Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 10.03.2017, Az.: L 11 AS 143/16

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Widerspruchsfrist; Minderung der Gewährung von Sozialleistungen wegen Pflichtverletzung des Leistungsberechtigten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
10.03.2017
Aktenzeichen
L 11 AS 143/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 16273
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 06.01.2016 - AZ: S 22 AS 421/14

Fundstelle

  • FEVS 2018, 133-136

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 6. Januar 2016 sowie der Bescheid des Beklagten vom 2. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2014 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger hinsichtlich der Versäumung der Widerspruchsfrist gegen den Änderungsbescheid vom 10. April 2013 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Beklagte erstattet dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Widerspruchsfrist.

Der 1986 geborene Kläger bezog im Jahr 2013 vom Beklagten laufende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Mit Bescheid vom 10. April 2013 minderte der Beklagte die dem Kläger gewährten SGB II-Leistungen erneut, nämlich um 100 Prozent für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 2013. Diese Entscheidung begründete der Beklagte damit, dass der Kläger sich trotz ausdrücklicher Aufforderung einem potentiellen Arbeitgeber nicht vorgestellt habe (Pflichtverletzung nach § 31 Abs 1 Nr 2 SGB II).

Der Änderungs-/Sanktionsbescheid wurde dem Kläger am 12. April 2013 per Postzustellungsurkunde zugestellt. Hiergegen legte er durch seine Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 10. Mai 2013 (Freitag) Widerspruch ein, der ausweislich des in der Verwaltungsakte des Beklagten befindlichen Eingangsstempels dort am 16. Mai 2013 einging. Insoweit machte der Prozessbevollmächtigte des Klägers geltend, den Widerspruch am 10. Mai 2013 (Freitag) gefertigt und noch am selben Tag in den Briefkasten an der H. 195 in I. geworfen zu haben (Leerungszeiten: freitags 16.15 Uhr und sonnabends 10.00 Uhr). Entsprechend der von der Post angegebenen generellen Brieflaufzeit von einem Werktag sei mit einem Zugang spätestens am Montag (13. Mai 2013) zu rechnen gewesen. Die Richtigkeit dieser Angaben versicherte der Prozessbevollmächtigte des Klägers ausdrücklich anwaltlich (Schreiben vom 3. Juni 2013).

Der Beklagte lehnte mit dem im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheid vom 2. August 2013 den Wiedereinsetzungsantrag ab. Der Kläger sei nicht gehindert gewesen, den Widerspruch innerhalb der Widerspruchsfrist einzulegen. Unverschuldete Hinderungsgründe seien nicht vorgetragen worden. Der vom Kläger hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Zur Begründung führte der Beklagte ergänzend aus, dass ein verschuldetes Fristversäumnis auch dann anzunehmen sei, wenn ein Schriftstück so kurz vor Fristende abgeschickt werde, dass es nur unter außergewöhnlich günstigen Umständen noch rechtzeitig ankommen könne. Darüber hinaus sei weder die Abgabe des Briefes zur Post am Freitag (10. Mai 2013) nachgewiesen worden noch habe "bestimmt" gesagt werden können, ob der Briefkasten nach Einwurf des Briefes noch am 10. oder erst am 11. Mai 2013 geleert worden sei (Widerspruchsbescheid vom 11. April 2014).

Zeitgleich mit dem Erlass des im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheides vom 2. August 2013 (Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) verwarf der Beklagte den Widerspruch gegen den Änderungs-/Sanktionsbescheid vom 10. April 2013 wegen Verfristung als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 2. August 2013 - J.). Die vom Kläger hiergegen beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhobene Klage K. wurde am 6. Januar 2016 zurückgenommen.

