Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 27.01.2005, Az.: L 13 VG 5/03
Bestehen eines Anspruchs auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) für Zeiten vor der Antragstellung; Mit List und Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses begangener sexueller Missbrauch von Kindern als Gewalttat; Beginn der Beschädigtenversorgung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.01.2005
- Aktenzeichen
- L 13 VG 5/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 11787
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2005:0127.L13VG5.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 18.08.2003 - AZ: S 27 VG 72/00
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 1 S. 1 OEG
- § 60 Abs. 1 BVG
Redaktioneller Leitsatz
Bei der Beurteilung des Verschuldens an der Antragstellung im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 3 OEG ist ein subjektiver, auf die konkrete Person abgestellter Maßstab anzulegen, wobei insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Antragstellers zu berücksichtigen ist.
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 18. August 2003 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 17. Januar 2000 in der Gestalt des Bescheides vom 12. Juli 2000 und des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2000 sowie des Anerkenntnisses vom 14. Mai 2003 verurteilt, der Klägerin Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H. für den Zeitraum vom 1. Dezember 1994 bis 31. Januar 1998 und nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 v. H. für den Zeitraum vom 1. Februar 1998 bis 30. April 1999 zu zahlen.
Die Beklagte hat die der Klägerin entstandenen außergerichtlichen Kosten zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein Anspruch auf Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz -OEG-) auch für Zeiten vor Mai 1999 (Monat der Antragstellung durch die Klägerin) gegeben ist.
Die am 22. Januar 1967 geborene Klägerin lebte bis Anfang 1976 mit ihrer Mutter und ihrem 1969 geborenen Bruder im Hause ihrer Großeltern in der Türkei. Der 1941 geborene Vater der Klägerin hielt sich nach der Geburt der Klägerin überwiegend in anderen Orten der Türkei auf und arbeitete ab 1969 in der Bundesrepublik Deutschland. Von Mai 1976 bis Oktober 1990 lebte die Klägerin mit beiden Elternteilen in Deutschland. Während dieses Zeitraums kam es fortwährend zu verschiedenartigen sexuellen Übergriffen des Vaters gegenüber der Klägerin, ab 1988 auch gegenüber der 1977 geborenen jüngeren Schwester der Klägerin. Auf Betreiben der Klägerin sind diese selbst, ihre jüngere Schwester und ihre Mutter im Oktober 1990 aus der Familienwohnung ausgezogen. Die jüngere Schwester und die Mutter der Klägerin hielten sich für vier Monate in der Türkei auf, die Klägerin lebte unter Geheimhaltung ihres Aufenthaltsorts in bzw. in der Umgebung von Bremen. Nachdem die jüngere Schwester und die Mutter Anfang 1991 nach Deutschland zurückgekehrt waren und dort mehrfach durch den Vater der Klägerin bedroht wurden, entschloss sich die Klägerin im Frühjahr 1991 zur Anzeige bei der Kriminalpolizei. Der Vater der Klägerin wurde daraufhin am 7. Juni 1991 festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht.
Durch Urteil einer Jugendkammer des Landgerichts Bremen vom 2. April 1992 (16 KLs 430 Js 19247/91) ist der Vater der Klägerin wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen sowie wegen sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt worden.
Die Klägerin erlernte, nachdem sie den Realschul-Abschluss erreicht hatte, von Februar 1984 bis Januar 1987 den Beruf einer Bürokauffrau. Anschließend war sie bis 1990 als Arbeiterin tätig, von 1990 bis 1995 arbeitete sie als Bürokauffrau. Im Juni 1996 nahm sie eine Tätigkeit als Fluggastkontrolleurin auf. In der Zeit vom 27. Februar 1995 bis September 1999 kam es nach den Aufzeichnungen der Krankenkasse immer wieder zu mehrwöchigen bzw. -monatigen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit auf Grund psychischer Gesundheitsstörungen, ab Februar 1998 bestand dauernde Arbeitsunfähigkeit.
