Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 29.09.2003, Az.: 2 B 294/03

Aufschüttung; Baugenehmigungspflicht; Bebauungszusammenhang; faktisches Dorfgebiet; Landwirtschaft; Nutzungsuntersagung; Pferdezucht; Reitplatz; Staubemissionen; Wohnnutzung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
29.09.2003
Aktenzeichen
2 B 294/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48539
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 23. Juli 2003 gegen die vom Antragsgegner unter Anordnung der sofortigen Vollziehung mit Bescheid vom 8. Juli 2003 ausgesprochen Untersagung der Nutzung des auf dem antragstellerischen Grundstücks gelegenen Reitplatzes wird wiederhergestellt.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsgegner und der Beigeladene je zur Hälfte; die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1

Der sinngemäß gestellte Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die mit Bescheid des Antragsgegners vom 8. Juli 2003 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ausgesprochene Untersagung der Nutzung des Reitplatzes auf dem antragstellerischen Grundstück wiederherzustellen,

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hat Erfolg.

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Die im Rahmen dieses Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, einstweilen vom Vollzug der angefochtenen Verfügung verschont zu bleiben, und dem Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagung geht zugunsten des Antragstellers aus. Denn die angefochtene Verfügung des Antragsgegners vom 8. Juli 2003 erweist sich bei der in diesem Verfahren allein möglichen aber auch erforderlichen summarischen Rechtmäßigkeitsprüfung als voraussichtlich rechtswidrig. An der sofortigen Vollziehung eines voraussichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht kein überwiegendes öffentliches Interesse.

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Die vom Antragsgegner ausgesprochene Nutzungsuntersagung vermag ihre Rechtsgrundlage nur in § 89 Abs. 1 NBauO zu finden. Dessen Voraussetzungen liegen indes nicht vor.

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Gemäß § 89 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 i.V.m. Satz 1 NBauO kann die Bauaufsichtsbehörde namentlich die Benutzung baulicher Anlagen untersagen, wenn diese Anlagen dem öffentlichen Baurecht widersprechen oder dies zu besorgen ist. Zu Unrecht bejaht der Antragsgegner das Vorliegen dieser Voraussetzungen in dem angefochtenen Bescheid.

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Ein solcher Widerspruch kann nicht in der ungenehmigten Nutzung des Reitplatzes durch den Antragsteller gesehen werden (formelle Baurechtswidrigkeit). Denn bei dem 36m x 15m = 540m2 großen Reitplatz handelt es sich zwar um eine bauliche Anlage im Sinne von § 2 Abs. 1 NBauO, da sie aus Bauprodukten (Kies und Schotter in Höhe von ca. 0,3m) hergestellt ist und auf dem Erdboden ruht. Es liegt aber gemäß § 69 Abs. 1 NBauO i.V.m. Nr. 7.1. der Anlage zu dieser Vorschrift eine baugenehmigungsfreie Anlage vor, da es sich um eine Aufschüttung handelt, die nicht mehr als drei Meter hoch ist und die nicht im Außenbereich liegt.

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Der fragliche Reitplatz liegt innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Ein Bebauungszusammenhang im Sinne dieser Vorschrift ist eine aufeinander folgende Bebauung, die nach der Verkehrsanschauung trotz vorhandener Baulücken den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit vermittelt. Mit diesem Merkmal soll zum Ausdruck gebracht werden, dass das unbebaute Grundstück gedanklich übersprungen werden kann, weil es ein verbindendes Element gibt, nämlich die Verkehrsanschauung, die das unbebaute Grundstück als eine sich zur Bebauung anbietende "Lücke" erscheinen lässt. Auch unbebaute Flächen können danach einem Bebauungszusammenhang zuzurechnen sein. So liegt der Fall hier, wovon sich der Berichterstatter im vor Ort durchgeführten Erörterungstermin überzeugen konnte und wovon auch die Beteiligten übereinstimmend ausgehen:

