Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 28.01.2013, Az.: L 3 KA 34/12 B ER

Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Honorarrückforderung der Kassenärztlichen Vereinigung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
28.01.2013
Aktenzeichen
L 3 KA 34/12 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 32202
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2013:0128.L3KA34.12B.ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 12.03.2012 - AZ: S 24 KA 622/11 ER

Fundstellen

  • ArztR 2013, 320-324
  • PFB 2013, 207

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 12. März 2012 geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage vom 7. Juni 2012 (S 61 KA 325/12) nur iHv 255.823,62 Euro angeordnet.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Kosten beider Rechtszüge tragen die Antragsgegnerin zu 9/10 und die Antragstellerin zu 1/10.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 71.579 Euro festgesetzt.

Gründe

I. Streitig ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Honorarrückforderung.

Die Antragstellerin (Astin) nimmt seit 2006 als Fachärztin für Kinderheilkunde und pädiatrische Pneumologie an der vertragsärztlichen Versorgung in Niedersachsen teil.

Die Antragsgegnerin (Agin) kürzte nach einer Plausibilitätsprüfung der Quartale I/2008 bis III/2010 die von der Astin in diesem Zeitraum abgerechneten Gebührenpositionen

- 02500 (Einzelinhalationstherapie)

- 04335 (Audiometrische Untersuchung)

- 04530 (Zusatzpauschale pädiatrische Pneumologie)

- 04532 (Zuschlag zu Nr 04530; unspezifischer bronchialer Provokationstest)

- 30111 (Allergologisch-diagnostischer Komplex)

- 30410 (Atemgymnastik in Einzelbehandlung)

des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen ((EBM); in der hier jeweils geltenden Fassung) um insgesamt 326.813,90 Euro auf den verfeinerten Fachgruppendurchschnitt bzw auf einen um 300 vH erhöhten verfeinerten Fachgruppendurchschnitt. Zur Begründung war ausgeführt, dass die Astin in jedem der betroffenen Quartale ärztliche Leistungen in mindestens einem Behandlungsfall grob fahrlässig falsch abgerechnet habe. Dies habe die Astin hinsichtlich der Gebührenpositionen 02500 und 04335 EBM bereits eingeräumt. Die zu den Gebührenpositionen 04530 und 04532 EBM erforderlichen Leistungen seien von der Astin nur unvollständig und/oder ohne Indikation erbracht worden; zu beanstanden seien insbesondere unvollständige oder unverwertbare Messungen mittels einer Ganzkörperplethysmographie. Ferner habe die Astin zu Unrecht den bei der Gebührenposition 30111 EBM durchzuführenden Prick-Test zur Therapiekontrolle einer Hyposensibilisierung erbracht und abgerechnet; zudem sei der Leistungsinhalt der Gebührenposition 30410 EBM nicht ausreichend dokumentiert worden. Da dies alles für die Astin ohne Weiteres ersichtlich gewesen sei und sie daher die betroffenen Gebührenpositionen des EBM grob fahrlässig falsch abgerechnet habe, entfalle jeweils die Garantiefunktion ihrer Abrechnungssammelerklärungen. Die Agin sei berechtigt, die Honorarabrechnungen der Astin insgesamt aufzuheben und in Höhe des Fachgruppendurchschnitts neu festzusetzen (Bescheid vom 29. August 2011 nebst Anlagen zur Berechnung der Honorarrückforderung und einer Auflistung der überprüften Behandlungsfälle im hier maßgeblichen Abrechnungszeitraum).