Nachdem im Jahre 1994 ihr Vater - für die Klägerin unerwartet - aus der Haft entlassen und in die Türkei abgeschoben wurde, traten bei der Klägerin erhebliche Angstgefühle wegen möglicher Racheakte ihres Vaters auf. Anschließend berichtete die Klägerin gegenüber einer Ärztin für Allgemeinmedizin über die Probleme in ihrer Lebenssituation. Ende 1994 nahm die Klägerin Kontakt zu der Beratungsstelle "Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.V." auf. Ab Dezember 1994 hatte sie Kontakt zur psychologischen Beratungsstelle des Zentralkrankenhauses (ZKH) G. und wurde dort bis Juni 1998 durch die Dipl.-Psychologin H. behandelt. Ferner fanden mehrere stationäre Heilverfahren in der Psychosomatischen Abteilung der I. -Klinik, J., statt, so vom 8. November bis 20. Dezember 1995, vom 3. Juli bis 28. August 1996, vom 25. Februar bis 8. April 1998 und vom 31. März bis 26. Mai 1999.
Im April 1998 stellte sie bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) Oldenburg-Bremen einen Antrag auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, wobei sie auf die Frage nach den zugrunde liegenden Gesundheitsstörungen angab, sie könne dies nicht gut formulieren. Seit 1. Mai 1999 bezieht die Klägerin eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die durch Bescheid der LVA vom 1. September 2004 zuletzt bis 30. November 2006 verlängert wurde.
Im April 1997 stellte die Klägerin einen Antrag auf die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft. Mit Bescheid vom 10. Juli 1997 stellte die Beklagte einen Grad der Behinderung von 50 wegen des Vorliegens einer Depression fest.
Während des in der Zeit vom 31. März bis 26. Mai 1999 durchgeführten Heilverfahrens in der I. -Klinik stellte die Klägerin mit Unterstützung einer Sozialberaterin und der in der Psychosomatischen Abteilung der Klinik tätigen Fachärztin für psychotherapeutische Medizin K. einen am 19. Mai 1999 bei der Beklagten eingegangenen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Die Beklagte zog eine Reihe von Unterlagen bei und holte von der Neurologin/Psychiaterin Dr. L. ein Gutachten vom 18. November 1999 ein. Die Gutachterin diagnostizierte eine auf den geschilderten fortgesetzten Übergriffen beruhende posttraumatische Belastungsstörung, verbunden mit einer deutlichen depressiven Verstimmung, im Sinne einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte sie auf 60 v. H. ein. Nachdem die Ärztin M. einen versorgungsärztlichen Prüfungsvermerk abgegeben hatte, erließ die Beklagte einen Erstanerkennungsbescheid vom 17. Januar 2000. Mit diesem erkannte sie als Schädigungsfolgen "posttraumatische Belastungsstörungen nach langjähriger Gewalterfahrung und langjähriger sexueller Traumatisierung" an und bewilligte Grundrente nach einer MdE von 60 v. H. ab 1. Mai 1999.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend, Leistungen stünden ihr bereits für einen wesentlich früheren Zeitraum zu, da die Schädigung bis in das Jahr 1976 zurückgereicht habe. Eine frühere Antragstellung sei ihr aus schädigungsbedingten Gründen nicht möglich gewesen. Die MdE sei auf Grund der schweren sozialen Anpassungsstörungen auf mehr als 60 v. H. einzuschätzen.
Dazu nahm die Ärztin Dr. N. unter dem 25. Juli 2000 Stellung. Sie vertrat die Auffassung, eine Antragstellung nach dem OEG sei bereits 1990 möglich gewesen, da die Klägerin in diesem Jahr von zu Hause ausgezogen sei, sich dem Zugriff des Vaters entzogen und eine Strafanzeige gegen ihn erstattet habe. Im Übrigen liege eine schwere soziale Anpassungsschwierigkeit nicht vor, da die Klägerin immerhin in der ihr verbliebenen Familie sozial integriert sei. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 7. November 2000 zurückgewiesen. Zur Begründung gab die Beklagte hinsichtlich des Beginns des Versorgungsanspruchs die in der versorgungsärztlichen Stellungnahme aufgeführten Gesichtspunkte wieder und führte ergänzend aus, auch die Antragstellung nach dem Schwerbehindertengesetz im April 1997 spreche dagegen, dass sie einen Antrag nach dem OEG nicht vor Mai 1999 habe stellen können.
Während des Widerspruchsverfahrens gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Juli 2000 Versorgung nach einer MdE von 70 v. H. ab Mai 1999 unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit, ferner Berufsschadensausgleich und Ausgleichsrente. Wegen der Höhe des Berufsschadensausgleichs wurde Widerspruch eingelegt, der mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 2001 zurückgewiesen wurde; insoweit ist beim Sozialgericht (SG) Bremen noch ein Rechtsstreit anhängig (S 27 V 22/01).
