Amtsgericht Göttingen
Beschl. v. 14.12.2016, Az.: 74 IK 352/16

Bibliographie

Gericht
AG Göttingen
Datum
14.12.2016
Aktenzeichen
74 IK 352/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43156
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Unter den Begriff der Geldstrafen i.S.d. § 302 Nr. 2 InsO fallen nicht die Verfahrenskosten.
2. Geldstrafen stehen der Stundung der Verfahrenskosten gem. § 4a InsO nicht entgegen, wenn der Schuldner bei wertender Betrachtung eine Chance für eine wirtschaftlichen Neustart erhält.
3. Eine gewichtige Bedeutung kommt der Höhe der Geldstrafe zu (Ergänzung zu AG Göttingen, Beschl. v. 14.10.2015 - 74 IN 181/15, ZinsO 2015, 2341 = NZI 2015, 946 = ZVI 2016, 460 = RPfleger 2016, 51 und 09.12.2015 - 71 IN 101/15, ZInsO 2016, 174 = NZI 2016, 142 = ZVI 2016, 126).

Tenor:

In dem Insolvenzverfahren über das Vermögen des ... wird heute um 09:00 Uhr das Insolvenzverfahren gemäß §§ 2,3,11,16 ff InsO wegen Zahlungsunfähigkeit eröffnet.

Dem Schuldner wird Stundung für das Eröffnungsverfahren und das eröffnete Verfahren bewilligt.

Aus der Insolvenzmasse sind vorweg zu begleichen die Gerichtskosten einschließlich der Vergütung des Insolvenzverwalters

Der Schuldner erlangt Restschuldbefreiung, wenn er den Obliegenheiten des § 295 InsO nachkommt und Voraussetzungen für eine Versagung nach den §§ 290, 297 bis 298 InsO nicht vorliegen.

Zum Insolvenzverwalter wird bestellt: Rechtsanwalt ...

Gründe

I. Der Schuldner hat am 06./07.12.2016 Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens über sein Vermögen beantragt. Die Gesamtverbindlichkeiten sind mit 6.664,82 € angegeben, darunter Ansprüche der Staatsanwaltschaft Chemnitz in Höhe von 4.394,05 €. Der Betrag setzt sich zusammen aus einer offenen Restgeldstrafe von 1.110,00 € und Verfahrenskosten von 3.284,05 €. Der 1992 geborene Schuldner befindet sich seit April 2016 in einer stationären Entwöhnungsbehandlung und erhält Leistungen nach dem SGB IX.

II. Das Insolvenzverfahren ist zu eröffnen unter Bewilligung von Stundung. Unerheblich ist es jedenfalls im vorliegenden Fall, dass auch Verbindlichkeiten gemäß § 300 Nr. 2 InsO bestehen, die von der Erteilung der Restschuldbefreiung nicht berührt werden. Eine ähnliche Problematik besteht im Rahmen des § 302 Nr. 1 InsO (1.). Allerdings bestehen auch entscheidende Unterschiede (2.). Geboten ist eine am Einzelfall orientierte Betrachtung (3.), die im vorliegenden Fall zu einer Bewilligung der Stundung führt (4.).

1. Im Rahmen des § 302 Nr. 1 InsO ist umstritten, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine Stundung bei deliktischen Forderungen ausscheidet. Rechtsprechung und Literatur beantworten diese Frage unterschiedlich.

