Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 14.12.2016, Az.: 2 Ws 267/16

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
14.12.2016
Aktenzeichen
2 Ws 267/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 33191
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2016:1214.2WS267.16.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 30.11.2016 - AZ: 3 KLs 7/16

Fundstellen

  • StraFo 2017, 195-196
  • StraFo 2017, 283

Amtlicher Leitsatz

1. Voraussetzung für die Zulassung der Nebenklage ist weder ein dringender noch ein hinreichender Tatverdacht für das Vorliegen eines Nebenklagedelikts. Ausreichend ist eine auch nur wenig erfolgversprechende Aussicht dafür, dass der Angeklagte nach der Sachlage oder aufgrund des Vorbringens des Antragstellers wegen einer Nebenklagestraftat verurteilt wird. Dies ist unabhängig davon zu beurteilen, ob die Anklage die vorgeworfene Tat rechtlich als Nebenklagestraftat bewertet hat oder im Eröffnungsbeschluss die Voraussetzungen der Zulassung der Nebenklage bejaht wurden.

2. Der Widerruf der Zulassung der Nebenklage kann in jeder Lage des Verfahrens erfolgen, wenn ihr von vornherein die rechtliche Grundlage gefehlt hat. Er scheidet aus, wenn sich in der Hauptverhandlung im Verlauf der Beweisaufnahme ergibt, dass die tatsächlichen Voraussetzungen des Nebenklagedelikts nicht nachweisbar sind oder sich die tatsächlichen Behauptungen des Nebenklägers als unrichtig erweisen.

3. Diese Grundsätze gelten für die Zulassung der Nebenklage im Strafverfahren gegen Jugendliche nach § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG entsprechend.

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen. Er hat jedoch die dem Nebenkläger im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Verden (Az. 452 Js 20096/16) wirft dem Angeklagten mit der am 01.09.2016 vor dem Landgericht Verden gegen ihn erhobenen Anklage vor, als Heranwachsender am 14.05.2016 in V. nach einer am Tag zuvor stattgefundenen verbalen Auseinandersetzung zwischen kurdischen und afghanischen Flüchtlingen eine Gruppe von 15-20 Personen dazu aufgefordert zu haben, sich mit Messern und ähnlichem zu bewaffnen, um die Flüchtlingsunterkunft in der Turnhalle der BBS aufzusuchen und erhebliche Gewalt gegen die dort lebenden afghanischen Flüchtlinge auszuüben, wobei er angekündigt haben soll, dass Lager niederbrennen und das Camp vernichten zu wollen. Nach dem gemeinsamen Erstürmen der Einrichtung soll der Angeklagte als Rädelsführer an der Spitze der Gruppe kurdisch stämmiger Flüchtlinge in den Speisessaal eingedrungen sein, seine Begleiter weiter aufgewiegelt, sodann einen 16-jährigen afghanischen Flüchtling zunächst geohrfeigt, anschließend mit einer sog. Bierzeltgarnitur zweimal mit Schwung auf den Kopf geschlagen und dabei seinen Tod zumindest billigend in Kauf genommen haben. Durch dieses gewalttätige Vorgehen soll er seine Begleiter zusätzlich aufgewiegelt und gleichartige Gewaltausschreitungen gegen andere Bewohner sowie den Tod von Menschen gezielt in Kauf genommen haben. Er soll sodann dem aus Angst fliehenden 14-jährigen Nebenkläger, ebenfalls ein afghanischer Flüchtling, nachgesetzt und einen hölzernen Gegenstand gegen dessen Kopf geworfen haben, wodurch der Nebenkläger zu Boden gestürzt sein soll. Anschließend sollen Begleiter des Angeklagten den Nebenkläger gemeinsam geschlagen und auf ihn eingetreten haben, um ihm tödliche Verletzungen beizubringen.

