Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.07.2008, Az.: 16 K 207/07
Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheides nach Erlass eines Grundlagenbescheides; Änderung des Steuerbescheides bei nachträglicher Erteilung einer Bescheinigung der Landesbehörde
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 17.07.2008
- Aktenzeichen
- 16 K 207/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 22924
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2008:0717.16K207.07.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 20.08.2009 - AZ: V R 25/08
Rechtsgrundlagen
- § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO
- § 4 Nr. 21 a) bb), b) bb) UStG
Fundstellen
- DB 2009, 428
- EFG 2008, 1933-1934 (Volltext mit red. LS u. Anm.)
- NWB direkt 2008, 3
- Jurion-Abstract 2008, 228801 (Zusammenfassung)
Amtlicher Leitsatz
Orientierungssatz: Änderung eines bestandskräftigen Bescheides bei nachträglicher Vorlage einer Bescheinigung gem. § 4 Nr. 21 a) bb) bzw. b) bb) UStG gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO
Tatbestand
Streitig ist die Frage, ob ein bestandskräftiger Steuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden kann.
Der Kläger ist als selbständiger Musiklehrer an der Musikschule H. e.V. tätig. Seine diesbezüglichen Umsätze sind - dies ist zwischen den Verfahrensbeteiligten inzwischen unstreitig - gem. § 4 Nr. 21 b bb) UStG steuerfrei. Die weiteren steuerpflichtigen Umsätze des Klägers betrugen 2003 4.045 EUR und 2004 4.920,- EUR.
Zum Zeitpunkt der Festsetzung der Umsatzsteuer 2004 mit Bescheid vom 19. September 2005 - in diesem Bescheid werden Umsätze in Höhe von 22.187,- EUR in Ansatz gebracht - lag keine ordnungsgemäße Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde im Sinne des § 4 Nr. 21 a) bb) UStG über die Vorbereitung auf einen Beruf vor. Der entsprechende Umsatzsteuerbescheid wurde bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 27. Februar 2006 beantragte der Kläger, den Umsatzsteuerbescheid vom 19. September 2005 gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern, weil die Umsätze steuerfrei seien. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 8. März 2006 ab unter Hinweis darauf, dass einerseits keine Bescheinigung gem. § 4 Nr. 21 a bb) UStG für den Kläger vorliege, andererseits auch nicht die Voraussetzungen der Änderungsvorschrift vorliegen würden. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch ein.
Während des laufenden Einspruchsverfahrens bescheinigte das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur mit Datum vom 27. Juli 2006, dass die Musikschule H. e.V. gem. § 4 Nr. 21 a) bb) UStG unter anderem mit dem Erteilen von Musikunterricht in den Kursen Instrumentenkarussel, Bariton, Posaune, Tenorhorn, Trompete, Tuba, Bläserklassen ab der Unterstufe (Anfänger) durch den Kläger auf einen Beruf (Aufnahmeprüfung an einer Fachhochschule für Musik) oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegenden Prüfung (Abitur) ordnungsgemäß vorbereitet. Die Bescheinigung wird ab dem 1. September 2001 zur Vorlage bei dem zuständigen Finanzamt erteilt. Mit gleichem Datum bescheinigte das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur mit Wirkung ab 1. Januar 2001, dass der vom Kläger als selbständiger Musiklehrer erteilte Musikunterricht in den Kursen Bariton, Posaune, Tenorhorn, Trompete, Tuba ab der Unterstufe (Anfänger) dazu geeignet ist, seine Schüler und Vertragspartner im Sinne des § 4 Nr. 21 a) bb) UStG auf einen Beruf (Aufnahmeprüfung an einer Fachhochschule für Musik) oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen rechts abzulegende Prüfung (Abitur) ordnungsgemäß vorzubereiten.
Einen zunächst auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützten Antrag auf Änderung des Umsatzsteuerbescheides lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 8. März 2006 ab.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch ein, den er nach Erteilung der Bescheinigung des Ministeriums nunmehr auf § 175 AO stützte. Der Beklagte wies den Einspruch zurück.
