Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 22.09.2005, Az.: 1 B 1699/05
Entziehung der Fahrerlaubnis; Zulässigkeit der Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU); Vorliegen wiederholter Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss ; Verwertbarkeit eines zwei Jahre zurückliegenden Verstoßes; Anordnung einer MPU auf Grund des negativen Ergebnisses einer rechtswidrig angeordneten Untersuchung
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 22.09.2005
- Aktenzeichen
- 1 B 1699/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 21835
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2005:0922.1B1699.05.0A
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 5 VwGO
- § 13 Nr. 2a, 2b FeV
- § 29 Abs. 1 StVG
Fundstelle
- VRR 2006, 116-117 (Volltext mit red. LS u. Anm.)
Verfahrensgegenstand
Entziehung der Fahrerlaubnis
hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
Das Verwaltungsgericht Stade - 1. Kammer - hat
am 22. September 2005
beschlossen:
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26. August 2005 gerichteten Klage vom 7. September 2005 wird mit der Maßgabe wiederhergestellt, dass der Antragstellerin aufgegeben wird, binnen zwei Monaten ein weiteres medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Parteien je zur Hälfte
Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz dagegen, dass der Antragsgegner ihr mit sofortiger Wirkung die Fahrerlaubnis entzogen hat.
Gegen die Antragstellerin ist ein Bußgeldbescheid ergangen, in dem ein Fahrverbot für einen Monat angeordnet wurde, weil sie am 24. Mai 2002 ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr mit einer Atemalkoholkonzentration von 0,29 mg/l geführt hatte. Wegen einer weiteren Zuwiderhandlung wurde im Rahmen eines Bußgeldbescheides wiederum ein Monat währendes Fahrverbot ausgesprochen, weil die Antragstellerin am 6. März 2005 ein Kraftfahrzeug mit einer Atemalkoholkonzentration von 0,41 mg/l geführt hat.
Mit Schreiben vom 22. April 2005 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin auf, ein Gutachten beizubringen, in dem zu der Frage Stellung genommen werden sollte, ob zu erwarten sei, dass sie auch zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen würde und ob Beeinträchtigungen vorliegen, die das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges der Klasse 3 in Frage stellen. Es bestünden auf Grund der zwei Vorfälle erhebliche Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Nachdem die Antragstellerin nach einigem Schriftverkehr der Begutachtung zustimmte, erstellte der TÜV Nord, Bremen, am 2. August 2005 ein Gutachten. Bei der medizinischen Untersuchung ergab sich, dass die Leberfunktionsproben im Referenzbereich lagen, dass jedoch Auffälligkeiten auf einen früheren Alkoholmissbrauch hindeuteten. Die Abstinenzangabe sei jedoch nicht zu widerlegen, vielmehr seien die Auffälligkeiten als Restsymptome zu bewerten. Bei der Überprüfung der Leistungsfunktionen habe sich jedoch eine deutliche Minderleistung ergeben. Insbesondere sei das Reaktionsverhalten und die Intelligenz schwach. Die Antragstellerin habe bei dem zweiten Vorfall früh morgens neun Stunden nach Trinkende noch 0,41 mg/l Atemalkoholkonzentration gehabt, woraus zu schließen sei, dass am Abend zuvor exzessiv Alkohol konsumiert wurde. Überzeugende Anknüpfungspunkte für die Erwartung, dass die Antragstellerin zukünftig auf der Grundlage gezielter persönlicher Veränderungen ausreichend in der Lage sein würde, erneutes Fahren trotz Alkoholgenusses zu vermeiden, ergäben sich nicht. Auf Grund der Komplexität der vorliegenden Mängel (Leistungsmangel, Intelligenzminderung, Mangel an Einsicht und Verarbeitungstiefe) sei eine hinreichende Korrektur durch die Teilnahme an einem Kurs zur Wiederherstellung der Kraftfahreignung nicht zu erwarten. Abschließend kommen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass zu erwarten sei, dass die Antragstellerin auch künftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde.
Gegen dieses Gutachten hat sich der Prozessbevollmächtigte des Antragstellerin insbesondere mit dem Argument gewandt, diese sei während der Tests einer besonderen Stresssituation ausgesetzt gewesen, der sich nicht gewachsen gewesen sei. Dem sind die Gutachter entgegengetreten, die darstellen, das Testprozedere habe dem üblichen Rahmen entsprochen. Insgesamt hielten sie ihre Bewertung weiterhin aufrecht.
