Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 22.10.2019, Az.: 2 W 76/19
Besichtigungsanspruch nach sogenannter Düsseldorfer Praxis; Glaubhaftmachung von Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund; Anwaltliche Versicherung eines Prozessvertreters
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 22.10.2019
- Aktenzeichen
- 2 W 76/19
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 44548
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 27.09.2019 - AZ: 9 O 5259/19 (080)
Rechtsgrundlage
- § 294 Abs. 1 ZPO
Fundstellen
- FA 2020, 34
- GRUR-RR 2020, 3 "Besichtigungsanspruch"
- K&R 2020, 226
- MMR 2020, 254-255
- Mitt. 2020, 143
- ZAP EN-Nr. 38/2020
- ZAP 2020, 77-78
Amtlicher Leitsatz
1. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäß § 101a Abs. 1 S 1 u. Abs. 3 S. 1 UrhG setzt die Glaubhaftmachung sowohl eines Verfügungsanspruchs als auch eines Verfügungsgrunds voraus.
2. Die anwaltliche Versicherung des Prozessvertreters des Antragstellers über das Vorliegen einer eidesstattlichen Versicherung eines anonymen Hinweisgebers genügt ohne das Hinzutreten weiterer Indizien nicht zur Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 27.09.2019 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren und - insoweit unter Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung - für die erste Instanz wird auf 15.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin macht gegen die Antragsgegnerinnen einen Besichtigungsanspruch im Sinne von § 101a UrhG im Wege der einstweiligen Verfügung, primär nach sogenannter "Düsseldorfer Praxis", geltend. Nach anwaltlicher Versicherung ihrer Prozessbevollmächtigten hat die Antragstellerin von einem Hinweisgeber, dem Anonymität zugesichert worden ist, Angaben zu einer unlizenzierten Nutzung von Software durch die Antragsgegnerinnen erhalten, die die Antragstellerin entwickelt hat.
Das Landgericht hat die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung und Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens mit den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 01.10.2019 zugestelltem Beschluss zurückgewiesen, weil weder ein Verfügungsanspruch noch ein Verfügungsgrund glaubhaft gemacht worden seien und die Antragstellerin auch die Erforderlichkeit der begehrten Besichtigung nicht dargelegt habe.
Hiergegen hat die Antragstellerin mit am 11.10.2019 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz sofortige Beschwerde eingelegt. Sie trägt zur Begründung vor:
Ein Verfügungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Verfügung liege entgegen der Auffassung des Landgerichts vor.
Nachdem der Hinweisgeber auf der X-Webseite am 29.01.2019 einen Hinweis auf unlizenzierte Programme der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin zu 1 sowie eine E-Mail-Adresse hinterlassen habe, sei er mehrfach mit der Bitte um Kontaktaufnahme angeschrieben worden, woraufhin er sich erstmalig am 26.03.2019 gemeldet und um Wahrung seiner Anonymität gebeten habe, was ihm zugesagt worden sei. Anlässlich eines Telefontermins am 01.04.2019 habe er seine Informationen erstmalig konkretisiert und detaillierte Angaben dazu gemacht, dass die drei Antragsgegnerinnen Programme der Antragstellerin ohne die erforderlichen Nutzungsrechte benutzten. Danach sei ein weiteres Telefonat am 09.04.2019 mit weiteren Konkretisierungen geführt worden.
Noch am selben Tag hätten die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin dem Hinweisgeber per E-Mail den Entwurf einer eidesstattlichen Versicherung übersandt. Dieser habe um inhaltliche Änderungen gebeten und am 09.05.2019 per E-Mail mitgeteilt, das unterzeichnete Original der eidesstattlichen Versicherung per Briefpost an die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin schicken zu wollen. Weil diesen die eidesstattliche Versicherung in der Folgezeit nicht zugegangen sei, sei mehrmals erfolglos versucht worden, den Hinweisgeber telefonisch zu erreichen, woraufhin er am 24.07.2019 per E-Mail erinnert worden sei. Daraufhin habe er sich am 30.07.2019 gemeldet und mitgeteilt, dass er die eidesstattliche Versicherung bereits per Briefpost verschickt habe. Er habe um erneute Mitteilung der Postadresse gebeten. Nachdem im weiteren wieder keine Briefpost des Hinweisgebers eingegangen und dieser auch mehrmals telefonisch nicht zu erreichen gewesen sei, hätten die Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 21.08.2019 erneut per E-Mail nachgefragt. Daraufhin sei am 26.08.2019 die eidesstattliche Versicherung des Hinweisgebers im Original per Briefpost eingegangen und am 09.09.2019 die Antragsschrift bei dem Landgericht Braunschweig eingereicht worden.
