Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 16.10.1996, Az.: 20 U 17/96
Streit um die Bemessung eines Schmerzensgeldes nach einer Hundebissverletzung; Anforderungen an die Darlegung der für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Gründe; Besonderes Begründungserfordernis bei einer Abweichung von üblicherweise verhängten Schmerzensgeldern in vergleichbaren Fällen; Höhe von Schmerzensgeldern für Hundebissverletzungen im Gesicht mit - auch entstellenden - dauerhaften Narben
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 16.10.1996
- Aktenzeichen
- 20 U 17/96
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 25054
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1996:1016.20U17.96.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Verden - 19.12.1995 - AZ: 7 O 221/95
Rechtsgrundlage
- § 847 BGB
In dem Rechtsstreit
...
hat der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 2. Oktober 1996
durch
... des Oberlandesgerichts ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung der Klägerin wird das am 19. Dezember 1995 verkündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Verden teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefaßt:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, der Klägerin ein weiteres Schmerzensgeld von 15.000 DM nebst anerkannter 4 % Zinsen seit dem 14. Juli 1995 abzüglich am 20. April 1996 gezahlter 10.000 DM zu zahlen.
Die Kosten des ersten Rechtszuges werden gegeneinander aufgehoben. Von den Kosten der Berufung tragen die Klägerin 3/4 und die Beklagten 1/4 als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschwer der Klägerin: 15.000 DM.
Beschwer der Beklagten: 5.000 DM.
Tatbestand
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 ZPO abgesehen.
Entscheidungsgründe
Die auf den 10.000 DM übersteigenden Betrag des vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeldes beschränkte Berufung hat zum überwiegenden Teil Erfolg. Der Senat hält anstelle des vom Landgericht angenommenen Betrages von 35.000 DM lediglich ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 DM für angemessen, so daß unter Berücksichtigung des vorprozessual gezahlten Betrages von 5.000 DM der Klägerin lediglich weitere 15.000 DM zuzusprechen waren. Darauf waren die mit der Anschlußberufung geltend gemachten und von der Beklagten anerkannten Prozeßzinsen gemäß § 291 BGB zuzuerkennen; den mit der Berufung nicht angefochtenen Teilbetrag von 10.000 DM hat die hinter dem Beklagten stehende Versicherung nach übereinstimmenden Parteivortrag vom 20.04.1996 gezahlt.
Im einzelnen beruht die Entscheidung auf folgenden Gründen:
1.
Die Begründung, mit der das Landgericht ein Schmerzensgeld von 35.000 DM für angemessen gehalten hat, ist - für ein Schmerzensgeld in dieser Höhe - ungewöhnlich knapp ausgefallen. Sie läßt nicht erkennen, daß sich das Landgericht der Anforderungen bewußt gewesen ist, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung an die Darlegung der für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Gründe gestellt werden. Dazu gehört nicht nur die Darlegung der für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen tatsächlichen Umstände. Vielmehr hat ein Gericht, zumal dann, wenn es signifikant die Größenordnung verläßt, in der sich die Schmerzensgelder der Gerichte in vergleichbaren Fällen bewegen, ein deutliches Abweichen von der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen besonders zu begründen. Darauf hat auch der Bundesgerichtshof wiederholt hingewiesen (BGH VersR 1988, 943, 944; VersR 1991, 559, 560 [BGH 19.02.1991 - VI ZR 171/90]; VersR 1992, 1410, 1411 [BGH 16.06.1992 - VI ZR 264/91]). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Den Parteien ist durch vorbereitende Verfügung des Berichterstatters vom 04.09.1996 eine Rechtsprechungsübersicht über Entscheidungen zu Hundebißverletzungen im Gesicht und anderen Gesichtsverletzungen mit dauerhaften Narben nach Maßgabe der bei Hacks u.a., Schmerzensgeldbeträge, 17. Aufl., verzeichneten Entscheidungen zur Verfügung gestellt worden. Daraus ergibt sich, daß Schmerzensgelder für Hundebißverletzungen im Gesicht mit - auch entstellenden - dauerhaften Narben die vom Landgericht angenommene Größenordnung bei weitem nicht erreichen. Dem angefochtenen Urteil läßt sich nicht einmal entnehmen, ob sich das erkennende Gericht dieser signifikanten Abweichung von den üblicherweise verhängten Schmerzensgeldern überhaupt bewußt war. Immerhin hatte das Landgericht allen Anlaß, sich diesem Problem zu stellen. So hat schon im ersten Rechtszuge der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten auf eine nach seiner Behauptung einschlägige Entscheidung der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden hingewiesen, in der dem verletzten Kind für eine Hundebißverletzung 7.500 DM Schmerzensgeld zuerkannt worden sind (5 O 429/94). Es kommt hinzu, daß dieselbe, nämlich die 7. Zivilkammer des Landgerichts Verden nur verhältnismäßig kurze Zeit vor der erstinstanzlichen Entscheidung durch Urteil vom 29.04.1993 - 7 O 14/93 - ein Schmerzensgeld wegen einer Hundebißverletzung in die linke Wange mit vier bis zu 3 cm langen Rißverletzungen in Höhe von ebenfalls 7.500 DM für angemessen gehalten hatte (vgl. Fall Nr. 762 der Tabelle von Hacks - allerdings bei einem fünfjährigen Jungen).
