Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 10.11.2014, Az.: 1 B 12764/14

Abschiebungsanordnung; Dublin-Verfahren; Subjektive Rechte; Überstellungsfrist

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.11.2014
Aktenzeichen
1 B 12764/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42582
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Aus dem Ablauf der vom Zeitpunkt der Wiederaufnahmezusage berechneten sechsmonatigen Überstellungsfrist als solcher erwächst dem Asylbewerber keine subjektive Rechtsposition, die zu einem Anspruch auf Aufhebung einer ursprünglich rechtmäßig erlassenen Abschiebungsanordnung führen würde.

Tenor:

Der Antrag, den Beschluss vom 6. August 2014 - 1 B 9675/14 - zu ändern, wird abgelehnt.

Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Die Antragstellerinnen, russische Staatsangehörige, begehren die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Anordnung ihrer Abschiebung nach Belgien.

Nachdem infolge eines Wiederaufnahmeersuchens der Antragsgegnerin die belgischen Behörden am 30. April 2014 ihre Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) VO (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) erklärt hatten, wurden die Asylanträge der Antragstellerinnen mit Bescheid vom 2. Mai 2014 als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung nach Belgien angeordnet. Gegen den Bescheid haben die Antragstellerinnen am 13. Mai 2014 Klage erhoben und zugleich um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Der Eilantrag, mit dem insbesondere systemische Mängel des belgischen Asylsystems sowie eine Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1. geltend gemacht worden sind, ist erfolglos geblieben (Beschl. v. 06.08.2014 - 1 B 9675/14). Ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, der erneut mit einer Reiseunfähigkeit aufgrund physischer und psychischer Erkrankungen der Antragstellerin zu 1. begründet worden ist, hatte ebenfalls keinen Erfolg (Beschl. v. 08.10.2014 - 1 B 11622/14 -). Mit dem nunmehr gestellten zweiten Abänderungsantrag vom 4. November 2014 wird neben einer Reiseunfähigkeit geltend gemacht, dass die Überstellungsfrist von sechs Monaten nach der Wiederaufnahmezusage mittlerweile abgelaufen und die Antragsgegnerin deshalb für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig geworden sei.

Die Überstellung der Antragstellerinnen nach Belgien ist von der zuständigen Ausländerbehörde auf den 13. November 2014 terminiert worden. Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerinnen wurde davon unter dem 31. Oktober 2014 in Kenntnis gesetzt.

II.

Der Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, über den nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG der Einzelrichter entscheidet, hat keinen Erfolg.

Die Antragstellerinnen können eine Abänderung des Beschlusses vom 6. August 2014 wegen veränderter Umstände nach wie vor nicht erfolgreich beanspruchen. Dies gilt zunächst hinsichtlich der wiederum geltend gemachten Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1.. Veränderte oder bislang unverschuldet nicht geltend gemachte Umstände gegenüber den Beschlüssen vom 6. August und 8. Oktober 2014 sind insoweit nicht gegeben, da die Antragstellerinnen lediglich einen bereits zuvor vorgelegten Arztbrief des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie C. erneut eingereicht haben.

Der daneben von den Antragstellerinnen geltend gemachte Ablauf der Überstellungsfrist rechtfertigt im Ergebnis ebenfalls nicht, nunmehr die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. Mai 2014 enthaltene Abschiebungsanordnung anzuordnen. Im Einzelnen:

1. Zwar ist die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO mittlerweile abgelaufen, weil infolge des Übernahmeersuchens die belgischen Behörden am 30. April 2014 ihre Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin-III-VO erklärt hatten. Die Überstellungsfrist endete mithin am 30. Oktober 2014; bei der anvisierten Überstellung am 13. November würde diese Frist somit geringfügig überschritten. Der Einzelrichter hält an der Auffassung fest, dass die Überstellungsfrist weder allein aufgrund der Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ohne eine Aussetzungsentscheidung des Gerichts neu zu laufen beginnt, noch die Zustellung eines die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ablehnenden Beschlusses einen erneuten Fristlauf von sechs Monaten zur Folge hat (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 31.03.2014 - 1 B 6483/14 -, juris Rn. 20 ff.). Diese Auffassung hat mittlerweile auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung Bestätigung gefunden (vgl. OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 08.09.2014 - 13 A 1347/14.A -, juris).