Auch ein Verfügungsanspruch sei glaubhaft gemacht worden, denn in Beweisverfahren zur Feststellung von Urheberrechtsverstößen in Unternehmen sei eine anwaltliche Versicherung ein geeignetes Glaubhaftmachungsmittel, wenn ein Hinweisgeber anonym bleibe.
Schließlich sei auch die Erforderlichkeit der Besichtigung zu bejahen. Die Antragstellerin könne nicht darauf verwiesen werden, die Urheberrechtsverletzung möglicherweise auch mit einem unsicheren Beweismittel wie einer Zeugenaussage nachweisen zu können. § 101a UrhG diene der Sicherung und Beschaffung von Beweismitteln und setze gerade nicht voraus, dass die Besichtigung das einzige Beweismittel beschaffen solle und der Antragstellerin keine anderen Beweismittel zur Verfügung stünden.
Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 15.10.2019 nicht abgeholfen und das Verfahren dem Oberlandesgericht Braunschweig als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt.
II.
1. Die zulässige sofortige Beschwerde (§§ 567 Abs. 1 Nr. 2, 569 ZPO) ist unbegründet.
Das Landgericht hat den Antrag zu Recht abgewiesen. Der Senat hält an seiner von der ganz herrschenden Meinung (vgl. z. B. OLG Nürnberg, Beschluss v. 17.08.2015 - 3 W 1412/15, GRUR-RR 2016, 108; OLG Hamm, Beschluss v. 20.08.2009 - 4 B 107/09, ZUM-RD, 2010, 27; OLG Köln, Beschluss v. 09.01.2009 - 6 W 3/09, ZUM 2009, 427; Ohst in: Wandtke/Bullinger, Urheberrecht, 5. Aufl., § 101a Rn. 34; Reber in: BeckOK, Urheberrecht, 25. Edition, § 101a Rn. 3; Dreier/Schulze, UrhG, 6. Aufl., § 101a Rn. 9; Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl., § 101a Rn. 8) geteilten Rechtsauffassung fest (Senat, Beschluss v. 06.04.2011 - 2 W 24/11, n. v.), wonach der Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäß § 101a Abs. 1 S 1 u. Abs. 3 S. 1 UrhG i. V. m. §§ 935 ff. ZPO (sowie hier Art. 5 Abs. 1 RBÜ) die Glaubhaftmachung sowohl eines Verfügungsanspruchs als auch eines Verfügungsgrunds voraussetzt. Die Bedeutung des § 101a Abs. 3 S. 1 UrhG liegt darin, dass diese Bestimmung den Erlass einer einstweiligen Verfügung entgegen den sonst geltenden Grundsätzen des vorläufigen Rechtsschutzes auch dann ermöglichen soll, wenn die Hauptsache hierdurch vorweggenommen wird. Die Regelung befreit jedoch nicht von dem Erfordernis der Glaubhaftmachung der für den Erlass einer einstweiligen Verfügung erforderlichen Voraussetzungen. Dies entspricht im Übrigen auch der Auffassung des Gesetzgebers (vgl. amtl. Begr. BT-Drs. 16/5048, 41).
Im Streitfall fehlt es an beiden Voraussetzungen.
a) Die Antragstellerin hat die Dringlichkeit der einstweiligen Verfügung nicht glaubhaft gemacht.
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung muss zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig sein (§ 940 ZPO). Dabei muss die antragstellende Partei, will sie den Vorwurf der Selbstwiderlegung vermeiden, im Rahmen der Verfolgung der einstweiligen Verfügung alle Abläufe zeitlich so kurz wie möglich halten und Verzögerungen vermeiden. Insbesondere geht die Dringlichkeit verloren, wenn der Antragsteller mit der Rechtsverfolgung zu lange wartet und/oder das Verfahren nicht zügig, sondern schleppend betreibt (vgl. zu § 101a Abs. 3 UrhG z. B. OLG Köln, a. a. O.; OLG Hamm, a. a. O.).