Hiergegen hat die Astin am 13. September 2011 Widerspruch eingelegt und zusätzlich am 28. November 2011 vor dem Sozialgericht (SG) Hannover beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs "und der gegebenenfalls folgenden Klage" anzuordnen. Hinsichtlich der Gebührenpositionen 02500 und 04335 EBM erkenne sie die Fehlerhaftigkeit ihrer Abrechnungen an und sei bereit, den darauf entfallenden Teil des Rückforderungsbetrags iHv 40.497,96 Euro zu erstatten. Im Übrigen seien die Honorarrückforderungen aber unberechtigt. Als Beleg hierfür hat die Astin eine Stellungnahme von Prof. Dr. D. vorgelegt, der der Auffassung ist, dass die im Bereich der Kinderpneumologie von ihr abgerechneten Leistungen vollständig erbracht und jeweils medizinisch erforderlich gewesen seien. Die Leistungen seien auch nicht mangelhaft dokumentiert worden; der Agin habe bereits im Verwaltungsverfahren eine Auflistung der in ihrer Praxis allgemein üblichen Abkürzungen vorgelegen. Hieraus ließe sich ua ersehen, dass die Astin im Falle einer Atemgymnastik regelmäßig eine Thoraxmassage mit dem Kürzel "Thm" dokumentiert habe. Hierbei habe sie mit ihren Patienten auch verschiedene Atemtechniken sowie Körperhaltungsformen zur Linderung von Asthma und anderen pneumologischen Erkrankungen trainiert. Daher sei auch nicht ersichtlich, dass sie die von ihr erbrachten ärztlichen Leistungen "grob fahrlässig" falsch abgerechnet habe. Im Übrigen gefährde eine Vollstreckung der geltend gemachten Honorarrückforderung massiv die wirtschaftliche Existenzgrundlage ihrer Praxis.

Das SG hat mit Beschluss vom 12. März 2012 die aufschiebende Wirkung des von der Astin eingelegten Widerspruchs angeordnet. Die Kammer sei noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis hinsichtlich der Erfolgsaussichten des von der Astin eingelegten Rechtsmittels gelangt. Daher sei über das vorläufige Rechtsschutzbegehren im Rahmen einer allgemeinen Interessenabwägung zu entscheiden. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass eine sofortige Vollstreckung des zwischen den Verfahrensbeteiligten noch streitigen Rückforderungsbetrags über 286.316 Euro eine unbillige Härte für die Astin bedeute, da die Rückforderungssumme das von ihr mittels Einkommenssteuerbescheiden nachgewiesene Jahreseinkommen übersteige.

Gegen diesen Beschluss (zugestellt am 19. März 2012) wendet sich die Agin mit ihrer Beschwerde vom 17. April 2012. Im Wesentlichen macht sie geltend, dass dem Beschluss des SG eine sorgfältige und umfassende Interessenabwägung nicht zu entnehmen sei. In dem Beschluss werde lediglich dargelegt, dass eine Vollstreckung der Honorarrückforderung für die Astin eine unbillige Härte bedeute. Dabei lasse das SG unberücksichtigt, dass diese bereits über die Möglichkeit informiert worden sei, unter konkreter Darlegung von Gründen einen Stundungsantrag zu stellen. Im Übrigen habe das SG die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Astin nicht ausreichend gewürdigt. Zahlreiche Angaben der Astin, die zur Einschätzung darüber, ob die Geltendmachung einer Honorarrückforderung für die Ärztin tatsächlich zu einer unbilligen Härte führe, hätten dem SG weder vorgelegen noch seien diese von dort aus angefordert worden.

Die Agin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 12. März 2012 aufzuheben und den Antrag der Astin auf eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Rechtsbehelfe abzulehnen.

Die Astin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Agin geltend gemachten Honorarrückforderung bestünden. Die von ihr in den Quartalen I/2008 bis III/2010 abgerechneten und von der Agin berichtigten Gebührenpositionen habe sie nachweislich erbracht. Aufgrund einer unzutreffenden medizinischen Beurteilung durch einen fachfremden Arzt habe die Agin ihr zu Unrecht eine grob fahrlässige Falschabrechnung unterstellt.

