Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 31.08.2007, Az.: 8 B 134/07

Anfechtungsklage; Anmeldung; Aufschiebende Wirkung; Eröffnung; Gemeinschuldner; Haftungsbescheid; Insolvenztabelle; Insolvenzverfahren; Insolvenzverwalter; Nichtigkeit; Prozessführungsbefugnis; Tabelle; öffentliche Abgabe; öffentliche Kosten

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
31.08.2007
Aktenzeichen
8 B 134/07
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 71932
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Ein abgabenrechtlicher Haftungsbescheid unterfällt § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

2. Ergeht nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Antragstellers ein nicht an den Insolvenzverwalter, sondern an den Antragsteller persönlich gerichteter Haftungsbescheid, so ist der Antragsteller prozessführungsbefugt, wenn er rügt, die Ansprüche hätten nicht gegen ihn persönlich, sondern nur noch gegenüber dem Insolvenzverwalter (Anmeldung zur Insolvenztabelle) geltend gemacht werden dürfen.

3. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens darf für vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits entstandene Gewerbesteuerforderungen kein Haftungsbescheid mehr erlassen werden, da es insoweit um Insolvenzforderungen i. S. von § 38 InsO handelt. Ein gleichwohl unter Mißachtung von § 87 InsO erlassener Bescheid ist nichtig.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 20. Februar 2007 - 8 A 84/07 - gegen den Haftungsbescheid der Antragsgegnerin vom 19. Januar 2007 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 27.090,26 Euro festgesetzt.

Gründe

1

Der Eilantrag hat Erfolg.

2

Der nach 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Halbsatz VwGO in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zulässige Antrag (1.) auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Haftungsbescheid vom 19. Januar 2007 erhobenen Klage vom 20. Februar 2007 ist begründet (2.).

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1. Der Eilantrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Halbsatz zulässig.

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a) Er ist insbesondere statthaft. Die Statthaftigkeit eines Antrages richtet sich danach, ob einer Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 VwGO zukommt oder ob - wie hier - die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO entfällt.

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§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO greift in Bezug auf den Begriff der öffentlichen Abgaben aus der Gesamtheit der Geldleistungen, die von Hoheitsträgern durch Verwaltungsakte angefordert werden, gezielt lediglich den Kreis von Zahlungspflichten heraus, der von der Zweckrichtung her Gemeinsamkeiten mit den Steuern aufweist und es wegen dieser Parallelität rechtfertigt, dass sich das öffentliche Interesse am sofortigen Zahlungseingang ebenso wie im Steuerrecht gegenüber dem sonst als vorrangig anerkannten Interesse des Schuldners durchsetzt, vor Unanfechtbarkeit des Heranziehungsbescheides nicht leisten zu müssen (VG Oldenburg Beschl. vom 05.12.2005 - 2 B 3951/05, zit. nach juris -). Deshalb gehören zu den öffentlichen Abgaben im Sinne von § 80 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO neben Steuern, Gebühren und Beiträgen auch sonstige Abgaben, die eine Finanzierungsfunktion erfüllen. Diese Voraussetzung wird erfüllt, wenn der Hoheitsträger sich mit ihrer Hilfe eine Einnahmequelle erschließt, die es ihm ermöglicht, seine eigenen Ausgaben bei der Wahrnehmung der ihm zugewiesenen hoheitlichen Aufgaben voll oder jedenfalls teilweise zu decken. Unschädlich ist es, dass Abgaben über den Ertragszweck hinaus auch als Lenkungsinstrument nutzbar gemacht werden (BVerwG, Urt. vom 17. Dezember 1992 - 4 C 30.90 -, NVWZ 1993, 1112 [1113 f. ] = DVBL. 1993, 441; Nds. OVG Urt. vom 18. September 2003 - 9 LB 92/03 -, NordÖR 2004, 257 = Nds. Verwaltungsblatt 2004, 244).

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Kosten im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO sind nur die in einem Verwaltungsverfahren einschließlich des Widerspruchsverfahrens für die öffentlich rechtliche Tätigkeit der Behörde entstehenden Kosten, die sich in Gebühren und Auslagen unterteilen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. vom 23. Juni 1989 - 21 M 82/89 -, NVwZ 1989, 1095 [1096]).

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Außerdem ist zu beachten, dass die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten jede Geltendmachung eines auf Deckung einer Abgaben- oder Kostenschuld gerichteten Anspruchs erfasst (vgl. OVG Koblenz, Beschl. vom 11. Januar 1989 - 6 B 79/88 -, NJW 1989, 1878; Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pitzner, VwGO, 11. Ergänzungslieferung 2005, § 80 Rn. 121), also auch den Erlass eines Haftungsbescheides.