Der Senat bedauert, daß durch diese den üblichen Rahmen sprengende Entscheidung des Landgerichts bei der Klägerin und ihren Eltern eine Erwartungshaltung ausgelöst oder verstärkt worden ist, durch die die jetzige Entscheidung des Senats von ihnen möglicherweise dahin mißverstanden werden könnte, daß der Senat die erheblichen Gesichtsverletzungen der Klägerin etwa als "nicht so schlimm" wie das Landgericht werte. Deshalb sei vorab betont, daß die Herabsetzung des Schmerzensgeldes nicht darauf beruht, daß der Senat etwa in tatsächlicher Hinsicht geringere Verletzungsfolgen als das Landgericht zugrunde legt, sondern vielmehr allein darauf, daß das Schmerzensgeld in den für vergleichbare Fälle bestehenden Rechtsprechungsrahmen einzufügen war; dabei hat der Senat, wie sich aus den folgenden Ausführungen ergeben wird, mit der Zubilligung eines Betrages von 20.000 DM das Schmerzensgeld schon der oberen Grenze des durch vergleichbare Rechtsprechung geprägten Bemessungsrahmens entnommen.
2.
Aufgrund der vorgelegten neueren Portraitfotos, des von der Klägerin vorgelegten dermatologischen Privatgutachtens des Prof. Dr. ... vom 22.08.1996 und aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks von der Klägerin legt der Senat der Schmerzensgeldbemessung folgende Umstände zugrunde:
Die Klägerin ist am 15.08.1994 vom Hund der Beklagten in das Gesicht gebissen worden; dabei kam es zu (zum Teil perforierenden) Verletzungen im Bereich der Oberlippe, des Nasensteges, des Philtrums, des Naseneinganges, der rechten Wange, der Unterlippe und des Halses. Diese Verletzungen wurden in der Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie versorgt; anschließend wurde die Klägerin bis zum 23.08.1994 in der kinderchirurgischen Klinik stationär weiterbehandelt. Jetzt befindet sich bei der altersentsprechend entwickelten Klägerin eine 3,5 cm lange, schmale, teils hyperpigmentierte Narbe in der rechten Nasolabialfalte. Zwischen der rechten Nasenöffnung und der Oberlippe links befindet sich eine weitere, schmale, etwas gerötete, 1,5 cm lange Narbe, die stellenweise ebenfalls etwas fleckig pigmentiert ist. Eine weitere schmale, jedoch hautfarbene Narbe findet sich unterhalb des rechten Ohrläppchens bis submental. Die jetzt 8-jährige Klägerin verspürt zur Zeit keine Narbenschmerzen und keine Behinderung. Die Narben sind jedoch deutlich sichtbar. Der gegenwärtige Zustand stellt den Endzustand dar, eine weitere spontane Besserung ist nicht zu erwarten. Vorläufig wird sich auch durch operative Eingriffe an dem jetzigen Zustand nichts ändern lassen, jedoch wird nach Beendigung des Wachstums der Klägerin ein plastisch-chirurgischer Eingriff mit allerdings nicht sicherem Ausgang zu erwarten sein. Die Narben stellen, obwohl im Verhältnis zur Art der Wunden gut verheilt, eine Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens dar; dieses ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts des Alters der Klägerin noch nicht besonders ausgeprägt, wird aber mit zunehmendem Alter, spätestens zur Pubertät, relevant werden. Die Klägerin ist als Mädchen von der Beeinträchtigung ihres Äußeren durch die sichtbaren Gesichtsnarben deutlich und vor allem auf lange Sicht stärker getroffen als Jungen (für die in vergleichbaren Fällen deutlich niedrigere Schmerzensgelder von 5.000 DM bzw. 7.500 DM auch unter Berücksichtigung späterer kosmetischer Operationen zugebilligt worden sind, vgl. Nrn. 616 und 762 der Schmerzensgeld-Tabelle von Hacks).
