Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 21.12.2022, Az.: 1 B 153/22

Aufenthaltserlaubnis zu Beschäftigungszwecken; Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung; Besondere Härte; Künstlerische Beschäftigung; Tattoo; Tätowieren; uneheliches Kind

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
21.12.2022
Aktenzeichen
1 B 153/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59322
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die (konkludente) Ablehnung der Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie gegen Nebenentscheidungen.

Der XX Jahre alte Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 21.05.2021 zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau, die er in der Türkei geheiratet hatte, mit einem Visum zum Daueraufenthalt in das Bundesgebiet ein. Die örtlich zuständige Ausländerbehörde (Landkreis E.) erteilte ihm erstmals am 14.07.2021 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, die bis zum 09.08.2021 befristet war. Im Laufe des Winters 2021/2022 trennte sich der Antragsteller von seiner Ehefrau. Der Antragsteller zog in das Gebiet der Antragsgegnerin und arbeitet dort seit dem 01.12.2021 als Tätowierer bei F.. Mit Schreiben vom 25.05.2022 beantragte der Antragsteller die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (als nunmehr eigenständiges Aufenthaltsrecht) nach § 31 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu Beschäftigungszwecken nach § 18a oder § 19c Abs. 2 AufenthG.

Nach Anhörung des Antragstellers verfügte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 24.06.2022 die nachträgliche Befristung der Geltungsdauer der dem Antragsteller ursprünglich erteilten Aufenthaltserlaubnis zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft auf den Tag der Bekanntgabe dieses Bescheids (Ziff. 1), forderte den Antragsteller zum Verlassen des Bundesgebiets binnen vier Wochen auf und drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziff. 2) und befristete das ebenfalls angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Ausreise (Ziff. 3). Zur Begründung verwies die Antragstellerin im Kern darauf, dass die wesentliche Voraussetzung für die Erteilung seiner Aufenthaltserlaubnis, nämlich die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Frau, entfallen sei. Die Voraussetzungen für eine Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG lägen vor. Bei der Ermessensentscheidung sei berücksichtigt worden, dass er sich zwar wirtschaftlich integriert habe, aber sein Aufenthalt im Bundesgebiet nur vergleichsweise kurz sei und er nur über weniger intensive soziale Kontakte als in der Türkei verfügen könne. Sein Aufenthalt sei derzeit als rechtswidrig anzusehen, zumal auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach einer anderen Rechtsgrundlage nicht in Betracht komme. Insbesondere handele es sich bei dem Beruf des Tätowierers nicht um eine qualifizierte Beschäftigung i.S.d. § 18a AufenthG oder um eine künstlerische Tätigkeit im Sinne des § 19c AufenthG i.V.m. § 25 Nr. 1 BeschV.

Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 04.07.2022 Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen 1 A 152/22 noch anhängig ist, und zugleich um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. In der Hauptsache wendet er sich nicht gegen die Verkürzung der Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis, sondern begehrt die Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Aufhebung der insoweit nur konkludent getroffenen Versagungsentscheidung und der Nebenentscheidungen. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass er einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG habe. Insbesondere müsse in seinem Fall zur Vermeidung einer besonderen Härte vom Erfordernis des dreijährigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet nach § 31 Abs. 2 AufenthG abgesehen werden. Dies folge daraus, dass er sich in der besonderen Situation befunden habe, mit dem aus der Untreue seiner Frau entstandenen Kind nunmehr fortlaufend konfrontiert zu sein. Die besondere Härte folge weiter daraus, dass er vor der Einreise nichts vom Seitensprung seiner Frau gewusst habe und deshalb im guten Glauben auf die bevorstehende Lebensgemeinschaft sein Leben im Heimatland zurückgelassen habe, sodass ihn eine Rückkehr unter Aufgabe seiner in Deutschland neu aufgebauten sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen allein aufgrund der Untreue seiner Frau nun ungleich härter treffen würde. Hilfsweise habe er einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu Beschäftigungszwecken aus § 18a AufenthG. Auch wenn der Beruf des Tätowierers keine Berufsausbildung voraussetze, sei die Tätigkeit der Ausübung einer qualifizierten Beschäftigung gleichzusetzen, da eine Vergleichbarkeit zu Handwerksberufen im kosmetischen oder etwa Friseurbereich sowie zu grafischen Designberufen bestehe. Faktisch handele es sich bei ihm um eine Fachkraft; der Umstand, dass der Gesetzgeber sein Berufsfeld bisher nicht den formalisierten Ausbildungsberufen zugeordnet habe, obgleich dies geboten sei, dürfe sich – auch vor dem Hintergrund des Art. 3 GG - nicht zu seinen Lasten auswirken. Weiter hilfsweise sei ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu Beschäftigungszwecken aufgrund des § 19c Abs. 2 AufenthG i.V.m. der Beschäftigungsverordnung zu erteilen. Insbesondere sei seine Tätigkeit als Tätowierer als Beschäftigung i.S.d. § 25 Nr. 1 der BeschV erfasst, da die Tätigkeit jedenfalls nach gewandelter gesellschaftlicher Auffassung mittlerweile im Schwerpunkt als künstlerisch anzusehen sei. Auch in seinem konkreten Einzelfall überwiege der künstlerische Anteil den handwerklichen, da Motivwünsche der Kunden sich regelmäßig auf ein Stichwort beschränkten, aus dem heraus er sodann ein Motiv entwickele und dieses in künstlerischer Ausgestaltung umsetze. Insofern liege seiner Tätigkeit eine individuelle „Handschrift“ zugrunde, die für eine Einstufung als vorrangig künstlerische Beschäftigung im Sinne der Beschäftigungsverordnung spreche.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen.

Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen auf den streitgegenständlichen Bescheid und führt ergänzend aus, ein Anspruch nach § 19c Abs. 2 AufenthG i.Vm. § 25 Nr. 1 BeschV komme nicht in Betracht, da die Tätigkeit als Tätowierer nicht als eine Form der künstlerischen Beschäftigung anzusehen sei. Vielmehr stünden bei der Tätigkeit des Antragstellers die Kundenwünsche im Vordergrund. Es werde deswegen vor allem eine Dienstleistung erbracht, bei der sich der Tätowierer nur in seltenen Fällen selbst verwirkliche und seine Phantasien auslebe. Zwar sei der Tätigkeit ein künstlerischer Aspekt nicht gänzlich abzusprechen, dieser sei jedoch gegenüber dem handwerklichen Aspekt als nachrangig zu bewerten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.

II.

Der mit Schriftsatz vom 20.12.2022 erweiterte Antrag ist insgesamt nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO statthaft, nachdem der Antragsteller den Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels am 25.05.2022 und damit noch vor Ablauf seiner ihm gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG zum Ehegattennachzug erteilten Aufenthaltserlaubnis gestellt hat, vgl. § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Hingegen bleibt die Fristverkürzung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG hier außer Betracht, weil sich die Klage in der Hauptsache (die aufschiebende Wirkung hätte, vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG) nicht gegen sie richtet.

Der auch sonst zulässige Antrag ist jedoch unbegründet. Das öffentliche Interesse am Vollzug der im Bescheid vom 24.06.2022 enthaltenen konkludenten Versagung der Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie Nebenentscheidungen überwiegt nämlich zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 02.12.2014 - 1 B 21.14 -, juris Rn. 6) das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers, weil der angefochtene Bescheid im angegriffenen Umfang bei summarischer Prüfung rechtmäßig ist.

1.

Der Antragsteller hat voraussichtlich keinen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.

a) Eine Verlängerung der zum Ehegattennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Auf-enthG erteilten Aufenthaltserlaubnis kommt nicht in Betracht. Für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, die aufenthaltsrechtlichen Schutz nach Art. 6 GG genießt, kommt es nicht auf den Umstand an, ob eine Ehe formal Bestand hat, sondern auf den nachweisbar betätigten Willen beider Eheleute, ein gemeinsames Leben zu führen (BVerwG, Beschl. v. 22.05.2013 - 1 B 25.12 -, juris Rn. 4). Das ist hier nicht der Fall, da die Eheleute seit dem Winter 2021/22 unstreitig getrennt leben.

b) Der Antragsteller hat voraussichtlich auch keinen Anspruch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aus § 31 AufenthG.

Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wird im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft die Aufenthaltserlaubnis als eigenständiges, vom Zweck des Fa-miliennachzugs unabhängiges Aufenthaltsrecht für ein Jahr verlängert, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat und der Ausländer bis dahin im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, Nieder-lassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU war. Danach kann die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU nicht vorliegen (§ 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).

Die Bestandsfrist wird berechnet ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung (vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 31 AufenthG Rn. 34), hier ab dem 14.07.2021. Bis zur Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt im Winter 2021/22 bestand sie nicht bereits drei Jahre, sondern nur etwa ein halbes Jahr. Der Antragsteller hat auch dann, wenn man zu seinen Gunsten davon ausgeht, dass er sich als türkischer Staatsangehöriger auf die Standstillklauseln des Art. 13 ARB 1/80 berufen kann, und somit das rechtmäßige Bestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft für mindestens zwei Jahre ausreichen würde (vgl. OVG Berlin-Bbg., Besch. v. 15.04.2014 - OVG 11 S 26.14 -, juris Rn. 4), keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG als eigenständiges Aufenthaltsrecht, weil er auch diese Voraussetzung nicht erfüllt.

Soweit der Antragsteller meint, in seinem Fall liege eine besondere Härte im Sinne des § 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2, 2. und 3. Alt. AufenthG vor, die es ihm unzumutbar gemacht hätte, an der ehelichen Lebensgemeinschaft festzuhalten und damit die Mindestbestandszeit im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu erfüllen, kann er hiermit voraussichtlich nicht durchdringen. Eine besondere Härte liegt nach § 31 Abs. 2 Satz 2, 2. und 3. Alt. AufenthG insbesondere dann vor, wenn dem Ehegatten wegen der aus der Auflösung der Ehe erwachsenden Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange droht (2. Alt.) oder wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar ist; dies ist insbesondere anzunehmen, wenn der Ehegatte Opfer häuslicher Gewalt ist (3. Alt.).

Soweit der Antragsteller geltend macht, er müsse infolge seiner Rückkehrverpflichtung in die Türkei sein soziales und wirtschaftliches Umfeld in Deutschland aufgeben, fehlt es hier schon an dem erforderlichen Ehebezug (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.06.2009 - 1 C 11.08 -, juris Rn. 24) der geltend gemachten Härte. Im Übrigen trifft ihn dies nicht anders als jeden anderen Ausreiseverpflichteten. Auch der Umstand, dass er sein Leben in der Türkei gutgläubig im Hinblick auf die Ehe aufgegeben hat, ist nicht zu berücksichtigen, weil ihn diese – nicht weiter konkretisierte Härte – nicht wegen der Rückkehrverpflichtung trifft. Auch ist nicht erkennbar, dass dem Antragsteller das Festhalten an der Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange unzumutbar war (3. Alt.). Dass seine Frau nach seinem Vortrag außerhalb der Ehe ein Kind gezeugt hat, mag verletzend sein und die Beendigung einer ehelichen Lebensgemeinschaft rechtfertigen und den Antragsteller insoweit in seinen schutzwürdigen Belangen beeinträchtigen. Die Unzumutbarkeit der Fortführung der Lebensgemeinschaft im Sinne der Norm folgt daraus aber noch nicht. Denn Untreue führt nicht zu einer Ausnahmesituation, die der häuslicher Gewalt entspricht. Für eine solche enge Auslegung spricht schon der Wortlaut der Norm, der mit dem Verweis auf häusliche Gewalt als Beispiel die Zumutbarkeitsschwelle markiert. § 31 Abs. 2 Satz 2 3. Alt. AufenthG ist damit nicht offen für eine Auslegung, die jedwede Kränkung in der Ehe, die zum Scheitern der Lebensgemeinschaft führen, erfasst. Damit liegen auch die Voraussetzungen von § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht vor. Es kann nach alledem offenbleiben, ob der Antragsteller die eheliche Lebensgemeinschaft aus eigener Initiative beendet hat (vgl. zu diesem Erfordernis Nds. OVG, Beschl. v. 04.12.2018 - 13 ME 458/18 -, juris Rn. 6 m. w. N.; a. A. Hess. VGH, Beschl. v. 22.09.2015 - 6 B 1311/15 -, juris Rn. 3) oder die Trennung von seiner Frau ausging, die ihn bei der Ausländerbehörde anzeigte.

b) Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach den §§ 18 ff. AufenthG.

Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG (bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung) besteht nach Aktenlage nicht. Nach dieser Regelung kann einer Fachkraft mit Berufsausbildung eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer qualifizierten Beschäftigung erteilt werden, zu der ihre erworbene Qualifikation sie befähigt. Der Antragsteller arbeitet seit dem 01.12.2021 als Tätowierer. Er ist keine Fachkraft mit Berufsausbildung i.S.d. § 18 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG, weil der Beruf kein staatlich anerkannter oder vergleichbar geregelter Ausbildungsberuf (§ 2 Abs. 12a AufenthG) ist und der Antragsteller, der den Beruf des Mechatronikers erlernt hat, auch nicht über eine gleichwertige ausländische Berufsqualifikation verfügt (§ 18 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG). Darauf, dass der Beruf des Tätowierers ein großes Maß an Fähigkeiten und Erfahrung verlangt, kommt es mit Blick auf die gesetzlichen Anforderungen, die einer erweiternden Auslegung im Sinne des Antragstellers nicht zugänglich sind, nicht an. Eine willkürliche Ungleichbehandlung des Berufs des Tätowierers mit den von § 18a AufenthG erfassten Berufen liegt ebenfalls nicht vor, weil der Gesetzgeber nicht nur an Fähigkeiten anknüpft, sondern an den Nachweis von Fähigkeiten, die mit dem Abschluss einer Berufsausbildung bzw. der Anerkennung ausländischer Qualifikationen verbunden sind.

Auch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 19c AufenthG (oder ermessensfehlerfreie Entscheidung) kommt voraussichtlich nicht in Betracht. Absatz 2 der Regelung, auf den der Antragsteller seinen Anspruch stützt, ist hier nicht anwendbar, weil die Erteilung nicht, wie ausgeführt, zur Ausübung einer qualifizierten Beschäftigung erfolgen würde.

Der Anwendungsbereich von § 19c Abs. 1 AufenthG ist ebenfalls nicht eröffnet. Danach kann einem Ausländer unabhängig von einer Qualifikation als Fachkraft eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung erteilt werden, wenn die Beschäftigungsverordnung oder eine zwischenstaatliche Vereinbarung bestimmt, dass der Ausländer zur Ausübung dieser Beschäftigung zugelassen werden kann. Hier kommt allenfalls eine künstlerische Beschäftigung i.S.d. § 25 Nr. 1 1. Alt. BeschV in Betracht.

