Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 21.01.2009, Az.: 4 A 1817/06
Widerruf einer Asylanerkennung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylanerkennung; Beurteilung der innenpolitischen Situation und Sicherheitslage in der Türkei
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 21.01.2009
- Aktenzeichen
- 4 A 1817/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 10119
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2009:0121.4A1817.06.0A
Rechtsgrundlage
- § 73 Abs. 1 AsylVfG
Verfahrensgegenstand
Asyl und Abschiebungsschutz
- Widerruf -
In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Stade - 4. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 21. Januar 2009
durch
die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Schröder,
die Richterin am Verwaltungsgericht Teichmann,
die Richterin Obelode sowie
die ehrenamtlichen Richter C. und D.
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juni 2006 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kostenforderung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, mit dem die zu seinen Gunsten erfolgte Asylanerkennung und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, widerrufen und ferner das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festgestellt worden ist.
Der am E. 1984 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit; er stammt aus Karliova in der Türkei. Er reiste am 01. September 1992 mit seiner Mutter und vier Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihnen folgten im Oktober 1992 der Vater des Klägers und im Dezember 1993 ein weiterer Bruder des Klägers. Nach ihrer Einreise beantragten der Kläger, seine Eltern und seine Geschwister ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte die Asylanträge ab. Auf die gegen die Bescheide erhobenen Klagen verpflichtete die erkennende Kammer das Bundesamt durch Urteile vom 26. März 1996, den Kläger, seine Eltern und seine Geschwister wegen einer ihnen aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit drohenden Gruppenverfolgung als Asylberechtigte anzuerkennen (Az.: 4 A 2210/94). Auf die gegen diese Urteile zugelassene Berufung hob das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 17. März 1998 die Entscheidungen auf und wies die Klagen ab (Az.: 11 L 2847/96).
Im Dezember 1998 stellten der Kläger, seine Eltern und seine Geschwister einen Asylfolgeantrag und beriefen sich erneut auf eine ihnen wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit drohende Gruppenverfolgung. Darüber hinaus machten sie geltend, dass dem Vater des Klägers, F., wegen Veröffentlichung von regimekritischen Beiträgen in der Tageszeitung "Selam" politische Verfolgung in der Türkei drohe. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens durch Bescheide aus dem Januar 1999 ab. Auf die dagegen erhobene Klage verpflichtete das erkennende Gericht die Beklagte mit Urteil vom 21. Oktober 2002 (Az.: 4 A 131/99), den Kläger, seine Mutter und seine Geschwister als Asylberechtigte anzuerkennen und das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen. Hinsichtlich des Vaters des Klägers wurde die Beklagte verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Vater des Klägers wegen seiner in der Zeitschrift "Selam" veröffentlichten, im hohen Maße regimekritischen Artikel in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten müsse. Die vom Vater des Klägers veröffentlichten Artikel hätten dazu geführt, dass die verantwortlichen Herausgeber bzw. Redakteure verurteilt worden seien. Allein der Umstand, dass diese den Vater des Klägers als Verfasser der Artikel benannt hätten, habe zu einer Umwandlung der zunächst verhängten Haftstrafen in eine Geldstrafe geführt. Aufgrund der Tatsache, dass der Name des Vaters des Klägers preisgegeben worden sei, bestünden keine Zweifel daran, dass er bei den türkischen Stellen in Verdacht stehe, ein Regimegegner zu sein. Es müsse die Möglichkeit ernsthaft in Betracht gezogen werden, dass er im Falle der Rückkehr in die Türkei festgenommen und einem mit Misshandlungen verbundenen Verhör ausgesetzt werde. Nach wie vor komme es in der Türkei vor allem im Polizeigewahrsam bei Staatssicherheitssachen zu Folterungen. Der Kläger, seine Mutter und seine Geschwister hätten einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, weil die bei ihrem Ehemann und Vater zur Zuerkennung von Abschiebungsschutz führenden Umstände für sie einen objektiven Nachfluchtgrund unter dem Gesichtspunkt der sippenhaftähnlichen Gefährdung begründeten. In der Türkei gebe es zwar keine Sippenhaft in Form strafrechtlicher Verfolgung. In der Praxis komme es jedoch relativ häufig zu Übergriffen auf Verwandte von politischen Straftätern bzw. flüchtigen, des Terrorismus bzw. Separatismus Verdächtigen, um zum Beispiel den Aufenthaltsort des Gesuchten zu ermitteln, Informationen über dessen politisches Umfeld zu gewinnen oder Druck auf den Gesuchten auszuüben, um ihn zu bewegen, sich zu stellen. Hiervon ausgehend müssten der Kläger, seine Mutter und seine Geschwister damit rechnen, aus sippenhaftähnlichen Gründen Opfer politischer Verfolgung zu werden. Für sie bestehe als nahe Angehörige einer Person, die sich zumindest verdächtig gemacht habe, zu den Regimegegnern zu gehören, die Gefahr in der Türkei verhört und bei den Verhören menschenrechtswidrig behandelt zu werden.