Die Klägerin hat am 14. Dezember 2000 Klage beim SG Bremen erhoben. Sie hat den Entlassungsbericht der I. -Klinik vom 6. Januar 2001 über eine in der Zeit vom 1. November bis 13. Dezember 2000 durchgeführte stationäre Therapie, eine Bescheinigung der Nervenärztin Dr. O. vom 22. März 2001 und eine Stellungnahme der Psychotherapeutin K. vom 22. Juni 2001 eingereicht. Die Psychotherapeutin K. hat in ihrer Stellungnahme angegeben, die Klägerin sei im Jahre 1999 zum dritten Mal in ihrer stationären psychotherapeutischen Behandlung gewesen. Ihr sei es nicht möglich gewesen, zu einem früheren Zeitpunkt Angaben, wie sie im Verfahren nach dem OEG gefordert seien, zu machen. Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin u.a. ausgeführt, sie sei ohne ihr Verschulden an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen. Auf Grund ihrer erheblichen psychischen Beeinträchtigungen sei es ihr viele Jahre lang nicht möglich gewesen, sich mit den traumatischen Geschehnissen in ihrer Kindheits- und Jugendzeit auseinanderzusetzen.
Die Beklagte hat sich zur Erwiderung auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Sozialmedizinerin Dr. P. vom 15. Mai 2001 berufen. Darin wird ausgeführt, die Erstattung der Strafanzeige im Jahre 1990 sei ohne Konfrontation und Auseinandersetzung mit der zugrunde liegenden Tat und dem Täter nicht denkbar. Auch der Strafprozess sei mit der Schilderung der sexuellen Gewalttaten verbunden gewesen.
Das SG hat Befundberichte von der Psychiaterin Q. und der Psychotherapeutin Dr. O. vom 23. Juli 2001 angefordert. Letztere hat u.a. angegeben, auf Grund einer für die Klägerin notwendigen Vermeidenshaltung, die ihrem willentlichen Einfluss nicht unterlegen habe, habe sie den Antrag nach dem OEG erst 1999 mit intensiver Unterstützung während der stationären Behandlung stellen können. Im Auftrag des SG hat ferner die Neurologin/Psychiaterin Dr. R. mit der Ärztin S. ein Gutachten vom 13. Mai 2002 erstattet. Darin wird es als möglich angesehen, dass die Klägerin aus nachvollziehbaren erkrankungs- und schädigungsbedingten Gründen ohne ihr Verschulden vor Mai 1999 gehindert gewesen sei, einen Antrag nach dem OEG zu stellen. Die Strafanzeige im Jahre 1990 habe sie angesichts einer akuten Bedrohung der Familie gestellt. In den Jahren 1996 bis 1999 habe sie zwar unter Problemen als Familienoberhaupt fungiert, sich mit der Rolle als Opfer aber nicht identifizieren können, um eine psychische Dekompensation abzuwehren. Die (medizinische) MdE betrage 70 v. H. Auf Ersuchen des SG unter Hinweis auf "den Lebenslauf und die beruflichen Tätigkeiten der Klägerin" haben die Gutachterinnen Dr. R. /S. eine erläuternde Stellungnahme vom 21. August 2002 abgegeben. Darin wird ausgeführt, bis zum Mai 1999 habe weder eine solch schwere posttraumatische Belastungsstörung noch solch eine schwere Depression oder eine andere psychiatrische Erkrankung in solch einem Ausmaß vorgelegen, dass die Klägerin aus erkrankungsbedingten Gründen gehindert gewesen sei, einen Antrag auf Entschädigung nach dem OEG zu stellen. In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 31. März 2003 haben Frau Dr. R. in Zusammenarbeit mit der Neurologin/Psychiaterin Dr. T. ihre bereits in dem Gutachten vom 13. Mai 2002 enthaltene Einschätzung erläutert, dass die MdE wegen der zwischenzeitlich zusätzlich aufgetretenen Somatisierungsstörung und Essstörung mit 70 v. H. einzuschätzen sei.