Im Laufe des Beschwerdeverfahrens hat die Agin den gegen den Bescheid vom 29. August 2011 erhobenen Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, dass die geltend gemachte Honorarrückforderung in der Sache nicht zu beanstanden sei. Die Astin habe in zahlreichen Behandlungsfällen grob fahrlässig falsch abgerechnet, weil sie durch eine gewissenhafte Lektüre der Leistungslegenden zu den Gebührenpositionen 04530, 04532 und 30410 EBM hätte erkennen können, dass einzelne Messungen bzw die Durchführung einer Thoraxmassage nicht ausreichten, um deren Inhalt vollständig zu erfüllen. Es sei nach der Leistungslegende zur Gebührenposition 30111 EBM auch offensichtlich, dass ein Prick-Test nur zur Diagnostik und/oder zum Ausschluss einer Allergie vom Soforttyp, nicht aber zur Kontrolle des Therapieverlaufs erbracht und abgerechnet werden könne (Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2012). Hiergegen hat die Astin Klage vor dem SG Hannover erhoben (Az: S 61 KA 325/12).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des sonstigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Agin verwiesen.

II. Die Beschwerde der Agin ist zulässig, im Wesentlichen aber unbegründet.

Das SG hat im Ergebnis zutreffend die aufschiebende Wirkung des von der Astin eingelegten Widerspruchs angeordnet. Da die Agin den Widerspruch aber bereits durch Bescheid vom 14. Mai 2012 zurückgewiesen hat, kann die Entscheidung des SG nicht durch eine Zurückweisung der Beschwerde, sondern (in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang) nur durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der von der Astin in der Hauptsache schon erhobenen Anfechtungsklage bestätigt werden.

1. Gegenstand des Verfahrens ist zunächst das Begehren der Astin gewesen, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres am 13. November 2011 eingelegten und gegen die Honorarrückforderung der Agin im Bescheid vom 29. August 2011 gerichteten Widerspruchs zu erreichen. Wie sich aus dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vom 28. November 2011 ergibt ("(...) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der gegebenenfalls folgenden Klage (...) anzuordnen"), hat sich ihr Rechtsschutzziel aber schon zu diesem Zeitpunkt auf alle prozessrechtlich möglichen Rechtsbehelfe bezogen. Daher ist ihr Antrag nicht gegenstandslos geworden, als die Agin nach der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs durch das SG im Beschluss vom 12. März 2012 einen Widerspruchsbescheid erlassen hat. Vielmehr ist im wohlverstandenen Interesse der Astin davon auszugehen, dass sie bereits im Beschwerdeverfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer in der Hauptsache erhobenen Anfechtungsklage (Az: S 61 KA 325/12) begehrt. Allein diese Auslegung entspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes in angemessener Zeit aus Art 19 Abs 4 Grundgesetz ((GG); hierzu zuletzt Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 20. September 2012 - B 8 SO 4/11 R - juris, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Denn die Astin wäre anderenfalls gezwungen, beim SG ein zweites Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu betreiben, obwohl absehbar ist, dass die Agin erneut eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht akzeptieren würde und insoweit erst in einem weiteren Beschwerdeverfahren eine zumindest vorläufige Rechtssicherheit für alle Verfahrensbeteiligten herbeigeführt werden könnte. Im Übrigen zeigt der Rechtsgedanke aus § 96 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), dass dem Umstand, dass der Astin bei dieser Auslegung ihres Rechtsschutzbegehrens eine Instanz verlorengeht, im Sozialversicherungsrecht zumindest keine maßgebliche Bedeutung zukommt.

Dabei geht der Senat mit dem SG davon aus, dass die Astin nur für den Teil der von der Agin geltend gemachten Honorarrückforderung die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begehrt (286.315,94 Euro), den sie nicht ausdrücklich im Schriftsatz vom 22. November 2011 anerkannt hat.

2. Rechtsgrundlage für das vorläufige Rechtsschutzbegehren der Astin ist die Regelung in § 86b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen ganz oder teilweise anordnen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben. Über das "Ob" einer Anordnung entscheidet das Gericht dabei auf der Grundlage einer Interessenabwägung, wobei das private Interesse des belasteten Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts abzuwägen ist (vgl hierzu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 86b Rn 12 ff mwN). Die Privatinteressen überwiegen regelmäßig, wenn ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen oder wenn die Vollziehung des angefochtenen Bescheids zu einer unbilligen Härte für die Astin führen würde. Damit lehnt sich der Senat in den Fällen der Festsetzung von Honorarrückforderungen bei der zu treffenden Abwägung wegen der insoweit grundsätzlich vergleichbaren Interessenlage an die Kriterien des § 86a Abs 3 S 2 SGG an.