8

Hiervon ausgehend ergibt sich Folgendes:

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Soweit der Antrag die mit dem Haftungsbescheid geforderten rückständigen Gewerbesteuern für die Jahre 1994 bis 2002 einschließlich der Gewerbesteuer-Nachzahlungszinsen in Höhe von insgesamt 108.361,05 Euro betrifft, ist er als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage des Antragstellers (8 A 84/07) statthaft. Insoweit hat eine Anfechtungsklage - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - keine aufschiebende Wirkung, weil auch eine entsprechende Klage gegen eine Gewerbesteuerfestsetzung keine aufschiebende Wirkung hätte (vgl. VG Gießen, Beschl. vom 18. Juni 2001 - 8 G 1168/01 -, NVwZ-RR 2002, 709 [OVG Rheinland-Pfalz 23.05.2002 - 8 B 10633/02.OVG]; Nds. OVG, Beschl. vom 13. September 1995 - 9 M 7218/94 -, zit. nach juris, ohne Begründung hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO in Bezug auf einen Haftungsbescheid wegen der Gewerbesteuer; VG Weimar, Beschl. vom 06.02.1996 - 6 E 117/96 -, zitiert nach Juris; VG Oldenburg, Beschl. vom 21.05.2007 - 2 B 4958/06 -, zitiert nach Juris). Dies gilt auch für die Gewerbesteuer-Nachzahlungszinsen. Der Steuerbescheid hinsichtlich der Hauptforderung und die Zinsfestsetzung stehen in einem Verhältnis von Grundlagen- und Folgebescheid zueinander (vgl. König in Pahlke/König, AO, Komm., 2004, § 233 a Rn. 70; VG Oldenburg Beschl. vom 05.12.2005 a. a. O.). Damit handelt es sich bei ihnen ähnlich wie Stundungszinsen um streng akzessorische Nebenleistungen von Abgaben - hier der Gewerbesteuern -, die mit dem Schicksal der Hauptsacheforderung so eng verknüpft sind, dass sie selbst wie Abgaben zu behandeln sind (vgl. allgemein zu Zinsen: OVG Lüneburg, Beschl. vom 31.01.1989 - 9 B 97/88 - NVwZ-RR 1989, 499; Kopp/Schenke, VwGO, Komm., 14. Aufl. 2005, § 80 Rn. 60).

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b) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin liegt hier bei der Antragstellerin auch eine Prozessführungsbefugnis vor. Zwar geht nach § 80 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Befugnis des Schuldners, sein zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über. Damit erhält der Insolvenzverwalter auch die Befugnis, die Insolvenzmasse betreffende Prozesse zu führen (BFH, Beschl. vom 26.07.2004 - XR 30/04 -, BFH/NV 2004, 1547). Soweit die Antragstellerin hier jedoch vorliegend gerade geltend macht, dass sie kein Verwaltungs- und Verfügungsrecht mehr besitzt, ist ihr eine eigene Prozessführungsbefugnis zuzugestehen. Die Antragstellerin greift insoweit nicht in die Verwaltung der Insolvenzmasse und in die Verfügung über die Insolvenzmasse ein, sondern macht nur ihr verfahrensrechtliches Recht geltend, dass Ansprüche nicht mehr gegen sie persönlich, sondern nur noch gegenüber dem Insolvenzverwalter geltend gemacht werden dürfen. Hier ist aber gerade der Haftungsbescheid vom 19. Januar 2007 der Antragstellerin und nicht dem Insolvenzverwalter zugestellt worden. Entsprechend ist etwa durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass die Missachtung der Verfahrensunterbrechung (§§ 240, 249 Zivilprozessordnung - ZPO -) nicht nur vom Konkurs-/Insolvenzverwalter, sondern auch vom Schuldner selbst geltend gemacht werden kann (BGH - Urt. vom 11.07.1984 - VIII ZR 253/83, HFR 1985, 242 [BVerwG 23.08.1983 - BVerwG 3 B 94.82]; Urt. vom 21.07.1995 - VIII ZR 224/94 -, NJW 1995, 2563; und vom 16.01.1997 - IX ZR 220/96 -, NJW 1997, 11, 1445; FG München, Urt. vom 23.11.2005 - 10 K 4333/03 -, zitiert nach Juris). Im Übrigen wurde hier das Verfahren auch nicht durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 240 ZPO unterbrochen, da § 240 ZPO nur auf im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bereits anhängige Verfahren Anwendung findet (Feiber im Münchner Kommentar zur Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2000, 240 ZPO, Rn. 6). Vorliegend wurde das Verfahren jedoch erst nach Insolvenzeröffnung anhängig.