Mit Schreiben vom 14. Mai 2003 gab die Beklagte daraufhin ein Anerkenntnis dahingehend ab, dass ab Mai 1999 Versorgung nach einer MdE von 80 v. H. (unter Erhöhung der MdE von 70 v. H. um 10 v. H. wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) gewährt werden sollte. Dieses Anerkenntnis wurde von der Klägerin als Teil-Anerkenntnis angenommen.
Mit Urteil vom 18. August 2003 hat das SG die Klage, die sich nur noch auf Versorgung für den Zeitraum vor Mai 1999 bezog, abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, an einer früheren Antragstellung nach dem OEG sei die Klägerin nicht ohne ihr Verschulden gehindert gewesen, auch wenn sie aus schädigungsbedingten Gründen Hemmungen gehabt habe, ihre Rolle als Opfer anzunehmen. Immerhin sei sie noch viele Jahre lang in der Lage gewesen, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
Gegen dieses ihr am 2. Oktober 2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17. Oktober 2003 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Sie hat den Entlassungsbericht der I. -Klinik vom 10. Oktober 2002, Bescheinigungen von Frau Dr. Q. vom 11. August 2004 und von Frau Dr. O. vom 12. August 2004 sowie Aufzeichnungen der Krankenkasse über Zeiten der Arbeitsunfähigkeit in dem Zeitraum vom 27. Februar 1995 bis 9. September 1999 zur Akte gereicht. Zur Begründung trägt sie vor, im Mittelpunkt eines Verfahrens nach dem OEG stünden die langfristigen Folgen der Taten ihres Vaters für sie selbst. Sie sei in diesem Zusammenhang gezwungen gewesen, sich mit den Misshandlungen und den daraus resultierenden Gesundheitsstörungen zu konfrontieren. Demgegenüber habe der Schwerpunkt der Strafanzeige und des Strafverfahrens auf den Handlungen des Täters gelegen; Motiv für die Anzeigeerstattung sei der Schutz ihrer Angehörigen gewesen. Für sie sei es ferner auch leichter gewesen, im April 1997 einen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz zu stellen, da sie sich wegen des Finalitätsprinzips dabei nicht habe mit den Ursachen für ihre Beeinträchtigungen auseinandersetzen müssen; außerdem hätte die Beklagte seinerzeit hinsichtlich eines Antrags nach dem OEG beraten müssen, was einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch für Leistungen ab April 1997 nach sich ziehen könne. Im Übrigen spreche der Umfang der durch die (vorgelegten) Aufzeichnungen der Krankenkasse belegten Ausfallzeiten dafür, dass schon vor 1999 eine besondere berufliche Betroffenheit bei ihr vorgelegen habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 18. August 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 17. Januar 2000 in der Gestalt des Bescheides vom 12. Juli 2000 und des Widerspruchsbescheides vom 7. November 2000 sowie des Anerkenntnisses vom 14. Mai 2003 zu verurteilen, der Klägerin Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v. H. für den Zeitraum vom 1. Dezember 1994 bis zum 31. Januar 1998 und in Höhe von 80 v. H. für den Zeitraum vom 1. Februar 1998 bis 30. April 1999 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt zur Erwiderung vor, angesichts der durch die Klägerin seit 1990 an den Tag gelegten Aktivitäten sei es nicht überzeugend, dass eine Antragstellung nach dem OEG erst 1999 möglich gewesen sein solle; im Antragsformular würden nur vergleichsweise wenige Angaben verlangt.
Das Gericht hat von der Neurologin/Psychiaterin Dr. L. ein Aktengutachten vom 8. November 2004 eingeholt. Die Sachverständige gibt an, ab Dezember 1994 habe die Klägerin sicher an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. Für den davor liegenden Zeitraum lägen so wenige Unterlagen vor, dass eine sichere Aussage über krankhafte Störungen und ihre Ausprägung nicht getroffen werden könne. Zwar sei davon auszugehen, dass Traumatisierungen der Art, wie sie die Klägerin erlitten habe, an Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorbeigingen, sondern zu reaktiven depressiven Erkrankungen führen könnten. Die Reaktionen seien aber individuell unterschiedlich. Vor Dezember 1994 sei ein eventuelles Krankheitsbild nicht ausreichend durch Ärzte bzw. Psychotherapeuten dokumentiert. Eine Verschlimmerung sei sodann im Zusammenhang mit der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit ab 25. Februar 1998 anzunehmen. Ab diesem Zeitpunkt sei auch die Berentung eingeleitet worden. Die MdE für die posttraumatische Belastungsstörung, die Somatisierungsstörung und die Essstörung sei bis zum 24. Februar 1998 mit 60 v. H., ab 25. Februar 1998 mit 70 v. H. einzuschätzen.