Vorliegend hat die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage der Astin zwar keine aufschiebende Wirkung (vgl hierzu die Regelung in § 85 Abs 4 S 6 SGB V), in Höhe eines Betrags von 255.823,62 Euro bestehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Agin geltend gemachten Honorarrückforderung.

a) Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KÄVen) sind zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung von Honorarforderungen befugt, soweit ein Vertragsarzt bei seiner Quartalsabrechnung Gebührennummern ansetzt, deren Tatbestand durch seine Leistungen nicht erfüllt ist oder die er aus anderen Gründen nicht in Ansatz bringen darf. Dasselbe gilt, wenn der Vertragsarzt Leistungen unter Verstoß gegen die Vorschriften über formale oder inhaltliche Voraussetzungen der Leistungserbringung durchführt und abgerechnet hat (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 39 Nr 3 mwN). Rechtsgrundlage für diese Befugnis ist seit dem 1. Januar 2004 die Regelung in § 106a Abs 1 SGB V (hier anzuwenden idF des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14. November 2003, BGBl I 2190), in der ausdrücklich vorgesehen ist, dass KÄVen und Krankenkassen (KKen) die Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnungen in der vertragsärztlichen Versorgung prüfen.

Dabei darf einem Vertragsarzt aber nur unter bestimmten Umständen jeglicher Bestandsschutz für das ihm zunächst zuerkannte Quartalshonorar abgesprochen werden. Möglich ist dies lediglich dann, wenn die Honorarabrechnung des Vertragsarztes nachweisbar zumindest einen Fehlansatz aufweist, bei dem ihm grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. In einem solchen Fall erfüllt die der Quartalsabrechnung beizufügende Abrechnungssammelerklärung nicht mehr ihre Garantiefunktion mit der Folge, dass der gesamte Honorarbescheid durch die KÄV aufgehoben und das dem Vertragsarzt zustehende Honorar ggf im Rahmen einer Schätzung neu festgesetzt werden kann (hierzu grundlegend BSG SozR 3-5550 § 35 Nr 1; vgl auch Clemens in: jurisPK-SGB V, 2. Aufl, § 106a Rn 212 ff mwN).

Ob diese Voraussetzungen hier vorliegen, kann abschließend erst - auch wegen des umfangreichen Vorbringens der Beteiligten - im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Allerdings kann angesichts der überwiegend substanzlosen Begründung, die die Agin in den Rückforderungsbescheiden für die Annahme abgegeben hat, die Astin habe in den Quartalen I/2008 bis III/2010 unrichtig abgerechnet, vorläufig nicht von der Rechtmäßigkeit der Rückforderungsbescheide ausgegangen werden.