Durch Bescheid vom 14. April 2003 erkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Kläger, seine Mutter und seine Geschwister als Asylberechtigte an und stellte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG fest. Hinsichtlich des Vaters des Klägers wurde das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt.
Der Kläger ist seit dem Jahr 2002 im Bundesgebiet wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die zuständige Ausländerbehörde, Landkreis G., erließ deshalb am 24. November 2003 eine Ausweisungsverfügung gegen den Kläger, welche durch Urteil der erkennenden Kammer vom 03. August 2006 bestandskräftig wurde. Nach entsprechender Anfrage des Landkreises G. im Rahmen des Ausweisungsverfahrens leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Verfügung vom 05. Dezember 2005 ein Widerrufsverfahren ein. Mit Schreiben vom 27. Januar 2006 hörte es den Kläger zum beabsichtigten Widerruf der Asylanerkennung und der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG an und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme. In dem Schreiben wurde unter Angabe näherer Einzelheiten ausgeführt, dass sich die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei wesentlich geändert habe. Kein türkischer Staatsangehöriger werde wegen der Tat eines Familienangehörigen strafrechtlich verfolgt; es gebe keine Sippenhaft im rechtlichen Sinne. Eine Stellungnahme des Klägers erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 20. Juni 2006, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 27. Juni 2006 zugestellt, widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter sowie die getroffene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG. Ferner wurde festgestellt, dass weder dieVoraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die erforderliche Prognose drohender politischer Verfolgung nicht mehr treffen lasse. Die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei habe sich wesentlich geändert. Seit 2002 seien acht Reformpakete verabschiedet worden. Diese enthielten wichtige Schritte zur Demokratisierung der türkischen Gesellschaft und zur Ausweitung kultureller Rechte. Am 01. Juni 2005 seien ein neues Strafgesetz, ein neues Strafvollzugsgesetz und eine neue Strafprozessordnung in Kraft getreten. Ferner habe die Türkei im Januar 2004 das 13. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskommission unterzeichnet und am 17. Dezember 2004 habe der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschlossen. Zudem gebe es keine Sippenhaft im rechtlichen Sinne. Kein türkischer Staatsangehöriger werde wegen der Tat eines Familienangehörigen strafrechtlich verfolgt. Zwar könne es im Rahmen von Ermittlungsverfahren zu Ladungen von Familienangehörigen kommen. Es bestünde jedoch keine verfolgungsrelevante Eingriffsintensität. Bisher seien Übergriffe auf nahe Angehörige bei solchen Befragungen nicht auszuschließen gewesen. Die Annahme, dass Angehörigen von gesuchten Personen sippenhaftähnliche Übergriffe weiterhin drohten, sei inzwischen jedoch nicht mehr gerechtfertigt, weil es an einer hinreichenden Zahl von Reverenzfällen aus jüngerer Zeit fehle.
Mit Bescheid vom selben Tag wurde auch die zugunsten des Vaters des Klägers getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen. Die dagegen vor dem Verwaltungsgericht Bremen eingelegte Klage (Az.: 2 K 1740/06.A) nahm der Vater des Klägers zurück, nachdem ihm die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zugesichert worden war.
Der Kläger hat gegen den an ihn gerichteten Bescheid vom 20. Juni 2006 am 11. Juli 2006 Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt. Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger vor, dass ein Widerruf einen grundlegenden, stabilen und dauerhaften Charakter der Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat voraussetze. Dies sei hier nicht der Fall. Die Reformen stünden im Wesentlichen nur auf dem Papier. Eine durchgreifende Änderung in der Praxis sei nicht erfolgt und auch nicht absehbar.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juni 2006 aufzuheben,
hilfsweise,
die Beklagte zu verpflichten, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, weiter hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festzustellen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Mit Beschluss vom 18. Oktober 2007 hat die erkennende Kammer dem Kläger für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte zu diesem Verfahren, die beigezogenen Gerichtsakten der Verfahren 4 A 131/99 und 4 A 1878/04 des erkennenden Gerichts, die beigezogene Gerichtsakte des Verfahrens 2 K 1740/06.A des Verwaltungsgerichts Bremen sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und des Landkreises G. Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), führt auch in der Sache zum Erfolg.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten i.S.v. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Asylanerkennung des Klägers sowie die zu seinen Gunsten getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, zu Unrecht widerrufen. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des Klägers liegen nicht vor. Maßgebend ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
Nach § 73 Abs. 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen (Satz 1). Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder wenn er als Staatenloser in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Satz 2). Dies gilt nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Satz 3).