Das Gericht hat die Akte der Beklagten nach dem OEG - Grundlagen-Nr. 620145 - beigezogen. Der Inhalt dieser Akte und der Prozessakte - L 13 VG 5/03, S 27 VG 72/00 - ist zum Gegenstand der Beratung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Berufung ist zulässig und auch begründet. Die Klägerin hat auch für die Zeit von Dezember 1994 bis April 1999 einen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG. Die entgegenstehenden Bescheide der Beklagten waren daher zu ändern und das Urteil des SG Bremen war aufzuheben.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhalten Opfer von Gewalttaten wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin Opfer von Gewalttaten nach dem OEG geworden ist; eine Gewalttat in diesem Sinne kann auch ein sexueller Missbrauch von Kindern sein, der nicht im eigentlichen Sinne gewaltsam, sondern mit List und unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses begangen worden ist (s. BSG vom 18.10.1995, BSGE 77, 7).
Nach § 60 Abs. 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat (Satz 1). Die Versorgung ist auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird (Satz 2). War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung (Satz 3). Die Verwaltungsvorschrift Nr. 3 zu § 60 führt dazu Folgendes aus: "Ein Verschulden im Sinne des Abs. 1 Satz 3 liegt nicht vor, wenn der Beschädigte die ihm gebotene und nach den gesamten Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein subjektiver, auf die konkrete Person abgestellter Maßstab anzulegen." Insbesondere sind der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Antragstellers zu berücksichtigen (BSG vom 15.08.2000, SozR 3-3100 § 60 Nr. 3).
Zur Überzeugung des Gerichts war die Klägerin auf Grund der bei ihr gegebenen subjektiven Verhältnisse unter Berücksichtigung der ihr zumutbaren Sorgfalt vor Mai 1999 ohne ihr Verschulden an der Antragstellung nach dem OEG verhindert. Besondere Bedeutung kommt bei der Beurteilung der subjektiven Situation der Klägerin den Angaben der Psychotherapeutin K. zu, in deren stationärer Behandlung sich die Klägerin in der Zeit vom 31. März bis 25. Mai 1999 bereits zum dritten Mal befunden hatte. In ihrer Stellungnahme vom 22. Juni 2001 gibt diese Ärztin an, eine gewisse seelische Stabilisierung, die der Klägerin eine Konfrontation mit ihren traumatischen Erlebnissen ermöglichte, sei erst während des Aufenthalts in der I. -Klinik im Jahre 1999 eingetreten. Auch im Mai 1999 war die Antragstellung nach dem OEG offenbar mit erheblichen Belastungen für die Klägerin verbunden. Dies ist den Angaben der Psychotherapeutin K. in der Stellungnahme vom 22. Juni 2001 ebenfalls zu entnehmen, da danach die Antragstellung nur mit intensiver Betreuung durch die Sozialberaterin der Abteilung und ihrer (der Psychotherapeutin) psychotherapeutischen Unterstützung mit zahlreichen Kriseninterventionen und der Einnahme beruhigender Medikamente möglich gewesen ist. Als Grund für diese erheblichen Schwierigkeiten der Klägerin wird in der Stellungnahme ein charakteristisches Symptom posttraumatischer Belastungsstörungen, nämlich ein ausgeprägtes Vermeiden der traumatischen Erinnerungen und das Meiden von auslösenden Situationen, angegeben. Die Einschätzung der Psychotherapeutin der I. -Klinik wird unterstrichen durch die Ausführungen der ambulant behandelnden Psychotherapeutin Dr. O. in ihrem Befundbericht vom 23. Juli 2001. Diese hat mitgeteilt, die Klägerin sei im Jahre 1995 zwar in der Lage gewesen zu arbeiten. Auf Grund der traumatischen Erfahrungen sei es ihr aber nicht möglich gewesen, sich um Belange zu kümmern, die sie an die Gewalterfahrungen durch den Vater erinnert hätten und einen Antrag auf Entschädigung nach dem OEG zu stellen. Auch Frau Dr. O. hebt in dem Zusammenhang den Mechanismus der