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Hinter dem antragstellerischen Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Richtung K. liegt der streitgegenständliche Reitplatz, der selbst nicht zur Bebauung im Sinne von § 34 BauGB gehört, da er nicht dem ständigen Aufenthalt von Menschen dient (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.6.1993 -4 C 17.91-, Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 158). Die Nachbargrundstücke, u.a. dasjenige des Beigeladenen, werden in diesem Bereich zum Teil als Grünland, zum Teil als Gartenland für den eigenen Bedarf genutzt. Der Bereich bis zum K. vermittelt zusammen mit der Wohnnutzung den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit, da er der jeweiligen Wohn- und/oder Wirtschaftsnutzung untergeordnet ist. Dieser Eindruck wird nach dem Ergebnis der Augenscheinseinnahme auch nicht durch den K., den jenseits des K. es gelegenen Grünstreifen und die sich daran bis zur weiteren Bebauung anschließende Bahntrasse und die dahinter liegende Straße (L.) verdrängt. Denn dieser Bereich ist insgesamt gesehen mit ca. 30 Metern relativ schmal und nicht eindruckprägend. Die dahinter liegende Wohnbebauung tritt vielmehr deutlich in den Vordergrund und vermittelt insgesamt für das fragliche Gebiet den Eindruck einer geschlossenen Bebauung.

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Mit einer Aufschüttungshöhe von ca. 0,3m ist der im Innenbereich gelegene Reitplatz des Antragstellers damit baugenehmigungsfrei.

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Diese Feststellung hindert den Antragsgegner indes nicht, bauaufsichtsrechtlich nach § 89 NBauO vorzugehen, wenn und soweit solche Anlagen die Anforderungen des öffentlichen Baurechts nicht erfüllen (§ 69 Abs. 6 NBauO, materielle Baurechtswidrigkeit). Der fragliche Reitplatz verstößt jedoch nicht gegen öffentliches Baurecht.

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Zu den Anforderungen des öffentlichen Baurechts gehören hier insbesondere die §§ 30 ff. BauGB, da die vom Antragsteller für seinen Reitplatz vorgenommene Aufschüttung in Anbetracht ihrer Größe von 540m2 und der benachbarten Wohnbebauung geeignet ist, bodenrechtliche Belange im Sinne von § 1 Abs. 5 BauGB zu berühren und es sich mithin um ein Vorhaben im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB handelt (vgl. Schmaltz in: Schrödter, BauGB, § 29 Rdnr. 21).

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Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Reitplatzes seiner Art nach richtet sich nach § 34 Abs. 2 BauGB. Denn nach der vom Berichterstatter vorgenommenen Augenscheinseinnahme entspricht die Eigenart der näheren Umgebung des antragstellerischen Grundstücks einem Dorfgebiet im Sinne von § 5 BauNVO. Es bedarf folglich keiner Prüfung, ob sich das Vorhaben im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 8. Aufl., § 34 Rdnr. 46).

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Gemäß § 5 Abs. 1 BauNVO dienen Dorfgebiete der Unterbringung der Wirtschaftsstellen land- und forstwirtschaftlicher Betriebe, dem Wohnen und der Unterbringung nicht wesentlich störender Gewerbebetriebe, sowie der Versorgung der Bewohner des Gebietes dienenden Handwerksbetrieben. Das "Dorfgebiet" im Sinne der BauNVO kann somit als ländliches Mischgebiet verstanden werden, in der die drei Hauptnutzungen (Land- und Forstwirtschaft, Wohnen und Gewerbe) vom Grundsatz her gleichrangig nebeneinander existenzberechtigt sind (Fickert/Fieseler, BauNVO, 9. Aufl., § 5 Rdnr. 1.3.). Dabei setzt § 5 Abs. 1 BauNVO jedenfalls in einem weitgehend bebauten Gebiet, wie hier, voraus, dass es durch Wirtschaftsstellen landwirtschaftlicher Betriebe mitgeprägt wird (OVG Lüneburg, Urt. v. 5.4.2001 -1 K 2758/00-, Nds. Rpfl. 2001, 378). Zu bedenken ist, dass ein überkommenes Dorfgebiet nicht allein durch allenthalben stattfindende Strukturveränderungen weg von land- und forstwirtschaftlichen Betriebsstellen hin zur Wohnbebauung seinen Gebietscharakter verliert. Erst wenn eine land- oder forstwirtschaftliche Nutzung tatsächlich gar nicht mehr stattfindet oder ein so geringes Ausmaß annimmt, dass sie im Vergleich zur übrigen Nutzung , insbesondere zur Wohn- und Gewerbenutzung, nur noch als "auslaufende" Restnutzung ohne städtebauliches Gewicht erscheint, verliert ein überkommenes Dorfgebiet seine dörfliche Eigenart (vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 5 BauNVO, Rdnr. 8; Fickert/Fieseler, a.a.O., Rdnr. 1.51). Als Wirtschaftsstellen in diesem Sinne sind nicht nur Vollerwerbslandwirte, sondern auch Nebenerwerbslandwirte in den Blick zu nehmen, da der herkömmliche landwirtschaftliche Betrieb auch neben einem anderweitig ausgeübten (Haupt-) Beruf "nebenerwerblich" geführt werden kann (Fickert/Fieseler, a.a.O., Rdnr. 1.43).