Gegen den die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffenden Bescheid vom 2. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2014 hat der Kläger am 14. Mai 2014 beim SG Klage erhoben. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Richtigkeit seiner Angaben zum Geschehensablauf erneut anwaltlich versichert. Er hat nochmals auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) verwiesen, wonach darauf vertraut werden dürfe, dass Briefe innerhalb eines Werktages befördert würden. Differenzierungen aufgrund von Feiertagen oder Wochenenden seien nicht zulässig. Auch sei ein Beteiligter berechtigt, die Frist bis zum letzten möglichen Zeitpunkt auszunutzen. Selbst wenn nicht mehr sicher gesagt werden können, ob der Einwurf des Briefes am Freitagnachmittag noch vor oder erst nach der freitäglichen Leerung erfolgt sei, sei aufgrund der Leerung am Sonnabend mit einem Zugang am nächsten Werktag (Montag) zu rechnen gewesen.

Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter die Widerspruchsfrist schuldhaft versäumt habe. Insoweit sei die Kammer der Überzeugung, dass derjenige, der eine Frist einzuhalten habe, besondere Sorgfaltspflichten zu beachten habe. Bei unmittelbar bevorstehendem Fristablauf könnten bei Nutzung moderner digitaler Kommunikationsmethoden (Fax, E-Mail, E-Post-Brief oder elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach - EGVP -) fristwahrende Verfahrenshandlungen "quasi am gleichen Tag erbracht werden". Zumindest bei professionell Bevollmächtigten könne davon ausgegangen werden, dass solche modernen Kommunikationsmethoden zur Verfügung ständen. Der Prozessbevollmächtige des Klägers verfüge über ein digitales Fax. Andere Widersprüche des Klägers seien auch vorab per Fax eingelegt worden. Diese modernen Kommunikationsmethoden seien zur Vermeidung von Fristversäumnissen zu nutzen, so dass der Beklagte zu Recht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt habe. Da die Kammer mit ihrer Entscheidung von der herrschenden Rechtsprechung abweiche, werde die Berufung zugelassen (Urteil vom 6. Januar 2016).

Gegen das dem Kläger am 3. Februar 2016 zugestellte Urteil richtet sich seine am 12. Februar 2016 eingelegte Berufung, in der er erneut auf die von der Entscheidung des SG abweichende Rechtsprechung insbesondere des BVerfG und des BGH verweist.

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 6. Januar 2016 sowie den Bescheid des Beklagten vom 2. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2014 aufzuheben,

  2. 2.

    den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist gegen den Änderungsbescheid vom 10. April 2013 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bezieht sich zur Begründung auf das angefochtene Urteil. Die Abgabe eines vom erkennenden Senat angeregten Anerkenntnisses lehnt der Beklagte ausdrücklich ab (vgl. richterliche Verfügung vom 17. Mai 2016 sowie Schriftsatz des Beklagten vom 3. Juni 2016).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Kläger betreffende Verwaltungsakte des Beklagten, die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte sowie die Gerichtsakte K. (SG Osnabrück) verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet mit Zustimmung der Beteiligten (Schriftsätze vom 31. Juli 2016) ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die form- und fristgerecht eingelegte sowie vom SG zugelassene Berufung ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich des von ihm verfristet eingelegten Widerspruchs.

Der Kläger hat zulässigerweise eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erhoben (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG). Schließlich hatte der Beklagte über die beantragte Wiedereinsetzung isoliert durch gesonderten Verwaltungsakt entschieden (d.h. nicht im Rahmen der im Widerspruchsbescheid vom 2. August 2013 getroffenen Hauptsacheentscheidung; vgl. zur Zulässigkeit einer solchen gesonderten Bescheidung des Wiedereinsetzungsantrags: Siefert in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 27 SGB X Rn 44; Mutschler in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: September 2016, § 27 SGB X Rn 20; Franz in: Schlegel/Voelzke, PK - SGB X, 1. Auflage 2013, § 27 SGB X Rn 56 m.w.N.). Bei dieser isolierten Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag handelte es sich um einen gesondert anfechtbaren Verwaltungsakt (vgl. BSG, Urteil vom 28. Januar 2009 - B 6 KA 11/08 R -, SozR 4-1500 § 77 Nr 2 Rn 22; Franz in: PK - SGB X, a.a.O., Rn 56; Heße in: Beck'scher Online-Kommentar Sozialrecht - BeckOK SozR, Stand: Dezember 2016, § 27 SGB X Rn 19; Siefert, a.a.O., Rn 44; Mutschler, a.a.O., Rn 21).

