Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 15.09.2010, Az.: 1 Ws 398/10

Heilung von Zustellungsmängeln; Begriff der "Sitzung" i.S. von §§ 176 ff. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG); Ungebühr gegenüber dem Gericht

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
15.09.2010
Aktenzeichen
1 Ws 398/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 26546
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2010:0915.1WS398.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hannover - 04.05.2010 - AZ: 248 Ds 6132 Js 11693/10

Fundstelle

  • NStZ-RR 2011, 45

Amtlicher Leitsatz

Die Unwirksamkeit einer Zustellung wegen Fehlens der gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlichen Zustellungsanordnung des Vorsitzenden wird nicht über § 37 Abs. 1 StPO i.V.m. § 189 ZPO durch tatsächlichen Zugang der Entscheidung geheilt.

Redaktioneller Leitsatz

1. Der Begriff der "Sitzung" im Sinne der §§ 176 ff GVG ist weiter als der der "Verhandlung"; die Sitzung endet erst, wenn das Gericht den Saal nach der Verhandlung verlassen hat.

2. Kommentiert ein Zuschauer die Urteilsbegründung des Gerichts mit den Worten: "Ich habe selten so einen Scheiß gehört", verhält er sich dem Gericht gegenüber ungebührlich.

Tenor:

1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

2. Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Beschwerdeführers als unbegründet verworfen.

Gründe

1

I. Das Amtsgericht Hannover hat in der Sitzung vom 4. Mai 2010 gegen den Zuschauer C. J. wegen Ungebühr ein Ordnungsgeld in Höhe von 150 €, ersatzweise drei Tage Ordnungshaft verhängt. Im Protokoll ist festgehalten, dass der Zuschauer die Urteilsgründe des Vorsitzenden mit den Worten: "Ich habe selten so einen Scheiß gehört", kommentiert und dann den Sitzungssaal verlassen hat.

2

Hiergegen wendet sich der Zuschauer mit seiner sofortigen Beschwerde, die am 20. Juli 2010 beim Amtsgericht eingegangen ist. Er macht neben diversen Ausführungen zur Arbeitsweise der Strafgerichte, zur deutschen Drogenpolitik und zu Rückschlüssen aus der Kleidung eines Zeugen auf dessen Glaubwürdigkeit, die ihn "zu dieser Aussage bewegt haben könnten", geltend, dass eine Missachtung des Gerichts nicht vorliege, weil der Prozess bereits beendet gewesen sei, als er seine "angebliche Aussage" getätigt habe.

3

II. Die gemäß § 181 Abs. 1 GVG statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig erhoben, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

4

1. Die Beschwerdefrist von einer Woche nach Bekanntgabe des Beschlusses (§ 181 Abs. 1 GVG) ist nicht versäumt worden. Die Frist hat gar nicht zu laufen begonnen, weil der Ordnungsgeldbeschluss weder in Anwesenheit des Betroffenen verkündet noch diesem danach wirksam zugestellt worden ist. Hierfür fehlt es schon an der nach § 36 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlichen Anordnung der Zustellung durch den Vorsitzenden. Der Zustellungsmangel ist auch nicht gemäß § 37 Abs. 1 StPO i.V.m. § 189 ZPO durch den tatsächlichen Zugang des Beschlusses geheilt worden. Denn die Heilung von Zustellungsmängeln setzt voraus, dassüberhaupt eine Zustellung beabsichtigt war (vgl. LR-Graalmann-Scheerer, StPO 26. Aufl. § 37 Rn. 95), was hier - mangels Zustellungsanordnung des Vorsitzenden - nicht feststellbar ist.

5

Abgesehen davon wäre dem Betroffenen bei Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren gewesen, weil ihm auch die nach § 35 a StPO vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung nicht erteilt worden ist.

6

2. Die sofortige Beschwerde ist allerdings unbegründet. Die Festsetzung des Ordnungsgeldes gegen den Beschwerdeführer ist nicht zu beanstanden.

7

a) Verfahrensfehler sind nicht festzustellen.

8

Zwar lässt sich das ungebührliche Verhalten nicht den Gründen des angefochtenen Beschlusses entnehmen. Dies führt indes nicht zur Aufhebung des Beschlusses. Ausreichend ist, dass das Protokoll der Hauptverhandlung dem Beschwerdegericht die volle Nachprüfung des Beschlusses ermöglicht (vgl. nur Meyer-Goßner, 53. Aufl. § 182 GVG Rdnr. 4 m. w. Nachw.). Dies ist vorliegend der Fall.

9

Unschädlich ist auch, dass dem Beschwerdeführer vor der Festsetzung des Ordnungsgeldes kein rechtliches Gehör gewährt worden ist. Die vorherige Anhörung des Beschwerdeführers erübrigte sich hier nämlich, weil dieser den Sitzungssaal verlassen hatte, bevor erüberhaupt angehört werden konnte (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Juni 2008 - 1 Ws 292/08 -; LR-Wickern, GVG 25. Aufl., § 178 Rdnr. 35 m. w. Nachw.).

10

b) Die angefochtene Maßnahme leidet auch nicht an einem sachlichen Fehler.

11

Eine Ungebühr im Sinne des § 178 Abs. 1 GVG ist zweifelsfrei gegeben. Die protokollierte Äußerung des Beschwerdeführers stellt einen erheblichen Angriff auf die Ordnung in der Sitzung und auf die Ehre und Würde des Gerichts dar. Die Handlung fand - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - auch in der Sitzung statt. Der Begriff der "Sitzung" im Sinne der §§ 176 ff GVG ist weiter als der der "Verhandlung"; die Sitzung endet erst, wenn das Gericht den Saal nach der Verhandlung verlassen hat (vgl. KK-Diemer, GVG 6. Aufl. § 176 Rn. 2), was hier zum Zeitpunkt der Ungebühr noch nicht geschehen war. Das Gesetz dient nämlich auch dem Zweck, Gerichte davor zu schützen, sich nach dem Ende einer Verhandlung noch im Sitzungssaal schutzlos dem Unflat unzufriedener Zuschauer ausgesetzt zu sehen.

12

Der Beschwerdeführer handelte auch schuldhaft. Seine vorgetragenen Motive sind nicht ansatzweise geeignet, die Ungebühr zu entschuldigen.

13

Schließlich sind auch keine Ermessensfehler im Rahmen der Festsetzung des Ordnungsgeldes ersichtlich. Das Amtsgericht hat zwar das insoweit von ihm auszuübende Ermessen nicht näher begründet. Dies führt jedoch nicht zur Aufhebung der Anordnung. Denn der Senatübt eigenes Ermessen aus (vgl. Senat aaO.; Wickern aaO. Rn. 23) und hält vor dem Hintergrund der Art und Schwere der Ungebühr das verhängte Ordnungsgeld für angemessen.

14

III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil die Vorschriften der §§ 114 ff. ZPO im vorliegenden Fall keine Anwendung finden.

15

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.