b) Der Senat hält es wegen der einschneidenden Rechtsfolgen bei der Abgabe unrichtiger Abrechnungssammelerklärungen in Hinblick auf eine angemessene Risikoverteilung zwischen überprüfender KÄV einerseits und (hier: uU) unrichtig abrechnendem Vertragsarzt andererseits für sachlich gerechtfertigt, die aus der Regelung in § 85 Abs 4 S 6 SGB V resultierende sofortige Vollstreckbarkeit von Honorarberichtigungen auf die Fälle zu beschränken, in denen anhand der Amtsermittlungen der Körperschaft (§§ 20, 21 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X)) ohne weiteres erkennbar darauf geschlossen werden kann, dass die Honorarabrechnung eines Arztes tatsächlich einen grob fahrlässigen Fehlansatz aufweist. Bei dieser Bewertung kann an die allgemeinen Beweislastregeln angeknüpft werden, wonach jeder im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl hierzu Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO., § 103 Rn 19a mwN). Daher setzt die Berechtigung einer KÄV, die sich aus einer unrichtigen Abrechnungssammelerklärung ergebende Honorarrückforderung sofort vollstrecken zu können, voraus, dass sich aus der Begründung in den Rückforderungsbescheiden für jedes der betroffenen Abrechnungsquartale der Nachweis für mindestens eine unrichtige Honorarabrechnung des Vertragsarztes ergibt. Hierbei kann sich die Körperschaft - wie vorliegend - nicht darauf beschränken, in den Bescheiden nur den entsprechenden Behandlungsfall, die Leistungsart und die Gebührenposition zu bezeichnen und im Übrigen einen Fehlansatz des Arztes nur zu behaupten. Vielmehr müssen in der Bescheidbegründung auch die Tatsachen bzw Beweismittel angegeben werden, aus denen sich sowohl die Fehlerhaftigkeit der Abrechnung als auch die grobe Fahrlässigkeit des abrechnenden Vertragsarztes ergeben sollen (so auch Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. März 2011 - L 7 KA 13/11 B ER - juris mwN). Fehlt es hieran, ist zumindest im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, in dem sich der Senat regelmäßig auf eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage beschränken kann (vgl zu dieser Berechtigung Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO., § 86b Rn 16c), von ernsthaften Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der geltend gemachten Honorarrückforderung auszugehen.

c) Die von der Agin erlassenen Rückforderungsbescheide werden diesen Anforderungen nicht gerecht. Ausreichende Tatsachen oder Beweismittel, die die Annahme rechtfertigen könnten, die Astin habe vertragsärztliche Leistungen in den Quartalen I/2008 bis II/2010 unrichtig abgerechnet, lassen sich der jeweiligen Bescheidbegründung nicht entnehmen.

aa) Zunächst ergibt sich aus den Rückforderungsbescheiden nicht, dass die Honorarabrechnungen der Astin in jedem der betroffenen Quartale (mindestens) einen Behandlungsfall aufweisen, in dem sie unrichtig abgerechnet haben soll.

Die Agin hat dem Bescheid vom 29. August 2011 eine Auflistung von 49 Behandlungs-fällen mit einer fachlichen Kurzbewertung der von der Astin dazu abgerechneten Behandlungsleistungen beigefügt. In der Anlage wird quartalsbezogen und tabellarisch aufgeführt, welche fachärztlichen Leistungen die Astin in den jeweiligen Behandlungsfällen erbracht hat und ob aus Sicht der Agin die Voraussetzungen für eine Abrechnung dieser Leistungen vorgelegen haben. Diese Vorgehensweise ist bei einer sachlich-rechnerischen Berichtigung von Honorarabrechnungen, die grob fahrlässige Fehlansätze aufweisen sollen, vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes aus § 33 Abs 1 SGB X regelmäßig nicht zu beanstanden, weil hierdurch die von der KÄV ermittelte fehlerhafte Abrechnung nach Behandlungsfällen, Leistungsarten sowie Gebührenpositionen hinreichend bestimmt wird. Allerdings ist die Auflistung der Agin gleich in mehrfacher Hinsicht unvollständig: Dort wird für das Quartal III/2010 kein Behandlungsfall benannt, in dem die Honorarabrechnung der Astin einen Fehlansatz aufweisen soll. Vergleichbares gilt hinsichtlich der Gebührenposition 04530 EBM in den Quartalen III/2008 und I/2009 sowie für die Gebührenposition 04532 EBM in den Quartalen IV/2008 und I/2009; in den für diese Zeiträume gelisteten Behandlungsfällen wird der Astin eine unrichtige Abrechnung dieser Gebührenpositionen nicht vorgeworfen. Schließlich stimmt im Quartal III/2008 die für die Gebührenposition 04532 EBM in der Auflistung aufgeführte Begründung für eine fehlerhafte Abrechnung der Astin nicht mit der in den Rückforderungsbescheiden angegebenen Begründung überein. Bereits hieraus ergeben sich ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Agin geltend gemachten Honorarrückforderung.

bb) Ferner ergibt sich aus den Rückforderungsbescheiden nicht, dass die Astin die Gebührenpositionen 04530 und 04532 EBM unrichtig abgerechnet hat.