Der Kläger hat Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich seines Widerspruchs gegen den Änderungs-/Sanktionsbescheid vom 10. April 2013. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des SG war die Versäumung der Widerspruchsfrist unverschuldet.

Nach § 27 Abs 1 SGB X ist demjenigen auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen.

Der vom Kläger gegen den Änderungs-/Sanktionsbescheid vom 10. April 2013 mit Schreiben vom 10. Mai 2013 eingelegte Widerspruch war verfristet, da er ausweislich des Eingangsstempels erst am Donnerstag (16. Mai 2013) beim Beklagten eingegangen ist. Die einmonatige Widerspruchsfrist (§ 78 SGG) endete aufgrund der am 12. April 2013 erfolgten Zustellung des Änderungs- / Sanktionsbescheides dagegen bereits am Montag, den 13. Mai 2013.

Entgegen der Auffassung des SG und des Beklagten hat der Kläger die Frist unverschuldet versäumt. Schließlich hat der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter glaubhaft gemacht (vgl. zur Glaubhaftmachung der anspruchsbegründenden Tatsachen für eine Wiedereinsetzung: § 27 Abs 2 Satz 2 SGB X), das Widerspruchsschreiben vom 10. Mai 2013 noch am selben Tag in den Briefkasten in der H. 195, I., geworfen zu haben. Dieser Briefkasten wurde damals sowohl freitags (16.15 Uhr) als auch sonnabends (10.00 Uhr) geleert.

Auch wenn der Prozessbevollmächtigte des Klägers einräumt, nicht mehr sicher sagen zu können, ob zum Zeitpunkt des Einwurfes die Freitagsleerung bereits erfolgt war, durfte er aufgrund der noch bevorstehenden Leerung am Sonnabend (10.00 Uhr) auf einen rechtzeitigen Zugang des Widerspruchs beim Beklagten vertrauen. Dies ergibt sich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Vertrauen auf die reguläre Postlaufzeit (vgl. etwa: BVerfG, Beschluss vom 25. September 2000 - 1 BvR 2104/99 -). Insoweit darf ein Beteiligter grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine im Bundesgebiet werktags aufgegebene Briefsendung am folgenden Werktag ausgeliefert wird. Geht die Postsendung verloren oder wird sie verspätet ausgeliefert, darf dies den Beteiligten nicht als Verschulden angerechnet werden. Weitere Vorkehrungen müssen nicht ergriffen werden. Insbesondere ist eine Partei nicht gehalten, Schriftsätze vorab per Telefax zu übersenden (vgl. im Einzelnen: BGH, Beschluss vom 12. September 2013 - V ZB 187/12 -). Dies gilt auch dann, wenn der Posteinwurf in einen Briefkasten mit Samstagsleerung erst an diesem Tag erfolgt (vor der regulären Leerungszeit) und die maßgebliche Frist bereits am darauffolgenden Montag abläuft (BSG, Beschluss vom 11. November 2003 - B 2 U 293/03 B -).

Der Senat sieht im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Rechtsprechung keinen Anlass, von dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung abzuweichen. Der die Wiedereinsetzung ablehnende Verwaltungsakt sowie das erstinstanzliche Urteil sind somit aufzuheben. Der Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dies kann mittels eines gesondert anfechtbaren Verwaltungsaktes (mit anschließender separater Bescheidung des Widerspruchs in der Sache) oder aber im Rahmen der Hauptsacheentscheidung (Entscheidung über den Widerspruch gegen den Änderungs-/Sanktionsbescheid vom 10. April 2013) erfolgen.

Einer zusätzlichen Anfechtung des den Änderungs-/Sanktionsbescheid vom 10. April 2013 betreffenden Widerspruchsbescheides vom 2. August 2013 bedarf es nicht. Vielmehr wird dieser Widerspruchsbescheid infolge der Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 39 SGB X gegenstandslos (vgl. etwa: Franz in: PK - SGB X, a.a.O., Rn 58; Siefert, a.a.O., Rn 43; Mutschler in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: September 2016, § 27 SGB X Rn 20).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegen nicht vor. -