Die Staatsanwaltschaft hat das Verhalten des Angeklagten in der Anklage als Landfriedensbruch im besonders schweren Fall nach §§ 125 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 125a Nr. 2, 2. Alter., Nr. 3 StGB, tateinheitlich begangen mit versuchtem Mord nach §§ 211 Abs. 1, 5. Var., 22, 23 StGB zum Nachteil des zuerst angegriffenen Opfers und gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB zum Nachteil des Nebenklägers gewertet.

Die 3. große Jugendstrafkammer des Landgerichts Verden hat die Anklage mit Beschluss vom 18.10.2016 zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.

Mit weiterem Beschluss vom 23.11.2016 hat die Kammer dem Zulassungsantrag des Nebenklägers stattgegeben.

Nach Beginn der Hauptverhandlung hat sich durch ein von der Kammer eingeholtes Sachverständigengutachten ergeben, dass der Angeklagte zur Tatzeit das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Daraufhin hat die Kammer mit Beschluss vom 30.11.2016 die Zulassung des Nebenklägers widerrufen. Dies hat sie damit begründet, dass die im Strafverfahren gegen einen Jugendlichen für die Nebenklagebefugnis nach § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG erforderlichen Voraussetzungen vorliegend nicht gegeben seien, da gegen den Angeklagten wegen des Übergriffs auf den Nebenkläger kein Verbrechensvorwurf erhoben worden sei.

Hiergegen wendet sich der Nebenkläger mit seiner Beschwerde, der die Kammer nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben, da bei Anklageerhebung und zum Zeitpunkt der Zulassung der Nebenklage nach dem Tatgeschehen, wie es in der Anklage dargestellt sei, die Möglichkeit der Verurteilung des Angeklagten wegen eines versuchten Tötungsverbrechens zum Nachteil des Nebenklägers bestanden habe und damit die Voraussetzungen für die Nebenklagebefugnis nach § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG gegeben gewesen seien. Wie sich die Beweislage nach dem jetzigen Stand der Hauptverhandlung darstelle, sei nicht von Belang.

II.

1. Die nach § 304 Abs. 1 StPO zulässige Beschwerde führt in der Sache zum Erfolg.

Die von der Kammer in dem angefochtenen Beschluss für den Widerruf der Zulassung des Nebenklägers angegebenen Gründe halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zwar ist die Entscheidung über die Zulassung eines Nebenklägers nach § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht der Rechtskraft fähig, weshalb das Gericht die Zulassung in jeder Lage des Verfahrens auf Antrag oder von Amts wegen wieder aufheben kann, wenn sich ergibt, dass ihr von vornherein die rechtliche Grundlage gefehlt hat (vgl. LR-Hilger, Rd. 22 zu § 396 mwN). Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben.

Bei der Frage, ob vorliegend die Nebenklagebefugnis des Beschwerdeführers weiterhin gegeben ist, ist - nachdem sich herausgestellt hat, dass der Angeklagte das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat - auf die Bestimmung des § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG abzustellen. Danach kann sich der erhobenen öffentlichen Klage u.a. derjenige als Nebenkläger an-schließen, der durch ein Verbrechen gegen das Leben seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist. Nach der zu den Voraussetzungen der Nebenklagebefugnis in Verfahren gegen Erwachsene nach § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO ergangenen Rechtsprechung, die auf die Nebenklagebefugnis in Strafverfahren gegen Jugendliche nach § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG entsprechend anzuwenden ist, ist die Nebenklage bereits dann zuzulassen, wenn auch nur die geringe Möglichkeit besteht, dass der Angeklagte nach der Sachlage oder aufgrund des tatsächlichen Vorbringens des Antragstellers wegen einer Nebenklagestraftat verurteilt wird (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 340 [BGH 18.06.2002 - 4 StR 178/02]; OLG Düsseldorf, NStZ 1997, 204). Ob diese Möglichkeit gegeben ist, ist unabhängig davon zu beurteilen, ob die Anklage die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat in rechtlicher Hinsicht als eine Nebenklagestraftat bewertet hat oder ob die Voraussetzungen eines Nebenklagedelikts im Eröffnungsbeschluss bejaht bzw. verneint worden sind (vgl. OLG Düsseldorf, aaO.). Die Nebenklagebefugnis setzt auch weder einen dringenden noch einen hinreichenden Tatverdacht für eine zum Anschluss als Nebenkläger berechtigende Tat voraus, sondern besteht sogar dann, wenn nur eine wenig erfolgversprechende Aussicht hinsichtlich der Verurteilung wegen eines Nebenklagedelikts besteht (vgl. OLG Düsseldorf, aaO.). Deshalb kann auch ein Widerruf der Zulassung der Nebenklage nicht darauf gestützt werden, dass die tatsächlichen Voraussetzungen des Nebenklagedelikts nicht nachweisbar seien oder sich die entsprechenden Behauptungen des Nebenklägers im Nachhinein als unrichtig erwiesen haben (vgl. LR-Hilger, aaO., mwN).