Ein Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG kommt nur in Betracht, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneute Verfolgung droht (BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21/04 - zitiert nach [...]). Dieser Prognosemaßstab der hinreichenden Sicherheit setzt für einen Widerruf voraus, dass keine ernsthaften Zweifel an der Sicherheit des Flüchtlings vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in den Heimatstaat vorhanden sein dürfen (BVerwG, Urteil vom 26.03.1985 - 9 C 107/84 - zitiert nach [...]). Ändert sich im Nachhinein lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, so rechtfertigt dies den Widerruf nicht, selbst wenn die andere Beurteilung auf erst nachträglich bekannt gewordenen oder neuen Erkenntnismitteln beruht (BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 38/06 - zitiert nach [...]).
Maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen sind, ist der Zeitpunkt des rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteils. Nur wenn das Bundesamt die Anerkennung von sich aus ausgesprochen hat, kommt es im Widerrufsverfahren darauf an, ob sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nach Ergehen des bestandskräftigen Anerkennungsbescheids erheblich geändert haben (BVerwG, Urteil vom 08.05.2003 - 1 C 15/02 - zitiert nach [...]).
Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylanerkennung und der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vor.
Der Kläger wurde als Asylberechtigter anerkannt, weil die bei seinem Vater zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führenden Umstände - Verfassen von regimekritischen Artikeln für die Zeitschrift "Selam" - für ihn einen objektiven Nachfluchtgrund unter dem Gesichtspunkt der sippenhaftähnlichen Gefährdung begründeten. Zwar hat der Anerkennungsbescheid vom 14. April 2003 diese Begründung nicht selbst formuliert, jedoch mit dem alleinigen Bezug auf das Urteil des erkennenden Gerichts vom 21. Oktober 2002 (Az.: 4 A 131/99) sich dessen tatsächliche Grundlagen zur Annahme einer beachtlichen Verfolgungsfurcht zu Eigen gemacht. Mit diesem Erklärungsinhalt ist der Anerkennungsbescheid bestandskräftig geworden.
Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei habe sich wesentlich geändert. Kein türkischer Staatsangehöriger werde wegen der Tat eines Familienangehörigen strafrechtlich verfolgt; es gebe keine Sippenhaft im rechtlichen Sinne.
Entgegen der Behauptungen des Bundesamtes sind seit dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 21. Oktober 2002 keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.
Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 21. Oktober 2002 verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang mehrere Gesetzespakte verabschiedet. Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, die Zulassung anderer Sprachen als der türkischen in Rundfunk und Fernsehen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteiverboten, eine Strafrechtsreform sowie Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008).
Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). Das Reformtempo hat sich seit Anfang 2005 aufgrund der innenpolitischen Spannungen verlangsamt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 25.10.2007 und 11.09.2008; Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster und Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Im Jahr 2007 ist nach Aussagen von Menschenrechtsorganisationen jedoch wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe zu verzeichnen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Aufgrund der Verpflichtung zu ärztlichen Eingangs- und Ausgangsuntersuchungen ist laut Menschenrechtsorganisationen davon auszugehen, dass Folter und Misshandlungen nur noch in wenigen Fällen bei offiziell erfassten polizeilichen Ingewahrsamnahmen und Inhaftierungen vorkommen. Misshandlungen sollen nicht mehr in den Polizeistationen, sondern an anderen Orten, u.a. im Freien stattfinden; die Täter sollen nach Presseberichten vermummt sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Eine der Hauptursachen für die immer noch vorkommende Folter ist die nicht effiziente Strafverfolgung von folternden staatlichen Kräften. Nach wie vor verurteilen türkische Gerichte in politischen Strafverfahren auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008).
Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes hat sich die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Die PKK verübt regelmäßig Bombenanschläge, die in den letzten Jahren zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung geführt haben. Seit Dezember 2007 unternimmt das türkische Militär auch grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebereicht vom 11.09.2008).
In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Danach werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft und Festgenommene erhalten später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die Gesetzesänderung erweitert die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Rechte von Verteidigern einzuschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Damit werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt durch die Reformgesetze gestärkt wurden, wieder eingeschränkt. Kritische Entwicklungen sind bei der Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zu beobachten. Gegen Journalisten, Menschenrechtsverteidiger u.a. wurden seitens der türkischen Justiz öffentlichkeitswirksame Strafverfahren geführt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29.10.2006 an VG Ansbach). Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.