2. In der genannten Entscheidung vom 31. März 2014 ist indessen keine Auseinandersetzung mit der Frage erfolgt, ob sich ein Asylbewerber auf den Ablauf der Überstellungsfrist aufgrund einer ihm insoweit zustehenden subjektiven Rechtsposition überhaupt berufen kann. Diese Frage ist hier maßgeblich, weil zwar infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist eine veränderte Sachlage gegeben ist, diese aber nur dann eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Klage zu rechtfertigen vermag, wenn den Antragstellerinnen insoweit ein subjektiv-öffentliches Recht zusteht. Die Frage ist nach Auffassung des Einzelrichters im Ergebnis zu verneinen.

a) Die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 10.12.2013 - C-394/12 -, juris) und des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris) versteht der Einzelrichter dahingehend, dass jedenfalls den Fristenregelungen der Dublin-II-Verordnung und der Dublin-III-Verordnung unmittelbar keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers korrespondieren (so ausdrücklich auch Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014 Anm. 3, wonach ein Asylbewerber kein umfassendes subjektiv-öffentliches Recht auf eine Überprüfung hat, ob der zur Aufnahme bereite Mitgliedstaat tatsächlich nach objektivem Recht der zuständige Mitgliedstaat ist oder ob nicht zwischenzeitlich ein anderer Mitgliedstaat - durch Zeitablauf oder durch konkludenten Selbsteintritt - zuständig geworden ist). Das Unionsrecht stellt schon generell nicht - wie aber das deutsche Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht - auf eine Differenzierung zwischen objektiven und subjektiven Rechtspositionen ab, die sich dann bei einer Umsetzung durch Mitgliedstaaten widerspiegeln müsste. Es kommt für die Interpretation unionsrechtlicher Vorschriften vielmehr in erster Linie darauf an, dem Unionsrecht praktische Wirksamkeit zu verschaffen (Grundsatz des "effet utile"). In den speziellen Regelungsbereichen ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, wem das Unionsrecht die "Durchsetzungsmacht" verleiht. Hinsichtlich der hier maßgeblichen Überstellungsfristen nach Art. 29 Dublin-III-VO wird die Umsetzung der im Einzelnen bestehenden Regelungen in die Hände der beteiligten Mitgliedstaaten - also des ersuchenden und des ersuchten Mitgliedstaates - gelegt. Dies wird insbesondere auch durch die Unterrichtungs- und Abstimmungspflichten in Art. 9 VO (EG) Nr. 1560/2003 i. d. F. der VO (EU) Nr. 118/2014 deutlich, welche als austariertes System den konkreten Eintritt des Zuständigkeitswechsels vom Handeln der beteiligten Mitgliedstaaten abhängig machen (vgl. dazu auch Nds. OVG, Beschl. v. 06.02.2013 - 13 LA 77/12 -, juris Rn. 8). Im Verhältnis zum Asylbewerber handelt es sich mithin um "Zuständigkeitsinnenrecht"; auf den Ablauf einer Überstellungsfrist soll sich nach den erkennbaren Regelungsvorstellungen des Unionsrechts der ersuchte bzw. zuständige Mitgliedstaat gegenüber dem ersuchenden Mitgliedstaat berufen können, nicht aber der Asylbewerber. Anderes gilt nur dann, wenn mit einer Fristüberschreitung zugleich eine Verletzung (unionsrechtlicher) Grundrechtspositionen einhergeht (vgl. dazu etwa VG Würzburg, Beschl. v. 11.06.2014 - W 6 S 14.50065 -, juris Rn. 18), was insbesondere der Fall ist, wenn der ersuchte Mitgliedstaat nicht mehr zur (Wieder-)Aufnahme bereit ist und deshalb die Gefahr besteht, dass es in keinem Mitgliedstaat zu einer (abschließenden) Prüfung des Asylbegehrens kommt (vgl. dazu VG Würzburg, Beschl. v. 30.10.2014 - W 3 E 14.50144 -, juris Rn. 14).

b) Auch dem § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG als der maßgeblichen Bestimmung des nationalen Rechts lässt sich keine darüber hinausgehende subjektiv-rechtliche Position des Asylbewerbers mit der Folge entnehmen, dass eine ursprünglich rechtmäßig erlassene Abschiebungsanordnung allein wegen Ablaufs der Überstellungsfrist der gerichtlichen Aufhebung unterläge. Nach der genannten Bestimmung soll eine Abschiebungsanordnung nur ergehen dürfen, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.

Es ist schon fraglich, ob der Ablauf der Überstellungsfrist unter Zugrundelegung der von der Kammer vertretenen Rechtsauffassung objektiv-rechtlich überhaupt zur Folge hat, dass sogleich die Durchführbarkeit der Abschiebung als nicht mehr feststehend i. S. d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG anzusehen ist und die Abschiebungsanordnung deshalb nicht mehr aufrechterhalten werden dürfte bzw. durch das Gericht im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) aufzuheben wäre. In der Staatenpraxis wird nämlich offenbar nach wie vor die Auffassung vertreten und umgesetzt, dass der ersuchende Mitgliedstaat volle sechs Monate für die Abwicklung der Überstellung zur Verfügung haben soll (vgl. dazu EuGH Urt. v. 29.01.2009 - C-19/08 -, juris) und deshalb auch ein erfolglos gebliebener Eilantrag zu einem neuen Fristlauf führt. Dies bedeutet, dass sich gegenwärtig offenbar die ersuchten bzw. zuständigen Staaten generell nicht darauf berufen, dass die reguläre Überstellungsfrist trotz erfolglos gebliebenen Eilverfahren bereits abgelaufen sei. Legt man zugrunde, dass sich die beteiligten Mitgliedstaaten darüber einig sind, dass die Überstellungsfrist sehr wohl noch läuft, erscheint es zumindest zweifelhaft, dennoch sogleich von einer (rechtlich) nicht mehr durchführbaren Abschiebung i. S. d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auszugehen.