Mit Bescheid vom 26. August 2005 entzog der Antragsgegner der Antragstellerin die Fahrerlaubnis und ordnete die sofortige Vollziehung an, weil dies wegen der besonderen Gefahren für den Straßenverkehr geboten sei.
Am 2. September 2005 hat die Antragstellerin um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Fahrerlaubnisentziehung sei unverhältnismäßig und rechtswidrig. Eine konkrete Gefahr für den öffentlichen Straßenverkehr ginge von der Antragstellerin nicht aus. Die Prognose, dass die Antragstellerin auch künftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde, sei nicht fundiert. Die Leistungstests habe die Antragstellerin im Zustand erheblicher Nervosität erfüllt. Die Antragstellerin fahre ihren Ehemann täglich nach Hemsbünde zur Arbeit und transportiere die Kinder. Darüber hinaus gehe sie drei Nebenerwerbsstellen in Zeven, Elsdorf und Hanstedt nach. Die monatliche Fahrleistung betrage 1.400 km. Mit der Entziehung der Fahrerlaubnis werde ihr und der Familie mit drei Kindern die wirtschaftliche Grundlage entzogen. Der Ehemann verfüge nicht über eine Fahrerlaubnis, er sei seit 20 Jahren bei einer Firma in Hemsbünde beschäftigt. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten durch die Nebenerwerbsstellen seien für die Antragstellerin dringend erforderlich. Dem gegenüber sei eine erhebliche Gefahr kaum zu begründen.
Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26. August 2005 wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragstellerin sei zurzeit zur Führung von Kraftfahrzeugen nicht geeignet, so dass ihr die Fahrerlaubnis zu entziehen war. Die zweimaligen Alkoholfahrten hätten die Zweifel an der Eignung der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen begründet. Das von dieser beigebrachte Gutachten falle für die Antragstellerin negativ aus, so dass die Entziehung der Fahrerlaubnis gerechtfertigt sei. Dem Ehemann der Antragstellerin sei es im Übrigen zuzumuten, eine Fahrgemeinschaft zu bilden, um das Familieneinkommen nicht zu gefährden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Streitakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat mit der sich aus dem Tenor ergebenden Maßgabe, die im Folgenden erläutert wird, Erfolg.
Fraglich ist im vorliegenden Fall bereits, ob der Antragsgegner am 22. April 2005 berechtigt war, die Antragstellerin zur Beibringung eines Gutachtens zur Klärung bestehender Eignungszweifel aufzufordern. Er hat die entsprechende Aufforderung auf § 13 Nr. 2b FeV gestützt. Danach ordnet die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung ihrer Entscheidung die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens an, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden. Nach dem Wortlaut müssen demnach mindestens zwei Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss bekannt und verwertbar (vgl. Bouska/Laeverenz, Fahrerlaubnisrecht, Anm. 3b zu §13 FeV) sein. Im vorliegenden Fall ist es fraglich, ob der am 24. Mai 2002 begangene Verstoß noch verwertbar war. Die Antragstellerin hatte seinerzeit eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 24a StVG begangen, weil sie ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr geführt hatte, obwohl sie 0,29 mg/l Alkohol in der Atemluft hatte. Gemäß § 29 Abs. 1 StVG werden derartige Ordnungswidrigkeiten regelmäßig nach zwei Jahren getilgt, (vgl. Bouska/Laeverenz, Anm. 2 zu § 29 StVG). Danach erscheint es zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 13 Ziffer 2b FeV tatsächlich vorlagen, als die Antragstellerin unbestritten wiederum eine Ordnungswidrigkeit begangen hatte, als sie am 6. März 2005 wiederum ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr führte, obwohl der Atemalkoholgehalt nunmehr 0,41 mg/l betrug. Im Hinblick auf die Bewertung der Ziffer 2b des § 13 FeV muss berücksichtigt werden, dass im Falle einer einmaligen Alkoholauffälligkeit im Straßenverkehr die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens erst bei einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg/l oder mehr gerechtfertigt ist. Es kommt zwar bei der Anwendung der Nummer 2b nicht auf die insgesamt erreichte Punktzahl nach dem Punktesystem des § 4 StVG an, weil § 13 Nr. 2b FeV insoweit eine spezielle Vorschrift ist (OVG Lüneburg, Beschluss vom 22.9.2000, 12 L 3300/00, und Begründung zu § 13 FeV - BR-Drucks. 443/98 S. 260, abgedr. bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, Anm. 1 und 2 zu § 13 FeV), es muss sich aber um mindestens zwei noch verwertbare Ordnungswidrigkeiten handeln, weil anderenfalls die Vorschrift des § 13 Nr. 2c FeV unterlaufen würde, die bei einem einmaligen Verstoß einen höheren Wert voraussetzt. Fraglich erscheint zudem, ob eine Rückrechnung des Atemalkoholwertes von morgens 7.40 Uhr auf einen Blutalkoholwert des vorhergehenden Abends noch zulässig sein kann. Eine Konvertierung erscheint ohnehin bereits bedenklich (vgl. die Nachweise bei Hentschel, a.a.O., Anm. 16 zu § 24b StVG).