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Gemessen an diesen Grundsätzen stellt sich das Gebiet, in dem sich das antragstellerische Grundstück befindet, als Dorfgebiet dar. Neben der landwirtschaftlich betriebenen Pferdezucht des Antragstellers prägt der schräg gegenüber auf der anderen Seite der M. gelegene Hof, auf dem Pferde und Rinder gehalten werden, die Eigenart des Baugebiets mit. Auf die zwischen dem Antragsteller und dem Beigeladenen umstrittene Frage, ob es sich dort um einen Haupt- oder Nebenerwerbslandwirt handelt, kommt es nach dem oben Gesagten nicht an. Neben dieser landwirtschaftlichen Nutzung wird das fragliche Baugebiet nach dem Ergebnis der Augenscheinseinnahme durch Wohnnutzung und nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe (Glaserei, Zeitschriftenhandel und Kolonialwarenladen) und solche Handwerksbetriebe, die der Versorgung der Bewohner des Gebiets (Bäckerei) dienen, geprägt.

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Handelt es sich mithin um ein Dorfgebiet, ist die Anlage eines Reitplatzes durch den Antragsteller gemäß §§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO bauplanungsrechtlich zulässig. Gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO sind in einem Dorfgebiet u.a. Wirtschaftsstellen land- und forstwirtschaftlicher Betriebe zulässig. Der fragliche Reitplatz ist wesentlicher Bestandteil der Betriebsführung des Antragstellers, der eine auf Ponys spezialisierte Pferdezucht betreibt. Hierfür, insbesondere für die Ausbildung junger Tiere, ist es zwingend erforderlich, dass die Pferde ausreichend bewegt und eingeritten werden, damit sie ihre Fähigkeit als Reitpferde erlangen und erhalten können (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 20.5.1992 -1 L 111/91-, BRS 54 Nr. 66, S. 200).

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Der Antragsgegner und der Beigeladene können dem Antragsteller nicht das Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO entgegenhalten. Denn § 5 Abs. 1 Satz 2 BauNVO enthält eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes für Dorfgebiete, die zugunsten des Antragstellers wirkt.

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Danach ist in Dorfgebieten auf die Belange der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe einschließlich ihrer Entwicklungsmöglichkeiten vorrangig Rücksicht zu nehmen. Hieraus folgt, dass derjenige, dessen Wohnbebauung sich in der unmittelbaren Nähe eines bereits bestehenden landwirtschaftlichen Betriebes befindet, regelmäßig mit den für eine Landwirtschaft typischen Immissionen rechnen muss und sich auch nicht darauf verlassen kann, dass es auf Dauer nicht zu stärkeren Belästigungen kommt, als sie bereits bei der Entstehung der Wohnbebauung üblich waren. Auf solche Entwicklungsmöglichkeiten ist jedenfalls dann Rücksicht zu nehmen, wenn sie im Rahmen eines landwirtschaftlichen Betriebes zur Wahrnehmung einer vernünftigen Wirtschaftsführung erfolgen (vgl. zum Ganzen Fickert/Fieseler, a.a.O. Rdnr. 3.2. und Rdnr. 8.6. m.w.N. aus der Rspr.).