Nähme man gleichwohl an, dass die Durchführbarkeit der Abschiebung nach Ablauf der regulären Überstellungsfrist (rechtlich) nicht mehr feststeht, vermittelt § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG insoweit jedenfalls keine weitergehenden Rechtspositionen, als das Unionsrecht selbst. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erweitert die unionsrechtlichen Bestimmungen zur Überstellungsfrist insbesondere nicht um eine zusätzliche subjektiv-rechtliche Komponente. Das Unionsrecht und das nationale Recht sind hier vielmehr so eng miteinander verzahnt, dass dem nationalen Recht keine subjektiven Rechtspositionen zukommen können, die nach dem Unionsrecht gerade nicht gegeben sind. Die unionsrechtlichen Fristenregelungen betreffen indessen - wie ausgeführt - allein das Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander, was wiederum bei der Auslegung des nationalen Rechts maßgeblich zu berücksichtigen ist.

c) Es lässt sich demgegenüber nach Ansicht des Einzelrichters nicht überzeugend argumentieren, dass eine wegen Ablaufs der Überstellungsfrist (möglicherweise) objektiv rechtswidrig gewordene Abschiebungsanordnung sogleich wegen eines damit verbundenen ungerechtfertigten Eingriffs in Grundrechtspositionen der gerichtlichen Aufhebung unterläge (in diese Richtung argumentierend allerdings VG Göttingen, Beschl. v. 30.06.2014 - 2 B 86/14 -, juris Rn. 23). Diese Sichtweise stellt nicht hinreichend in Rechnung, dass die Frage, ob eine Rechtsnorm oder ein Normengefüge dem Schutz subjektiver Rechte zu dienen bestimmt ist, nicht durch unmittelbaren Rückgriff auf Verfassungsrecht oder Grundrechte, sondern in erster Linie durch Auslegung der in Rede stehenden einfachrechtlichen Normen zu beantworten ist. Diese Auslegung hat - wie bereits ausgeführt - zur Folge, dass es sich bei den unionsrechtlichen Regelungen zur Überstellungsfrist um "Zuständigkeitsinnenrecht" handelt und auch § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG keine weitergehenden subjektiven Rechte des Asylbewerbers im Hinblick auf die Regelungen zu den Überstellungsfristen schafft. Dass bestimmte formelle Fehler - um einen solchen handelt es sich auch bei einer Fristüberschreitung - als unbeachtlich eingestuft werden oder einen Aufhebungsanspruch nicht begründen können, ist der Rechtsordnung zudem keineswegs fremd, wie etwa die §§ 45, 46 VwVfG zeigen. Hinsichtlich der hier in Rede stehenden Überstellungsfrist ergibt sich der Ausschluss eines Aufhebungsanspruchs lediglich nicht aus einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung, sondern aus den normativen Zusammenhängen.

Erst, wenn die Fristüberschreitung als solche dadurch in eine Grundrechtsverletzung "umschlägt", dass dem Asylbewerber die materielle Prüfung seines Asylbegehrens insgesamt versagt bleiben könnte, ist eine subjektive Rechtsposition zu bejahen. Diese beruht dann aber gerade nicht auf einer Nichtbeachtung der Überstellungsfrist, sondern auf einer drohenden Verletzung des Anspruchs des Asylbewerbers, dass sein Asylbegehren in einem der Mitgliedstaaten inhaltlich geprüft wird. Solange eine entsprechende Gefahr indessen nicht besteht, weil der ersuchte Mitgliedstaat weiterhin (wieder-)aufnahmebereit ist, macht es nach Einschätzung des Einzelrichters hinsichtlich der Frage eines durch eine Abschiebungsanordnung bewirkten ungerechtfertigten Eingriffs in Grundrechtspositionen sehr wohl einen Unterschied, ob die Abschiebungsanordnung schon ursprünglich rechtswidrig erlassen worden ist oder es nur um eine möglicherweise infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist rechtswidrig gewordene, ursprünglich aber rechtmäßig ergangene Abschiebungsandrohung geht. Für die letztgenannte Konstellation folgt aus dem einfachen (europäischen und nationalen) Recht gerade, dass nicht schon die bloße Überschreitung der Überstellungsfrist als solche eine subjektive Rechtsposition des Asylbewerbers zu begründen geeignet ist. Die fehlende "Wehrfähigkeit" der bloßen Fristüberschreitung ist nach höherrangigem Verfassungs- und Unionsrecht ersichtlich nicht zu beanstanden, solange der Anspruch des Asylbewerbers auf Prüfung seines Asylbegehrens nicht in Frage steht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.