Die Kammer geht zunächst vom grundgesetzlichen Kunstbegriff in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht aus. Kunst ist danach die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse (der Person) durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden (BVerfG, Beschl. v. 24.02.1971 - 1 BvR 435/68 -, juris Rn. 48, BVerfGE 30, 173, 227; zur Anwendbarkeit der Rechtsprechung im Rahmen von § 25 BeschV vgl. Klaus, in: BeckOK, Ausländerrecht, 35. Ed. 1.10.2022, BeschV § 25 Rn. 7; VGH BW, Beschl. v. 24.08.2000 - 11 S 789/00 -, NVwZ-RR, 2001, 478 [VGH Bayern 15.03.2001 - 10 ZE 01/320], a.A. Bark, in: Offer/Mävers, BeschV, 2. Aufl. 2022, § 25, Rn. 29). Bei der Tätigkeit des Tätowierers kommt nach Überzeugung der Kammer und in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin eine künstlerische Beschäftigung nur in Betracht, wenn die freie schöpferische Gestaltung im Vordergrund steht und die rein handwerkliche Betätigung, so kunstfertig sie auch ausgeführt wird, in den Hintergrund rückt. Das ist nicht abstrakt der Fall (so aber, wenn nicht ganz konsequent, SG Hamburg, Urt. v. 18.06.2020 - S 48 KR 1921/19 -, juris Rn. 48, unter Hinweis auf eine geänderte Verkehrsauffassung). Denn Tätowierungen sind schon nicht immer das Ergebnis einer freien schöpferischen Gestaltung, sondern erschöpfen sich in vielen Fällen in der Übertragung von Typographien, Symbolen oder Zeichnungen Dritter bzw. computergenerierter Zeichnungen durch den Tätowierer auf die Haut des Kunden. Vielmehr kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an (so auch BSG, Urt. v. 28.02.2007 – B 3 KS 2/07 R -, juris Rn. 19). Hier hat der Antragsteller nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass er im Schwerpunkt künstlerisch tätig ist und seine handwerkliche Betätigung bei der Berufsausübung in den Hintergrund rückt. Er hat eine Arbeitsplatzbeschreibung seiner Arbeitgeberin vorgelegt, nach der er sich in einem Onlineseminar mit einem Umfang von 80 Stunden in den Schwerpunkten Erstellen von Motiven und Schablonen, Umsetzung von 3D Designs, Erstellen von Designs mit unterschiedlichen Softwareanwendungen und der Realisierung von unterschiedlichen Stilen (etwa Oriental, Realistic, Stammestätowierungen, Watercolor usw.), Anatomielehre und Dermatologie sowie Farbpigmenten fortgebildet habe. Er sei im Schwerpunkt Designer und befasse sich 75 % seiner Arbeitszeit mit der Unterstützung der Kunden bei der Verwirklichung des Tattoo-Wunsches, während er im Übrigen die Tätowierungen ausführe. Aus dieser Bescheinigung ergibt sich gerade nicht, dass der Antragsteller nicht im Schwerpunkt handwerklich tätig ist. Vielmehr richtet er sich an Kundenwünschen aus, entwickelt ggf. selbst ein Design in diesem Rahmen und setzt dieses technisch um. Besonderheiten des Einzelfalls, die für einen im Schwerpunkt künstlerischen Ausdruck sprechen, sind nicht zu erkennen. Der Antragsteller übt damit einen im Schwerpunkt handwerklichen Beruf aus, der nicht künstlerische Beschäftigung ist.

Auf den Umstand, dass die nach § 25 BeschV erforderliche Vorrangprüfung nicht vorliegt, kommt es nach alledem nicht an.

c) Der Antragsteller hat auch kein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach den Regelungen des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) erworben, das nach § 4 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis begründete. Insbesondere ergibt sich dies nicht aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80. Nach dieser Regelung erwirbt ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung einen Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis beim gleichen Arbeitgeber. Der Antragsteller ist zwar zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mehr als ein Jahr durchgehend bei F. angestellt. Er erfüllt aber die Voraussetzung der „ordnungsgemäßen Beschäftigung“ nicht. Voraussetzung dafür ist eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt des Mitgliedsstaates und damit eine durchgehende Aufenthaltserlaubnis (vgl. Bay. VGH Beschl. v. 18.08.2014 - 10 CS 14.1324 -, juris Rn. 7). Eine solche liegt seit der Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheids nicht mehr vor.

2.

Wegen der getroffenen weiteren Entscheidungen wird auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen. Rechtsfehler sind nicht zu erkennen.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

4.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Ziffern 8.1 und 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11). Danach ist im Rechtsstreit um die Erteilung eines Aufenthaltstitels vom Auffangwert, das heißt 5.000 EUR (vgl. § 52 Abs. 2 GKG), auszugehen. Dieser Wert ist aufgrund der Vorläufigkeit der gerichtlichen Entscheidung zu halbieren. Die in dem streitgegenständlichen Bescheid ausgesprochenen Nebenentscheidungen (Ausreiseaufforderung, Abschiebungsandrohung und befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot) wirken nicht streitwerterhöhend.