Eine darüber noch hinausgehende Rückrechnung erscheint ohne Zugrundelegung einer Blutprobe ausgeschlossen. Das bedarf hier aber keiner abschließenden Entscheidung.
Nachdem die Antragstellerin das Gutachten, wenn auch auf Grund nicht berechtigter Forderung des Antragsgegners beigebracht hat, muss nunmehr berücksichtigt werden, dass dieses Gutachten für sie negativ ausgegangen ist. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Gutachter nach Ansicht der Kammer in der abschließenden Bewertung gezogenen Schluss, dass zu erwarten sei, die Antragstellerin werde auch zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen, nicht absolut überzeugend aus den Ergebnissen ihrer Untersuchung herleiten. Letztlich wird dieser Schluss aus dem Zusammentreffen mehrerer Mängel gezogen. Die nach der Anlage 4 Ziffer 9.1 zu entscheidende Frage, ob ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher von dem Führen von Kraftfahrzeugen getrennt werden kann, ist in dem Gutachten hingegen nur unzureichend belegt.
Andererseits kann von der Kammer nicht vernachlässigt werden, dass jedenfalls nunmehr nach Vorlage dieses Gutachtens erhebliche Zweifel an der Eignung der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen bestehen, so dass spätestens nach Vorlage dieses Gutachtens die Forderung, die Eignungszweifel zu klären, wenn auch gestützt auf § 13 Nr. 2a FeV, gerechtfertigt war. Die Kammer meint daher, dass die Antragstellerin jetzt in den Stand versetzt werden kann, den sie zum Zeitpunkt einer (nunmehr) gerechtfertigten Forderung zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens hatte. Bis zu einer derartigen Vorlage ist es jedoch dem Fahrerlaubnisinhaber regelmäßig gestattet, die Fahrerlaubnis weiter zu nutzen. Daher darf auch die Antragstellerin zunächst weiterhin ein Kraftfahrzeug führen. Dies kann jedoch nur mit der Maßgabe geschehen, dass ihr aufgegeben wird, ein weiteres Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen, das nunmehr zu der Frage Stellung nimmt, ob zu erwarten ist, dass die Antragstellerin zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen wird und ob Beeinträchtigungen vorliegen, die das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges in Frage stellen.
Die Kammer hat bei ihrer Entscheidung berücksichtigt, dass die persönliche Situation der Antragstellerin ohne eine Fahrerlaubnis in erheblichem Umfang angespannt sein wird. Insoweit wird auf den Vortrag des Prozessbevollmächtigten Bezug genommen. Andererseits kann das Risiko, das mit der vorläufigen Erteilung der Fahrerlaubnis eintritt, hingenommen werden, weil zu erwarten ist, dass die Antragstellerin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bis zur Vorlage des Gutachtens - auch unter dem Druck dieses Verfahrens und der ihr nunmehr bewussten Folgen - keinen Alkohol mehr trinken wird. Für die Vorlage des Gutachtens war ihr allerdings eine Frist von zwei Monaten zu setzen. Sofern sie diese nicht einzuhalten in der Lage ist, darf der Antragsgegner auf die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Bei der Kostenentscheidung war zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin bei der gegebenen Sachlage nicht vorbehaltlos obsiegen konnte. Vielmehr wird ihr, zunächst nur zeitlich auf zwei Monate begrenzt, das Recht eingeräumt, weiter von ihrer Fahrerlaubnis Gebrauch zu machen. Dem Beklagten steht es frei, nach Ablauf der eingeräumten Frist einen Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen, wenn die Antragstellerin die Frist nicht positiv nutzt.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52, 53 GKG.
Klinge,
Dr. Drews