Hier hat die Antragstellerin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung erst am 12.09.2019 bei Gericht eingereicht, obwohl sie bereits in einem am 01.04.2019 mit dem Hinweisgeber geführten Telefonat detaillierte Angaben dazu erhalten hatte, dass die drei Antragsgegnerinnen angeblich Programme der Antragstellerin ohne Lizenz nutzten. Diese zeitliche Streckung der Prozessvorbereitung erscheint deutlich zu lang.
Der bis zum Einreichen der Antragsschrift verstrichene Zeitraum von über fünf Monaten ist im Wesentlichen auf die Bemühungen der Antragstellerin bzw. ihrer Prozessbevollmächtigten entfallen, von dem Hinweisgeber eine eidesstattliche Versicherung seiner Angaben zu erhalten. Abgesehen davon, dass die Antragstellerin jedoch ohnehin nicht beabsichtigt, die eidesstattliche Versicherung im Verfahren vorzulegen, sind die auf ihren Erhalt bezogenen Bemühungen nicht ausreichend beschleunigt worden. Der Entwurf einer eidesstattlichen Versicherung ist dem Hinweisgeber von den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin bereits am 09.04.2019 übersandt worden. Es hat im folgenden Kontakte wegen etwaiger Änderungen gegeben, die bei einer Dauer von einem Monat zu langwierig gestaltet worden sind. Am 09.05.2019 hat der Hinweisgeber schließlich angekündigt, die eidesstattliche Versicherung per Briefpost abschicken zu wollen. Obwohl im Anschluss keine Postsendung zuging, hat die Antragstellerin bis zum 24.07.2019, also etwa zweieinhalb Monate gewartet, ehe sie den Hinweisgeber per E-Mail erinnerte. Auf zwischenzeitlich versuchte telefonische Kontaktaufnahmen kann sich die Antragstellerin nicht berufen, weil der Hinweisgeber telefonisch nicht zu erreichen war. Nachdem dieser sodann am 30.07.2019 offenbar erneut angekündigt hatte, die eidesstattliche Versicherung zu übersenden, ist, nachdem auch dies nicht geschehen war, wiederum über drei Wochen, nämlich bis zum 21.08.2019 zugewartet worden, ehe erneut per E-Mail nachgefragt wurde.
Damit hat die Antragstellerin die Vorbereitung ihrer einstweiligen Verfügung bei einer Gesamtbetrachtung nur schleppend betrieben.
b) Darüber hinaus fehlt es auch an der erforderlichen Glaubhaftmachung eines Verfügungsgrunds.
aa) Richtig ist zwar, dass die durch einen Rechtsanwalt mitgeteilten Tatsachen in gleicher Weise nach § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft gemacht werden können, wie dies sonst durch eine eidesstattliche Versicherung der Fall ist, wenn der Anwalt die Richtigkeit seiner Angaben unter Bezugnahme auf seine Standespflichten anwaltlich versichert (vgl. BGH, Beschluss v. 05.07.2017 - XII ZB 463/16, NJW-RR 2017, 1266). Anwaltlich versichert worden ist hier jedoch nur, dass ein Hinweisgeber, dem Anonymität zugesichert worden sei, Angaben gemacht und anschließend eidesstattlich versichert habe, die darauf schließen ließen, dass die Antragsgegnerinnen von der Antragstellerin entwickelte Computerprogramme ohne die erforderliche Lizenz nutzten. Damit ist und bleibt aber der Hinweisgeber bzw. seine eidesstattliche Versicherung das primäre Beweismittel. Die anwaltliche Versicherung, es gebe einen Hinweisgeber, der derartige Angaben gemacht habe, ist sekundär; sie beweist nicht die urherberrechtswidrige Nutzung von Computerprogrammen, sondern nur, dass ein Dritter die Behauptung einer solchen nichtlizenzierten Nutzung aufgestellt habe.