Vermeidung hervor, der dem willentlichen Einfluss der Klägerin nicht unterlegen, sondern vielmehr der Bewältigung der Traumatisierung gedient habe. Diese Therapeutin der Klägerin betont ferner, dass durch die besonders intensive Betreuung während des stationären Aufenthalts die erheblichen Probleme beim Ausfüllen des Antrags, nämlich Anspannung, Angst und Alpträume, hätten aufgefangen werden können. Ferner haben die Gutachterinnen Dr. R. /S. in ihrem Gutachten vom 13. Mai 2002 nachvollziehbar dargelegt, die Schwere der erlebten Traumata lasse es psychodynamisch nachvollziehbar erscheinen, dass die Klägerin besondere Schwierigkeiten hatte, als Opfer aufzutreten, um für sich eine auf dieser Opferrolle beruhende Sozialleistung zu beantragen. Die Gutachterinnen führen in diesem Zusammenhang ergänzend auch die langen Phasen von Arbeitsunfähigkeit ab 1996 an, die gleichzeitig Ausdruck einer sich verschärfenden psychischen Situation und Auslöser von finanziellen Schwierigkeiten gewesen seien. Die Gutachterinnen geben weiter an, die Klägerin habe bis 1999 versucht, durch Verleugnung des Erlebten und der daraus folgenden Gefühle von Schuld, Scham, Angst und Wut mit den Traumata fertig zu werden. Sie habe sich in diesen Jahren nicht mit der Rolle des Opfers identifizieren können, sondern vielmehr versucht, durch vermehrte Arbeit, Beschäftigung mit ihren Familienangehörigen sowie den Rückzug aus emotionalen Beziehungen eine drohende psychische Dekompensation abzuwehren. Einen Hinweis auf die bis Mai 1999 bei der Klägerin vorherrschende Vermeidungshaltung gibt nach Auffassung des Gerichts im Übrigen auch der Rentenantrag vom 20. April 1998, in welchem sie der Frage, auf Grund welcher Gesundheitsstörungen sie sich für berufs- oder erwerbsunfähig halte, unter Hinweis auf unzureichende Formulierungsfähigkeit ausgewichen ist.
Auf diesem Hintergrund ist es für das Gericht nicht überzeugend, dass die Gutachterinnen Dr. R. /S. in ihrer erläuternden Stellungnahme vom 21. August 2002 ohne nähere Begründung die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin nicht als ausreichend schwer bezeichnet haben, um einer Antragstellung vor Mai 1999 im Wege zu stehen. Auch der Hinweis des SG auf die Ausbildung und anschließende berufliche Tätigkeit der Klägerin erscheint angesichts des rechtlich maßgebenden Umstands, dass ein subjektiver Maßstab anzulegen ist, nicht überzeugend. Das Gleiche gilt für die von Seiten der Beklagten vorgetragene Auffassung, die Strafanzeige im Jahre 1990 und der Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz im Jahre 1997 seien ein Beleg dafür, dass die Klägerin auch den Antrag nach dem OEG bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt hätte stellen können. Auch hier wird nicht die durch mehrere fachärztliche Angaben belegte subjektive Situation der Klägerin berücksichtigt, sondern mehr oder weniger die übliche Handlungsfähigkeit eines nicht oder deutlich weniger psychisch geschädigten Betroffenen zugrunde gelegt.
Der Anspruch auf Versorgung nach dem OEG besteht nach § 60 Abs. 1 BVG - wie seitens der Klägerin im Berufungsverfahren beantragt - ab 1. Dezember 1994. Seit diesem Zeitpunkt liegen bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Somatisierungsstörung und eine Essstörung vor. Diese auf die Gewalttaten im Sinne des OEG zurückzuführenden Gesundheitsstörungen sind nach dem für das Gericht überzeugenden Gutachten der Neurologin/Psychiaterin Dr. L. vom 8. November 2004 unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 60 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 BVG in dem Zeitraum bis 30. Januar 1998 mit einer MdE im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG (so genannte medizinische MdE) von 60 v. H., ab 1. Februar 1998 mit einer MdE von 70 v. H. zu bewerten.