Das erkennende Gericht hat im Beschluss vom 14.10.2015 (74 IN 181/15 - ZInsO 2015,2341 = NZI 2015,946 = ZVI 2016, 460 = RPfleger 2016, 51) bei dem Stundungsantrag eines Strafgefangenen mit einer Gesamtverschuldung von ca. 102.000 € und einem deliktischen Forderungsanteil von 17.500 € aus Betrugsstraftaten (ca. 17,2% der Gesamtverschuldung) unter Ziffer 4a) folgendes ausgeführt: „ Es fehlt auch nicht das Rechtsschutzinteresse für eine Restschuldbefreiungsantrag deshalb, weil ein Teil der Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung stammt. Stammen die Forderungen im Wesentlichen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung, soll eine Stundung der Verfahrenskosten gemäß § 4a InsO ausscheiden (BGH ZInsO 2005, 207, 208 obiter dictum; LG Düsseldorf, Beschl. v. 05.10.2012 – 25 T 466/12, ZInsO 2012, 2305). Unklar ist allerdings, welcher Prozentsatz zugrunde zu legen ist (Frind Praxishandbuch Privatinsolvenz Rz. 254: über 50%; AGR-Ahrens § 4a Rz. 52: mindestens ca. 90 %). Die Praxis lässt schon 45 % genügen (AG Düsseldorf, Beschl. v. 08.08.2012 – 513 IK 115/12, ZInsO 2013, 837; LG Düsseldorf, Beschl. v. 05.10.2012 - 25 T 466/12, ZInsO 2012, 2305). Teilweise wird auch auf das Verhältnis von Höhe der Deliktsforderungen und persönlichen sowie wirtschaftlichen Verhältnissen des Schuldners abgestellt (Siebert VIA 2013, 6, 7). Zuletzt hat das LG Hannover (Beschl. v. 24.04.2015 – 20 T 14/15, ZVI 2015, 268 mit abl. Anm. Blankenburg ZVI 2015, 239) bei einem Anteil der deliktischen Forderungen von 55,55 % eine Stundung abgelehnt. Diese Rechtsprechung ist abzulehnen. Eine prozentuale Grenzziehung ist problematisch, eine Wertung anhand der Gesamtumstände wenig verlässlich. Zudem sind die Erkenntnismöglichkeiten des Insolvenzgerichtes eingeschränkt und von Zufällen (oder freimütigen Angaben des Schuldners) abhängig.“

Im Beschluss vom 09.12.2015 (71 IN 101/15, ZInsO 2016, 174 = NZI 2016, 142 = ZVI 2016, 126) hat das Insolvenzgericht diese Rechtsprechung auch bei einem Anteil der deliktischen Forderung von über 75 % (ca. 24.000 € von 30.000 €) angewandt und ergänzend darauf hingewiesen, dass unklar ist, ob Deliktsgläubiger die Forderung überhaupt als deliktische Forderung anmelden und in welchem Umfang bei einer Anmeldung der Anteil an der Gesamtverschuldung sich beläuft, da erfahrungsgemäß nicht alle vom Schuldner angeführten Forderungen auch tatsächlich angemeldet werden.

2. Diese Rechtsprechung lässt sich nur eingeschränkt auf die vorliegende Fallgestaltung übertragen. Ein gewichtiger Unterschied besteht darin, dass die Verbindlichkeiten gem. § 302 Nr. 2 InsO kraft Gesetzes von der Restschuldbefreiung ausgenommen sind, ohne dass es einer Anmeldung und ggf. klagweisen Feststellung bedarf.

3. Abzustellen ist darauf, ob der Schuldner bei Erteilung der Restschuldbefreiung eine realistische Chance für eine wirtschaftlichen Neustart erhält. Dabei ist folgendes zu bedenken:

- Unklar ist, in welcher Höhe Forderungen angemeldet werden.

- Unklar kann sein, ob Forderungen gem. § 302 Nr. 1 InsO angemeldet und festgestellt werden.

- Die Prognose der zukünftigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse kann sich schwierig gestalten. Eine ungeprüfte Übernahme der Vermutung des § 309 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 InsO – gleichbleibende Einkommens- und Vermögensverhältnisse – kommt nicht generell in Betracht.

- Nach Erteilung der Restschuldbefreiung können sich die Befriedigungsaussichten der privilegierten Gläubiger gem. § 302 InsO erhöhen.

- Im frühen Verfahrensstadium der Stundungsbewilligung sind die Erkenntnismöglichkeiten des Insolvenzgerichtes eingeschränkt.

Eine Aussichtslosigkeit wird sich nur in Ausnahmefällen feststellen lassen. Dabei kommt der Höhe der Verbindlichkeit gem. § 302 Nr. 2 InsO eine gewichtige Bedeutung zu.

4. Im vorliegenden Fall beläuft sich die Geldstrafe auf 1.110 €. Nur diese, nicht aber die Verfahrenskosten sind von der Restschuldbefreiung ausgenommen (FK-InsO/Ahrens § 302 Rn. 85; HambK-Streck § 302 Rn. 9). Weitere privilegierte Gläubiger sind nicht ersichtlich. Stundung ist zu bewilligen.