Der Kläger ist der Auffassung, dass der Umsatzsteuerbescheid 2004 gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern sei, weil es sich bei der Bescheinigung des Ministeriums um einen Grundlagenbescheid handele. Auch Bescheide anderer Behörden, die keine Finanzbehörden sind, könnten Grundlagenbescheide sein, wie von der Rechtsprechung für Schwerbehindertenausweise anerkannt sei. Da die Bescheinigung nach § 4 Nr. 21 a) UStG Tatbestandsmerkmal für die Umsatzsteuerbefreiung sei, komme der Bescheinigung rechtliche Außenwirkung zu. Der Kläger verweist auf Literatur und finanzgerichtliche Entscheidungen, die die entsprechende Bescheinigung der Behörde als Grundlagenbescheid werten. Unproblematisch sei auch eine Rückwirkung des Bescheides.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 8. März 2006 und der Einspruchentscheidung vom 14. Mai 2007 zu verpflichten, den Umsatzsteuerbescheid 2004 vom 19. September 2005 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass eine Änderung des Umsatzsteuerbescheides nicht möglich sei. Zwar sei in § 4 Nr. 21 a bb) UStG vorgesehen, dass die zuständige Landesbehörde die ordnungsgemäße Vorbereitung auf einen Beruf bescheinige. Diese Bescheinigung binde insoweit auch die Finanzbehörden. Ob die Voraussetzungen der Steuerfreiheit im Übrigen vorliegen würden - insbesondere, ob es sich um eine allgemeinbildende oder berufsbildende Einrichtung handele - entscheide die Finanzbehörde jedoch in eigener Zuständigkeit.
Grundlagenbescheide seien nach der Legaldefinition des § 171 Abs. 10 AO alle Feststellungsbescheide, Steuerbescheide und alle anderen Verwaltungsakte, die für die Festsetzung einer Steuer bindend sind. Bindungswirkung habe ein Verwaltungsakt nur, wenn die Bindungswirkung durch Gesetz ausdrücklich angeordnet sei. Zuständigkeitsvorschriften allein oder die allgemeine Verpflichtung der Behörden, die von anderen Verwaltungsbehörden erlassenen Verwaltungsakte zu beachten, reichten für die Annahme eines Grundlagenbescheids nicht aus.
Im Streitfall komme der maßgeblichen Bescheinigung nur insoweit Grundlagencharakter zu, als die Finanzbehörden an die Feststellung gebunden seien, dass eine Einrichtung auf einen Beruf oder auf eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß vorbereite. Eine weitergehende Bindungswirkung, die eine Änderung gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zuließe, entfalte sie nicht.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Der Umsatzsteuerbescheid 2004 vom 19. September 2005 ist aufgrund der Bescheinigung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur vom 27. Juli 2006 zu ändern und der Umsatzsteuerbescheid 2004 aufzuheben.
Materiell-rechtlich sind die an die Musikschule H. e.V. erbrachten Leistungen gem. § 4 Nr. 21 b) bb) UStG steuerfrei. Nach dieser Vorschrift sind die unmittelbar dem Schul- und Bildungszweck dienenden Unterrichtsleistungen selbständiger Lehrer an privaten Schulen und anderen allgemeinbildenden oder berufsbildenden Einrichtungen umsatzsteuerfrei, wenn die zuständige Landesbehörde bescheinigt, dass der Unterricht auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß vorbereitet. Musikschulen stellen allgemeinbildende Einrichtungen dar (BFH Urteil vom 3. Mai 1989 V R 83/84, BStBl. II 1989, 815). Der Kläger hat als selbständiger Lehrer mit seinen Kursen in den Fächern Bariton, Posaune, Tenorhorn, Trompete, Tuba unmittelbar dem Schul- und Bildungszweck der Musikschule dienenden Unterricht erteilt. Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur hat u.a. für das Streitjahr 2004 bescheinigt, dass der Kläger mit seiner selbständigen Unterrichtstätigkeit an der Musikschule Hildesheim e.V. ordnungsgemäß auf einen Beruf vorbereitet.
Da der Kläger mit seinen weiteren nicht steuerbefreiten Umsätzen unterhalb der Umsatzgrenzen für die Anwendung der Kleinunternehmerbesteuerung nach § 19 Abs. 1 UStG liegt und nach § 19 Abs. 3 Nr. 1 UStG die nach § 4 Nr. 21 UStG steuerbefreiten Umsätze aus dem Gesamtumsatz herauszurechnen sind, ist für 2004 keine Umsatzsteuer festzusetzen.
Der bestandskräftige Umsatzsteuerbescheid 2004 vom 19. September 2005 ist aufzuheben.
Eine Änderungsmöglichkeit ergibt sich allerdings nicht aus § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO Danach ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Jedoch gilt nach § 175 Abs. 2 Satz 2 AO die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung nicht als rückwirkendes Ereignis. § 175 Abs. 2 Satz 2 AO ist gem. Art. 97 § 9 Abs. 3 EGAO erstmals anzuwenden, wenn die Bescheinigung oder Bestätigung nach dem 28. Oktober 2004 vorgelegt oder erteilt wird. Da hier die Bescheinigung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur erst am 27. Juli 2006 und damit nach dem Stichtag für die erstmalige Anwendung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO erteilt wurde, kommt eine Änderung wegen eines rückwirkenden Ereignisses nicht in Betracht.