Auf Grund einer besonderen beruflichen Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG ist die Gesamt-MdE aber um jeweils 10 v. H. höher zu bewerten. Eine solche Höherbewertung ab dem Antragsmonat ist nachvollziehbar im Hinblick auf die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit durch die Beklagte selbst bereits mit Bescheid vom 12. Juli 2000 vorgenommen worden. Die Aufzeichnungen der Krankenkasse über die Arbeitsunfähigkeitszeiten ab Februar 1995 belegen aber, dass auch vor Mai 1999 überwiegend schädigungsbedingt eine besondere berufliche Beeinträchtigung bei der Klägerin vorgelegen hat. Der offenkundige Zusammenhang zwischen der Schädigung im Sinne des OEG und den über viele Wochen bzw. Monate dauernden Zeiten der Arbeitsunfähigkeit ergibt sich aus den Diagnosen "reaktive Depressionen, reaktive depressive Verstimmung, traumatische Neurose, andere Angststörung, sexuelle Funktionsstörung, Erschöpfungssyndrom, starke Trauerarbeit und Psychose". Ferner hat auch die Psychotherapeutin Dr. Pahl in ihrem Befundbericht vom 23. Juli 2001 die deutliche Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit im Anschluss an den im Jahre 1994 durchgeführten Strafprozess angesprochen.
Der Anspruch der Klägerin ist im Übrigen nicht in entsprechender Anwendung von § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) auf einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor Beginn des Jahres der Antragstellung begrenzt. Daraus folgt, dass die Klägerin auch für den Monat Dezember 1994 einen Anspruch auf Versorgung hat. Das erkennende Gericht folgt insoweit nicht dem Urteil des SG Koblenz vom 14.03.1994 - S 8 Vi 4/93 -, welches durch das Gericht beigezogen und den Beteiligten zugänglich gemacht worden ist. In dieser Entscheidung ist die Auffassung vertreten worden, § 44 Abs. 4 SGB X sei Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens, wonach laufende Sozialleistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts nur für einen begrenzten Zeitraum nachgezahlt werden sollten, wenn sie rechtswidrig vorenthalten worden seien. Dagegen spricht jedoch, dass die am 1. Januar 1979 in Kraft getretene gesetzliche Regelung des § 60 Abs. S. 3 BVG insbesondere den Belangen von Impf-geschädigten und Opfern von Gewalttaten Rechnung tragen sollte (BSG vom 23.10.1985, SozR 3800 § 1 Nr. 5 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung), ohne dass der Gesetzgeber bei der Einführung des SGB X eine Änderung vorgenommen hat (s. Art. II § 15 (Änderung des BVG) des Gesetzes vom 18.08.1980 (BGBl. I S. 1469) Übergangs- und Schlussvorschriften zum SGB X sowie weitere Änderungen von Gesetzen). Die Belange von Opfern von Gewalttaten können es im Einzelfall aber erforderlich machen, dass die Versorgungsverwaltung Leistungen auch für einen längeren als in § 44 Abs. 4 SGB X vorgesehenen Zeitraum erbringt. Wenn einem solchen längerfristigen Anspruch gewichtige Gründe entgegenstehen, kann dies - was im vorliegenden Verfahren nicht geschehen ist - seitens der Versorgungsverwaltung dadurch geltend gemacht werden, dass sie die Einrede der Verjährung nach § 45 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeine Vorschriften - (SGB I) erhebt; sie hat dabei allerdings Treu und Glauben zu berücksichtigen und eine Ermessensabwägung vorzunehmen (s. z.B. BSG vom 22.10.1996, SozR 3-1200 § 45 Nr. 6).
Nach allem war der Berufung der Klägerin stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Rechtsbehelfe der Klägerin hatten zwar nicht in dem Umfange Erfolg, wie dies seitens der Klägerin zunächst beantragt worden war. Vielmehr hat die Klägerin die zunächst erhobenen Ansprüche für den Zeitraum von 1976 bis November 1994 im Laufe des Verfahrens fallen lassen. Zu berücksichtigen war aber, dass von Seiten der Beklagten sowie des SG hinsichtlich des Vorliegens einer MdE in dem Zeitraum vor Antragstellung im Mai 1999 keine Sachverhaltsaufklärung betrieben worden ist. Ermittlungen dieser Art haben erst im Berufungsverfahren stattgefunden.
Für die Zulassung der Revision lag kein gesetzlicher Grund im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG vor.