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Die Pferdezucht, die der Antragsteller nach eigenen Angaben 1989 begonnen hat und die Anlage des damit zusammenhängenden Reitplatzes Anfang oder Mitte der neunziger Jahre stellt sich insoweit erkennbar als Ausfluss einer vernünftigen Wirtschaftsführung durch den Antragsteller dar. Die Kammer braucht folglich die Frage nicht zu beantworten, ob der Antragsteller oder dessen Rechtsvorgänger schon immer Pferde gezüchtet hat und diese Pferdezucht -möglicherweise auch hinsichtlich der Errichtung eines Reitplatzes- nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen Bestandsschutz genießt.

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Die vom Antragsgegner und vom Beigeladenen ins Feld geführten Lärm- und Staubemissionen, die von dem Reitplatz ausgehen sollen, sind daher -solange sie mit der landwirtschaftlichen Nutzung einhergehen- im Grundsatz hinzunehmen. Sollte der Reitplatz, wie vom Beigeladenen für die Vergangenheit behauptet, daneben zu Freizeitzwecken genutzt werden oder sollte von dort eine unzumutbare und ruhestörende Lärm- oder Staubentwicklung ausgehen, wäre dagegen im Einzelfall bauaufsichtsrechtlich oder im Privatklagewege vorzugehen. Die vom Antragsgegner ausgesprochene vollständige Nutzungsuntersagung entbehrt jedenfalls nach dem Gesagten voraussichtlich der Rechtsgrundlage. Abschließend merkt die Kammer an, dass sie eine nennenswerte Staubentwicklung in Richtung auf das Grundstück des Beigeladenen in Anbetracht der vorherrschenden Winde aus westlichen Richtungen und der Art der Schotterung des Reitplatzes auch nicht für wahrscheinlich hält. Geräusche spielender Kinder bieten daneben unabhängig von der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit einer Anlage grundsätzlich keinen Anlass für ein behördliches Einschreiten.

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Die Kammer enthält sich einer abschließenden Beurteilung der Frage, ob der streitbefangene Reitplatz wasserrechtlich nach § 91a NWG zulässig ist. Hierfür bedarf es gemäß § 91 NWG eines eigenständigen -nach Aktenlage wohl eingeleiteten- Genehmigungsverfahrens, da, wie dargelegt, eine Baugenehmigung nicht erforderlich ist. Der Antragsgegner hat in seiner Antragserwiderung ferner zum Ausdruck gebracht, dass dieser Gesichtspunkt für den angefochtenen Verwaltungsakt nicht entscheidungstragend gewesen sei. Unabhängig davon würde ein etwaiger Verstoß gegen wasserrechtliche Vorschriften die ausgesprochene vollständige Nutzungsuntersagung auch nicht tragen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 3, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO. Dadurch, dass der nicht notwendig Beigeladene beantragt hat, den Antrag des Antragstellers abzuweisen, hat er sich dem Kostenrisiko des § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt. Die Kammer hält es nicht für billig, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen nach § 162 Abs. 3 VwGO für erstattungsfähig zu erklären und damit dem Antragsgegner die Hälfte dieser Kosten aufzubürden. Die Kammer berücksichtigt in diesem Zusammenhang zu Lasten des Beigeladenen, dass das gesamte Verfahren auf sein Drängen hin in Gang gesetzt wurde. Insbesondere das nicht zielführende und äußerst unsachliche Verhalten seines Prozessbevollmächtigten, wie es im Schriftsatz vom 5. Mai 2003 an den Antragsgegner zum Ausdruck kommt, lässt eine Kostenerstattung durch den Antragsgegner nicht als billig erscheinen. Dieses Anwaltsverhalten, das den Antragsgegner ungebührlich unter Handlungszwang gesetzt hat, hat sich der Beigeladene zurechnen zu lassen.

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Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG. Nach dem Streitwertkatalog der Baurechtssenate des Nds. Oberverwaltungsgerichts (Nr. 11 b, Nds. VBl. 2002, 192), den die Kammer im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung anwendet, ist für eine Nutzungsuntersagung, wie hier, der Jahresnutzwert als Streitwert anzusetzen. Diesen schätzt die Kammer auf den tenorierten Betrag von 4.000,00 Euro.