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2.) Der Antrag ist auch begründet. Bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden Interessenabwägung überwiegt das private Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Haftungsbescheides, denn es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO).

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Die Antragsgegnerin durfte nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 9. Januar 2007 keinen Haftungsbescheid mehr am 19. Januar 2007 mehr erlassen.

13

Nach § 87 InsO können Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Insolvenzgläubiger sind gemäß der Legaldefinition des § 38 InsO die persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Nach § 304 Abs. 1 Satz 1 InsO in Verbindung mit § 174 Abs. 1 Satz 1 InsO erfolgt die Geltendmachung von Forderungen im Verbraucherinsolvenzverfahren durch Anmeldung zur Tabelle. Ein gegen das Verbot des § 87 InsO erlassener Haftungsbescheid ist gemäß § 125 Abgabenordnung - AO - nichtig (BFH Urt. vom 18.12.2002 - Az: I R 33/01 -, NJW 2003, 2335 bis 2336, Braun Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2004, § 87 Rn. 10; Glanegger/Güroff Gewerbesteuergesetz, 5. Aufl. 2002 § 7 Rn. 38; Uhlenbrock Insolvenzordnung, 12. Aufl., § 87 Rn. 15). Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gilt dies auch für Bescheide, durch die lediglich Besteuerungsgrundlagen festgestellt oder festgesetzt werden, und die somit nicht unmittelbar auf eine Befriedigung der Steuergläubiger gerichtet sind. Es genügt, dass der Bescheid die Höhe der zur Tabelle anzumeldenden Steuerforderungen beeinflussen und somit für das Insolvenzverfahren präjudizielle Wirkung entfalten kann (vgl. Urt. des BFH vom 02.07.1997 - I R 11/97 -, BFHE 183, 365 und Urt. vom 24.08.2004 - VIII R 14/02 -, BFHE 207, 10).

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Im vorliegenden Fall wurde das Insolvenzverfahren durch Beschluss vom 9. Januar 2007 eröffnet. Mit dem Haftungsbescheid vom 19. Januar 2007 macht die Antragsgegnerin für den Zeitraum 1994 bis 2002 Gewerbesteuern nebst Zinsen von der Antragstellerin geltend. Die Rückforderung betrifft hier ausschließlich einen Zeitraum vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens.

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Dass der Bescheid erst nach Insolvenzeröffnung erging, ändert nichts an der Einordnung als Insolvenzforderung, denn nach § 38 InsO kommt es nur darauf an, dass der Anspruch im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung begründet war. Nicht entscheidend ist insbesondere - wie sich aus § 41 InsO ergibt -, ob der Anspruch im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung schon fällig war. Auch setzt das Begründetsein das Entstandensein der Forderung nicht voraus (vgl. Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 5. Aufl. 2000, Seite 53; FG München, Urt. vom 23.11.2005 - a. a. O. -). Die Einordnung als Insolvenzforderung erfolgt, unabhängig vom Zeitpunkt des steuerrechtlichen Entstehens der Forderung, nach insolvenzrechtlichen Kriterien. Dabei ist es Zweck des § 38 InsO, alle Forderungen den Beschränkungen des Insolvenzverfahrens zu unterwerfen, die auf vorinsolvenzliche Handlungen des Schuldners zurückgehen. Der sich aus § 87 InsO ergebende Vorrang des Insolvenzverfahrens gegenüber dem Festsetzungs- und Feststellungsverfahren nach der Abgabenordnung würde unterlaufen, wenn die Finanzämter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und vor Abschluss der Prüfungen gemäß §§ 176, 177 InsO noch mit Bindungswirkung Bescheide über die Feststellung oder Festsetzung von Besteuerungsgrundlagen erlassen dürften, die sich auf die Höhe der als Insolvenzforderung zur Eintragung in die Tabelle anzumeldenden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis auswirken könnten (BFH Urt. vom 18.12.2002 - a. a. O.-).

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Streitwert wird in Anlehnung an Ziffer 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedr. in NVwZ 2004, 1327 ff.) gemäß § 52 Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG auf ein Viertel des Haftungsbetrages in Höhe von 108.361,05 Euro und damit auf 27.090,26 Euro festgesetzt.