Der Umsatzsteuerbescheid 2004 ist jedoch zu ändern, weil die Bescheinigung des Ministeriums einen Grundlagenbescheid darstellt. Gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen wird. Grundlagenbescheid ist nach der Legaldefinition in § 171 Abs. 10 AO ein Feststellungsbescheid, ein Steuermessbescheid oder ein anderer Verwaltungsakt, der für die Festsetzung der Steuer bindend ist.
§ 4 Nr. 21 a) bb) UStG setzt für die Steuerfreiheit der Umsätze die Erteilung einer Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde über die ordnungsgemäße Vorbereitung auf einen Beruf voraus. Diese Bescheinigung bindet im Umfang der durch diese Vorschrift geregelten Aussage die Finanzbehörden (BFH Urteil 3. Mai 1989 V R 83/84, BStBl. II 1989, 815). Es entspricht soweit ersichtlich allgemeiner Auffassung, dass die Bescheinigung im Umfang ihrer Bindungswirkung einen Grundlagenbescheid darstellt (Finanzgericht Saarland, Urteil vom 12. November 1992 1 K 195/92, EFG 1993, 477; Sölch/Ringleb, Kommentar zum UStG, § 4 Nr. 21 Rz. 25; Rau/Dürrwächter, Kommentar zum UStG, § 4 Nr. 21 Rz. 44ff; Offerhaus/Söhn/Lange, Kommentar zum UStG § 4 Nr. 21 Rz. 59; Völkel, UR 1989, 113).
Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass die Bescheinigung der Landesbehörde nur ein Tatbestandsmerkmal des § 4 Nr. 21 UStG darstellt und die Finanzbehörde in eigener Zuständigkeit zu prüfen hat, ob die fragliche Einrichtung allgemein- oder berufsbildend ist. Liegt keine allgemein- oder berufsbildende Einrichtung vor, ist der Steuerbescheid trotz Vorlage einer Bescheinigung der Landesbehörde nicht zu ändern. Der weiteren Folgerung des Beklagten daraus, dass nämlich eine Änderung des Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht in Betracht komme, weil der Grundlagenbescheid nicht Bindungswirkung hinsichtlich sämtlicher Tatbestandsmerkmale der Steuerbefreiungsvorschrift entfalte, kann sich das Gericht indes nicht anschließen. Diese einschränkende Auslegung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO findet in dessen Wortlaut keinen Anhalt. Sie entspricht auch nicht gängiger Rechtspraxis. So hat beispielsweise bei der Einkommensteuer das Wohnsitzfinanzamt, dem das Betriebsstättenfinanzamt gem. § 180 Abs. 1 Nr. 2 b) AO die gesondert festgestellten Einkünfte aus Gewerbebetrieb mitteilt, vor Auswertung der Mitteilung in eigener Kompetenz zu prüfen, ob der Steuerpflichtige im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese eigene Prüfungskompetenz stellt aber nicht in Frage, dass eine Änderungsbefugnis nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO besteht.
Auch Literatur und Rechtsprechung, soweit sie sich im Falle des § 4 Nr. 21 UStG zu der Problematik der Änderung des Steuerbescheides bei nachträglicher Erteilung einer Bescheinigung der Landesbehörde äußern, gehen davon aus, dass § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO einschlägig ist (FG Düsseldorf, Urteil vom 24. November 2006 1 K 530/03 U, EFG 2007, 462; FG Saarland, Urteil vom 12. November 1992 1 K 195/92, EFG 1993, 477; Offerhaus/Söhn/Lange, Kommentar zum UStG § 4 Nr. 21 Rz. 21; Völkel, UR 1989, 113). Im Ergebnis ist der Umsatzsteuerbescheid 2004 deshalb aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).
Das Gericht lässt die Revision gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zu. Der BFH hat es in seinem Urteil vom 24. Januar 2008 V R 3/05, BFH/NV 2008, 1078) dahinstehen lassen, ob der Steuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 oder § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern war, weil im Urteilsfall die § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO entgegenstehende Regelung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO noch nicht Anwendung fand. Ob § 175 Nr. 1 AO einschlägig ist, ist nunmehr entscheidungserheblich geworden; die Frage hat grundsätzliche Bedeutung.