In Ansehung der vorstehenden Grundsätze kam vorliegend der Widerruf der Zulassung des Nebenklägers nicht in Betracht. Nach Ansicht des Senats bestand auf der Grundlage des von der Anklage mitgeteilten Sachverhalts zum Zeitpunkt der Zulassung des Nebenklägers durch die Kammer durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung des Angeklagten wegen eines versuchten Tötungsverbrechens nach §§ 212 (1), 211 (1), 22, 23 (1) StGB (auch) zum Nachteil des Nebenklägers, durch das dieser i.S. von § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist. Die Anklage teilt hierzu mit, dass der Angeklagte am Tattag seine Begleiter vor der Erstürmung der Flüchtlingsunterkunft in eine aggressive Stimmung versetzt und durch seinen ersten gewalttätigen Übergriff gegen den Geschädigten R. H. noch zusätzlich aufgewiegelt sowie bewusst in Kauf genommen hat, dass es zu weiteren Gewalttätigkeiten gegen die afghanischen Flüchtlinge kommen würde, in deren Folge Menschen getötet werden würden. Die Anklage nimmt weiterhin an, dass der Angeklagte nach dem Übergriff gegen sein erstes Opfer unmittelbar auch den Nebenkläger angegriffen hat und dieser sodann von den Begleitern des Angeklagten geschlagen und getreten wurde, um ihm tödliche Verletzungen beizubringen. Unter Zugrundelegung dieses Sachverhalts lag zum Zeitpunkt der Zulassung des Nebenklägers durch die Kammer die Verurteilung des Angeklagten wegen eines (auch) zum Nachteil des Nebenklägers begangenen versuchten Tötungsverbrechens nicht fern.

Ob sich an dieser Sachlage nach dem bisherigen Beweisergebnis der Hauptverhandlung in tatsächlicher Hinsicht etwas geändert hat, ist für die Frage der Zulässigkeit des Widerrufs der Zulassung des Nebenklägers ohne Belang. Denn die Änderung oder gar der Wegfall der tatsächlichen Voraussetzungen für die Annahme der Nebenklagebefugnis vermag - wie oben bereits ausgeführt - den Widerruf der Zulassung der Nebenklage nicht zu begründen.

Im Ergebnis kann der angefochtene Beschluss der Kammer keinen Bestand haben. Er war mithin aufzuheben.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 74 JGG. Der Senat hat es im Rahmen des ihm obliegenden Ermessens aus erzieherischen Gründen als sachgerecht angesehen, den Angeklagten von der Belastung mit den im Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten freizustellen.

Hinsichtlich der notwendigen Auslagen des Nebenklägers war zu beachten, dass die diesbezüglichen Bestimmungen der §§ 472, 473 Abs. 1 Satz 2 und 3 StPO im Strafverfahren gegen Jugendliche keine Anwendung finden (vgl. Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 18. Auflage, Rd. 16 zu § 74). Angesichts des Umstands, dass der Nebenkläger selbst Jugendlicher ist und über keine regelmäßigen Einkünfte verfügen dürfte, erschien es dem Senat angemessen und vertretbar, die ihm im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen dem Angeklagten aufzuerlegen.

3. Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).