Eine inhaltliche Prüfung der von dem Hinweisgeber eidesstattlich versicherten Angaben ist jedoch ohne Vorlage der eidesstattlichen Versicherung selbst nicht möglich. Überhaupt ist die eidesstattliche Versicherung des anonymen Hinweisgebers unter den Umständen des Streitfalls als Beweismittel nahezu wertlos. Denn gerade die im Falle der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung sich aus den §§ 156, 161 StGB ergebende Strafandrohung ist wesentliches Fundament für die Beurteilung der Angaben als glaubhaft. Hier läuft die Strafdrohung jedoch völlig leer, was zwangsläufig den Beweiswert der eidesstattlichen Versicherung weitgehend beseitigt. Strafbar ist nämlich nur die "Abgabe" einer falschen eidesstattlichen Versicherung vor einer zur Abnahme einer Versicherung an Eides Statt zuständigen Behörde, worunter auch Gerichte zu verstehen sind. Eine schriftliche Versicherung ist in diesem Sinne abgegeben, wenn sie der zuständigen Behörde mit dem Willen des Erklärenden, ggf. auch durch einen Dritten, zugeht (vgl. z. B. Bosch/Schittenhelm in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 156 Rn. 19 m. w. N.; MK-Müller, StGB, 3. Aufl., § 156 Rn. 12). Eine solche "Abgabe" ist hier ausgeschlossen, nachdem die Antragstellerin bzw. ihre Prozessbevollmächtigten dem Hinweisgeber sowohl Anonymität als auch ein Unterbleiben der Weitergabe seiner eidesstattlichen Versicherung zugesichert haben.
bb) Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M. vom 04.05.2012 verweist (Geschäfts-Nr. 11 W 15/12/Anlage AS 3), hat das Oberlandesgericht Frankfurt bereits nur einen "gewisse(n) Grad an Wahrscheinlichkeit" geprüft, was nicht dem Grad der Glaubhaftmachung entspricht. Diese ist auf die Feststellung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gerichtet (vgl. z. B. BGH, Beschluss v. 27.09.2016 - XI ZB 12/14, NJW-RR 2017, 308). Darüber hinaus hat sich das Oberlandesgericht Frankfurt neben der anwaltlichen Versicherung auf weitere Indizien gestützt, an denen es hier fehlt.
Das weiter von der Antragstellerin in Bezug genommene Oberlandesgericht Dresden dagegen argumentiert in dem als Anlage AS 4 vorgelegten Beschluss vom 01.09.2015 (Geschäfts-Nr. 14 W 766/15) vorwiegend mit der Beweisnot der antragstellenden Partei. Diese mag auch hier anzunehmen sein, rechtfertigt es aber nicht, gleichsam kompensatorisch der Sache nach auf eine Glaubhaftmachung des Verfügungsanspruchs zu verzichten.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
3. Der Streitwert ist gemäß den §§ 47 Abs. 1 S. 1, 48 Abs. 1, 53 Abs. 1 Nr. 1 GKG, 3 ZPO festgesetzt worden.
Der Wert eines Besichtigungsanspruchs nach § 101a Abs. 1 S. 1 UrhG richtet sich nach dem Streitwert der Ansprüche, deren Vorbereitung er dient. Für die Bemessung des Streitwerts ist dabei auf die Grundsätze zur Bemessung des Streitwerts eines Auskunftsanspruchs zurückzugreifen, der ebenso wie der Besichtigungsanspruch der Vorbereitung des Hauptanspruchs dient. Der Auskunftsanspruch ist in der Regel mit einem Zehntel bis einem Viertel des Werts des Hauptanspruchs zu bewerten, wobei der Wert des Auskunftsanspruchs umso höher zu bemessen ist, je mehr der Kläger zur Begründung seines Hauptanspruchs auf die Auskunftserteilung angewiesen ist (vgl. BGH, Beschluss v. 31.03.2010 - I ZR 27/09, BeckRS 2010, 11845).
Hieran gemessen erscheint ein Streitwert unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Bedeutung der Hauptansprüche für die Antragstellerin, von 15.000,00 € als angemessen. Die Streitwertfestsetzung des Landgerichts war deshalb gemäß § 63 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GKG von Amts wegen zu korrigieren.