte (BGHR StPO § 454 Gutachten 3) oder nach Aktenlage sicher erkennbar wäre, dass der Verurteilte dem Vollzugsziel der Resozialisierung nicht näher gekommen ist und deshalb für den Fall der Strafrestaussetzung nicht unerhebliche Straftaten von ihm zu befürchten sind, so dass damit zweifelsfrei Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung entgegenstehen (Senatsbeschluss vom 17. September 2013 - 1 Ws 378/13; LR-Graalmann-Scheerer StPO 26. Aufl. § 454 Rn. 53). Beides ist hier nicht Fall. Die Lebensumstände des Verurteilten haben sich ausweislich der vorgelegten Unterlagen in einem solchen Maße sowohl wirtschaftlich als auch sozial stabilisiert, dass im Rahmen der Prognoseentscheidung nicht mehr allein auf die in der Tatbegehung zutage getretenen charakterlichen Mängel des Verurteilten abgestellt werden kann. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die - eine Aussetzung befürwortende - Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen.
c) Hingegen ist der vorliegende Fall auch nicht derart eindeutig, dass eine Strafrestaussetzung ohne sachverständige Beratung in Betracht käme, weil auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit dem entgegenstehen.
3. Die vorstehend aufgezeigten Verfahrensmängel führen zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (vgl. BGH aaO.; KG aaO.).
Es wird von der Strafvollstreckungskammer zu klären sein, ob der Verurteilte bereit ist, sich der gebotenen kriminalprognostischen Begutachtung im Inland zu stellen; ohne sie kommt eine Strafrestaussetzung nicht in Betracht (vgl. OLG München aaO.; OLG Bremen aaO.; OLG Hamm aaO.).
III.
Eine Kostenentscheidung ist derzeit nicht veranlasst. Sie ist an dem abschließenden Ergebnis in der Sache zu orientieren und bleibt deshalb der erneuten erstinstanzlichen Schlussentscheidung vorbehalten.