Hierzu hat die Agin in den Bescheiden angegeben, dass die Astin in einer Vielzahl der untersuchten Behandlungsfälle die mit den Gebührenpositionen verbundenen medizinischen Leistungen ohne die erforderliche Indikation erbracht haben soll. Eine insoweit über das medizinisch ausreichende, zweckmäßige und notwendige hinausgehende (und damit unwirtschaftliche) vertragsärztliche Behandlung führt aber nur dann zu einer unrichtigen Abrechnung des Arztes, wenn dessen medizinische Leistung erkennbar keinerlei Nutzen gehabt hat. Ist dagegen - wie vorliegend zwischen dem die Agin beratenden Arzt Dr. E. und dem von der Astin benannten Arzt Prof. Dr. D. - der Sinn und Zweck einer medizinischen Behandlung nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand umstritten, kommt regelmäßig eine Honorarkürzung nur im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V in Betracht (vgl hierzu Clemens, aaO., § 106a SGB V Rn 38 mwN). Den Rückforderungsbescheiden der Agin lässt sich aber nicht entnehmen, woraus sich ergeben soll, dass die Astin die Gebührenpositionen 04530 und 04532 EBM in den untersuchten Behandlungsfällen ohne Indikation und damit "erkennbar nutzlos" erbracht hat.

Eine ausreichende Begründung für die Berichtigung dieser Gebührenpositionen ergibt sich auch nicht daraus, dass die Agin weiterhin deshalb von einem Fehlansatz der Astin ausgeht, weil die damit verbundenen medizinischen Behandlungsmaßnahmen unvollständig erbracht worden seien sollen (insuffiziente Lungenfunktionsdiagnostik mit einem Bodyplethysmograph). Es trifft zwar zu, dass nicht vollständig erbrachte, aber dennoch von einem Vertragsarzt abgerechnete Leistungen ohne weiteres von einer KÄV sachlich-rechnerisch berichtigt werden können (vgl hierzu Clemens, aaO., § 106a Rn 77 mwN). Den Bescheiden der Agin lässt sich aber eine medizinisch nachvollziehbare Begründung dafür, dass eine vollständige Lungenfunktionsdiagnostik bei den dafür erforderlichen Messungen voraussetzt, dass dabei ein zeitlicher Mindestvorlauf und Mindestabstand eingehalten wird, nicht entnehmen. Hinzu kommt, dass den von der Agin zur Gerichtsakte gereichten Verwaltungsunterlagen die (allem Anschein nach nur von dem beratenden Arzt Dr. E. eingesehenen) Untersuchungsprotokolle, aus denen sich ergeben soll, dass die Astin in den untersuchten Behandlungsfällen zu kurze und daher medizinisch nicht verwertbare Messungen durchgeführt habe, nicht beigefügt sind. Insoweit behauptet die Agin hier nur die Fehlerhaftigkeit der von der Astin abgerechneten Gebührenpositionen 04530 und 04532 EBM; ohne einen nachvollziehbaren Beleg für diese Behauptung bestehen aber ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der sich daraus ergebenden Honorarrückforderung.

cc) Aus den Rückforderungsbescheiden ergibt sich weiterhin nicht, dass die Astin die Gebührenpositionen 30111 EBM unrichtig abgerechnet hat.

Nach der Begründung in den Bescheiden ist die Abrechnung der Astin in den untersuchten 49 Behandlungsfällen unrichtig, weil ein nur zur Therapiekontrolle durchgeführter Prick-Test erkennbar ohne medizinischen Nutzen sein soll. Zudem stehe es in einem offenkundigen Widerspruch zum Stand der medizinischen Wissenschaft, am selben Behandlungstag neben einer Hyposensibilisierung und einer bronchialen Provokation noch einen Prick-Test durchzuführen. Hierzu ist bereits dargelegt worden, dass die Agin in einem solchen Fall nur dann berechtigt ist, die Honorarabrechnung eines Vertragsarztes zu berichtigen, wenn die Nutzlosigkeit bzw die Kontraindikation der Behandlungsmaßnahme offenkundig ist. Woraus die Agin dies ableitet, lässt sich den Rückforderungsbescheiden aber wiederum nicht entnehmen. Insoweit hat der Senat auch hinsichtlich der Berichtigung zur Gebührenposition 30111 EBM ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der geltend gemachten Honorarrückforderung.

dd) Schließlich ergibt sich aus den Rückforderungsbescheiden nicht, dass die Astin die Gebührenpositionen 30410 EBM unrichtig abgerechnet hat.