Im vorliegenden Fall kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden. Es besteht nämlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Heimatbehörden noch heute davon Kenntnis besitzen, welche Vorwürfe seinerzeit gegen den Vater des Klägers im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von regimekritischen Artikeln erhoben worden sind, welche zu einer strafrechtlichen Verurteilung der verantwortlichen Herausgeber bzw. Redakteure geführt haben. Geheimdienste, Polizei und Gendarma führen Datenblätter (sog. Fisleme) über auffällig gewordene Personen (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 264/05 -). Zwar gibt es in der Türkei keine Sippenhaft in Form strafrechtlicher Verfolgung. Die nach türkischem Recht aussagepflichtigen Familienangehörigen - etwa von vermeintlichen oder tatsächlichen PKK-Mitgliedern oder Sympathisanten - werden allerdings zu Vernehmungen geladen, z.B. um über den Aufenthalt von Verdächtigen befragt zu werden. Werden Ladungen nicht befolgt, kann es zu zwangsweisen Vorführungen kommen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). In der Praxis kam es in der Vergangenheit relativ häufig zu Übergriffen auf nahe Verwandte von politischen Straftätern bzw. flüchtigen Verdächtigen (vgl. Kaya, Gutachten vom 30.06.1997 an VG Hamburg, vom 11.03.1998 an VG Berlin und vom 10.11.2004 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 17.02.1997 an VG Hamburg; Rumpf, Gutachten vom 28.07.1997 und vom 24.07.1998 an VG Berlin; s. auch Auswärtiges Amt, Auskunft vom 23.05.2001 an VG Sigmaringen), um z.B. den Aufenthaltsort des Gesuchten zu ermitteln, Informationen über dessen politisches Umfeld zu gewinnen oder Druck auf den Gesuchten auszuüben, um ihn zu bewegen, sich zu stellen. Auch wenn diese Fälle in den letzten Jahren sowohl ihrer Häufigkeit als auch der Intensität des ausgeübten Drucks nach zurückgegangen sein mögen, scheinen sie weiterhin vorzukommen. Amnesty International berichtet in seiner Länderkurzinfo Türkei vom 31.07.2005 von verschiedenen derartigen Fällen. Nach Kaya, Gutachten vom 10.12.2005 an HessVGH besteht jedenfalls eine Gefahr von Übergriffen auf Angehörige hochrangiger PKK-Funktionäre, wenn Anhaltspunkte für eine eigene politische Betätigung des Angehörigen bestehen. Das erkennende Gericht folgt daher dem Nds. Oberverwaltungsgericht (u.a. Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 264/05 - m. w. Nachw. aus der neueren Rechtsprechung) in der Einschätzung, dass die Möglichkeit einer asylrelevanten Verfolgung unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft nicht generell abzulehnen ist, sondern einer einzelfallbezogenen Würdigung bedarf.
Im vorliegenden Fall ergibt diese, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei damit rechnen muss, in die politische Verfolgung seines Vaters einbezogen zu werden. Für ihn besteht als naher Angehöriger einer Person, die sich zumindest verdächtig gemacht hat, staatsfeindliche Bestrebungen öffentlichkeitswirksam zu unterstützen, die Gefahr, wegen seines Vaters - um nähere Informationen über dessen Aktivitäten, dessen Umfeld und Kontakte zu erhalten - verhört und bei den Verhören menschenrechtswidriger Behandlung unterzogen zu werden. An dieser Gefährdungslage hat sich seit dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 21. Oktober 2002 nichts geändert.
Die Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt keine Anhaltspunkte vorliegen, dass Personen, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben und die z.B. eine strafrechtliche Verfolgung oder Gefährdung durch Sippenhaft in der Türkei behaupten, bei Rückkehr in die Türkei eine Gefährdung durch Folter und Misshandlung allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, droht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Denn dem Kläger droht die Gefahr von Folter und Misshandlungen nicht maßgeblich aufgrund der Tatsache, dass er einen Asylantrag gestellt hat, sondern vielmehr deshalb, weil er als naher Angehöriger einer verdächtigen regimekritischen Person Informationen über dessen Aufenthalt und Aktivitäten besitzt.
Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten (vgl. dazu die jüngsten gerichtlichen Entscheidungen: OVG Münster, Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A -; VG Göttingen, Urteil vom 12.11.2008 - 1 A 392/06 -; VG Stuttgart, Urteil vom 30.06.2008 - A 11 K 304/07 -; VG Ansbach, Urteil vom 16.10.2008 - AN 1 K 08.30318 -; VG Oldenburg, Urteil vom 04.10.2007 - 5 A 4386/06 -; VG Minden, Urteil vom 10.03.2008 - 8 K 831/07.A -; VG Hannover, Urteil vom 30.01.2008 - 1 A 7832/05 -; alle zitiert nach [...]), so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Asylanerkennung und Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht weggefallen sind. Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum.
Die Entscheidung lässt auch die negativen Feststellungen des Bundesamtes zu § 60 Abs. 1 AufenthG und § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gegenstandslos werden, so dass auch dieser Teil der Aufhebung unterliegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO; 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Teichmann
Obelode