Dieser Befund ist im wesentlichen unstreitig. Soweit der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung eine psychische Beeinträchtigung der Klägerin durch die Gesichtsnarben verneint hat, vermag der Senat dem nicht zu folgen: Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung vor dem Senat - ebenso wie bei der Untersuchung vor dem Privatgutachter Prof. Dr. ... - zwar erklärt, durch die Folgen der Bißverletzungen keine Beeinträchtigung zu spüren. Das spricht aber nicht etwa gegen die Annahme einer auf Dauer zu erwartenden Beeinträchtigung, sondern vielmehr im Gegenteil dafür, daß es - glücklicherweise - den Eltern der Klägerin gelungen ist, darauf hinzuwirken, daß die Klägerin die Folgen der erlittenen schweren Bißverletzung fürs erste verarbeitet hat, soweit dies überhaupt möglich ist. Es belegt zudem, daß die Klägerin und ihre Eltern keineswegs dazu neigen, die Folgen der Verletzung aus prozessualen Gründen zu übertreiben. Indessen entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, daß Kinder im Alter der Klägerin gewissermaßen auf Äußerlichkeiten noch keinen Wert legen und deshalb subjektiv durch eine Beeinträchtigung ihres Aussehens sich noch nicht so getroffen fühlen. Es ist aber mit Sicherheit zu erwarten, daß die Klägerin, sobald sie älter wird, wie im allgemeinen alle Mädchen Wert auf gutes Aussehen legen und durch die sichtbaren Narben im Gesicht schwer in ihrem Selbstgefühl beeinträchtigt sein wird, und zwar auch dann, wenn es ihr - hoffentlich - gelingt, diese Beeinträchtigung psychisch zu verarbeiten und - zu gegebener Zeit, nach Abschluß der Wachstumsphase - die optische Beeinträchtigung zu mildern.
3.
Für die eben festgestellten Verletzungen war mit Rücksicht auf Vergleichsfälle ein Betrag von 20.000 DM angemessen. Die höchsten in der genannten Tabelle verzeichneten Beträge für nahezu "deckungsgleiche" Fälle betragen 10.000 DM für das Jahr 1985 (Nr. 858: Hundebiß ins Gesicht eines Mädchens, 4 Tage stationär, zweimaliges Nähen, späterer kosmetischer Eingriff) bzw. 15.000 DM (Nr. 1020: Hundebiß mit Abriß der Unterlippe und der Hautpartie um das Kinn, 3 Wochen stationäre Behandlung, Behandlung mit Hautverpflanzungen, 1,5 Monate nur Flüssignahrung bei einer Frau) für das Jahr 1986. Die objektive Schwere der von der Klägerin erlittenen Verletzungen liegt zwischen diesen beiden Fällen; subjektiv fällt aber vor allem ins Gewicht, daß die Klägerin in der für ihre Entwicklung besonders wichtigen Phase der Pubertät mit Narbenbildung im Gesicht wird leben müssen. Soweit für Jungen vergleichbarer Altersstufe deutlich niedrigere Schmerzensgelder zugebilligt worden, sind (Nr. 616: 5.000 DM im Jahre 1992 bei einem elfjährigen Jungen; Nr. 762: 1993 7.500 DM bei fünfjährigem Jungen) ist zu berücksichtigen, daß nach landläufiger Einstellung nun einmal optische Beeinträchtigungen bei Mädchen deutlich schwerer ins Gewicht fallen als bei Jungen. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß die beiden oben genannten Vergleichsfälle für Hundebißverletzungen im Gesicht mit dauerhaften Narben bei einem Mädchen bzw. einer jungen Frau rund 10 Jahre zurückliegen, erscheint es angemessen, die seinerzeit zugebilligten Schmerzensgelder deutlich zu überschreiten. Deshalb hat der Senat im Ausgangsbetrag ein Schmerzensgeld von 20.000 DM angenommen. Darin ist berücksichtigt, daß sich die Klägerin nach Abschluß der Wachstumsphase noch einer kosmetischen Operation (mit Ungewissem Ausgang) unterziehen wird (im Hinblick auf die Erörterung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat wird vorsorglich darauf hingewiesen, daß Gegenstand des Rechtsstreits allein das Schmerzensgeld ist und nicht materielle Schäden, also auch nicht die Kosten einer etwaigen Folgeoperation).
4.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 93, § 708 Nr. 10, §§ 713, 546 ZPO.