Hier hat die Agin als Begründung für die Annahme einer unrichtigen Abrechnung der Astin angegeben, dass die Behandlungsmaßnahme nicht dokumentiert und daher auch nicht erbracht worden sei. Zwar können nicht erbrachte, aber dennoch von einem Vertragsarzt abgerechnete Leistungen ohne weiteres von einer KÄV sachlich-rechnerisch berichtigt werden (vgl hierzu Clemens, aaO., § 106a Rn 77 mwN). Allerdings hat die Astin hierzu bereits im Verwaltungsverfahren angegeben, dass sie bei der Dokumentation der mit der Gebührenposition verbundenen Behandlungsmaßnahmen stets das Kürzel "Thm" (für Thoraxmassage) verwendet habe. Demnach ist die Behauptung der Agin, der Leistungsinhalt der Gebührenposition 30410 EBM sei von der Astin nicht dokumentiert worden, unzutreffend. Vielmehr kann nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Astin allenfalls von nicht ausreichend intensiv dokumentierten Behandlungsmaßnahmen ausgegangen werden. Dies allein vermag aber die Annahme eines Fehlansatzes in der Honorarabrechnung eines Vertragsarztes, bei dem ihm eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, regelmäßig (noch) nicht zu rechtfertigen (vgl hierzu Clemens unter Hinweis auf einen unveröffentlichten Beschluss des BSG, aaO., § 106a Rn 213 mwN). Damit bestehen auch bei der Berichtigung dieser Gebührenposition ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Agin geltend gemachten Honorarrückforderung.

3. Vor diesem Hintergrund hat der Senat zugunsten der Agin nur berücksichtigen können, dass die Astin bereits im Verwaltungsverfahren eingeräumt hat, von Januar 2008 bis April 2008 noch über keinen Bodyplethysmograph verfügt und daher beschränkt auf diesen Zeitraum die Gebührenpositionen 04530 und 04532 EBM bei Kindern über 6 Jahre fehlerhaft abgerechnet zu haben (vgl hierzu S 3 im Schriftsatz der Astin vom 30. Mai 2011). Da die Astin insoweit erkennbar zu Unrecht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer in der Hauptsache erhobenen Klage begehrt, hat ihr Antrag in Höhe des von der Agin für die Quartale I und II/2008 zu den entsprechenden Gebührenpositionen gekürzten Betrags (30.492,32 Euro) keinen Erfolg haben können. Im Übrigen ist die Beschwerde der Agin aber zurückzuweisen.

Ferner ist - wie dargelegt - die Entscheidung des SG wegen des mittlerweile erlassenen Widerspruchsbescheids in der Form zu bestätigen, dass die aufschiebende Wirkung der von der Astin in der Hauptsache bereits erhobenen Anfechtungsklage (Az: S 61 KA 325/12) in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang angeordnet wird. Daher kann auch - worauf die Beschwerde der Agin im Wesentlichen abstellt - dahingestellt bleiben, ob eine sofortige Vollstreckung der zwischen den Verfahrensbeteiligten noch streitigen Honorarrückforderung für die Astin tatsächlich eine unbillige Härte bedeutet.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm den §§ 154 Abs 1, 155 Abs 1 S 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm den §§ 47 Abs 1 S 1, 52 Abs 1, 53 Abs 2 Nr 4 Gerichtskostengesetz (GKG), wobei der Senat in Fällen der vorliegenden Art in stRspr von einem Viertel der noch streitbefangenen Honorarrückforderung ausgeht.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).