Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 24.07.2002, Az.: 8 A 98/02

Asyl; Asylantragsteller; Asylbewerber; Ausländer; Ersatzzustellung; Fluchtalternative; Gemeinschaftsunterkunft; Inland; inländische Fluchtalternative; politische Verfolgung; Russische Föderation; Tschetschenien; Verfolgung

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
24.07.2002
Aktenzeichen
8 A 98/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43865
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zu den Anforderungen an eine Ersatzzustellung in einer Gemeinschaftsunterkunft.

2. Tschetschenischen Volkszugehörigen steht grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation offen.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Verfahrenskosten;

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

1

Der Kläger ist russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit und gehört der moslemischen Glaubensrichtung an. Er lebte eigenen Angaben zufolge bis zum Sommer 2000 in der Nähe von G., anschließend in dem Dorf A. in Inguschetien, verließ Inguschetien am 22.10.2000 mit einem Lkw und reiste am 30.10.2000 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am selben Tag politisches Asyl beantragte. Für die Reise zahlte er ca. 2000 US-Dollar. Die genaue Reiseroute ist ihm unbekannt.

2

In der am 16.11.2000 durchgeführten Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge begründete er seinen Antrag im Wesentlichen damit, dass er von 1983 bis 1985 in der sowjetischen Armee in der Mongolei und von 1992 bis 1994 als Angestellter für das russische Militär in E. gedient habe und es daher hätte sein können, dass er zum Kriegsdienst herangezogen werde. Im Falle einer Weigerung, Kriegsdienst zu leisten, drohe ihm eine Freiheitsstrafe von 10 bis 15 Jahren. Zudem habe er in seiner Heimat Probleme mit Islamisten, die Bauwerke anzünden oder sie in die Luft sprengen würden. Sie hätten ihm verboten, seine surrealistischen Bilder auszustellen und zu verkaufen. Wegen seiner Zugehörigkeit zur russischen Armee werde er als Verräter angesehen.

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Mit Bescheid vom 15.02.2002 lehnte die Beklagte den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter als offensichtlich unbegründet ab und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorlägen. Auch die Voraussetzungen des § 53 AuslG seien nicht gegeben. Dem Kläger wurde die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht, falls er die Bundesrepublik Deutschland nicht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung verlassen würde. Auf der Postzustellungsurkunde, mit der der Bescheid dem Kläger am 18.02.2002 zugestellt werden sollte, ist vermerkt, dass weder der Empfänger noch ein zur Familie gehörender erwachsener Hausgenosse angetroffen und deswegen die Sendung dem im selben Haus wohnenden Hauswirt/Vermieter übergeben worden sei. Die Urkunde trägt die Unterschrift "P. S." sowie die Unterschrift des Zustellers R. S..

4

Die Beklagte begründete die Ablehnung des Asylantrages im Wesentlichen damit, dass der Kläger über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik eingereist sei. Auf ein Abschiebungshindernis gemäß § 51 Abs. 1 AuslG könne sich der Kläger nicht berufen, da die ihm möglicherweise drohende Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung nicht asylrechtsrelevant sei, weil sie auch russische Wehrpflichtige gleichermaßen treffe. Eine asylrechtsrelevante Ausnahme sei angesichts des drohenden Strafmaßes von bis zu zwei Jahren, der nur in Einzelfällen stattfindenden Ahndung und der Tatsache, dass es sich bei der Wehrdienstentziehung in Russland um ein Massendelikt handele nicht gegeben. Auch wegen seiner tschetschenischen Herkunft müsse der Kläger in der Russischen Föderation keine Verfolgung befürchten, da es für ihn insoweit jedenfalls eine inländische Fluchtalternative gebe.

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Gegen diesen Bescheid hat der Kläger mit Schriftsatz vom 01. März 2002 - bei Gericht eingegangen am 04. März 2002 - Klage erhoben. Zugleich hat er einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt, dem die Kammer mit Beschluss vom 05.03.2002 (Az.: 8 B 99/02) entsprochen hat.

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Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger vor, der Bescheid sei ihm fehlerhaft zugestellt worden, da die Post nicht in seinem Zimmer persönlich, sondern bei der Heimverwaltung abgegeben worden sei. Dies sei das übliche Verfahren. Ein Aushang habe ihn darüber informiert, dass er Post erhalten habe. Diese habe er erst am 28.02.2002 abgeholt. In der Sache habe die Beklagte nicht hinreichend berücksichtigt, dass er bei einer Bestrafung einem Gefängnisaufenthalt und wegen seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit damit möglicher unmenschlicher Behandlung und Folter ausgesetzt sei, da in russischen Gefängnissen nach wie vor gefoltert werde. Auch gebe es bezüglich der von der Beklagten vorausgesetzten inländischen Fluchtalternative keine gesicherten Erkenntnisse. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes beschreibe, dass es auch in anderen Teilen der Russischen Föderation zu willkürlichen Verhaftungen von Tschetschenen komme und deren Zuzug erschwert werde. Laut Internationaler Gesellschaft für Menschenrechte gebe es in Russland keine Gebiete, in denen kaukasische Minderheiten nicht benachteiligt würden. Auch in ländlichen Gebieten und in Städten, in denen die Meldepflicht "Propiska" durch die "Registrza" ersetzt worden sei, komme es amnesty international zufolge zu Übergriffen. Ein konkretes Gebiet oder dessen Erreichbarkeit habe die Beklagte auch nicht benannt. Ergänzend trägt er mit Schriftsatz vom 10.07.2002 erstmals vor, er sei Offizier der russischen Armee gewesen und sei in dieser Funktion bis 1994 in E. stationiert gewesen. Er sei 1994 desertiert und nach Tschetschenien gegangen. Damals hätte er noch fast zwei Jahre dienen müssen, was sich aus seinem Dienstausweis ergebe. Bei einer Abschiebung würde die Desertion bekannt werden, ebenfalls bei einem Registrierungsversuch in Russland. Er sei immer in Tschetschenien registriert gewesen, auch in Inguschetien sei er nicht als Flüchtling gemeldet gewesen. Er habe sich aus Furcht vor Festnahme durch die Russische Armee immer an wechselnden Orten aufgehalten.

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Der Kläger beantragt,

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1. Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15.02.2002 insoweit aufzuheben, als der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde,

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2. die Beklagte unter Aufhebung von Ziffern 2 - 4 des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15.02.2002 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für den Kläger hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen,

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3. hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG vorliegen,

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4. ferner hilfsweise,

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zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger als Tschetschene damit rechnen muss, in Haft mehr als andere Angehörige der Russischen Föderation unmenschlich behandelt und gefoltert zu werden und außerdem für die Fahnenflucht zu einer höheren als der für dieses Delikt vorgesehenen Strafe verurteilt zu werden, ein Sachverständigengutachten einzuholen,

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5. weiter hilfsweise,

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zum Beweis der Tatsache, dass der angefochtene Bescheid fehlerhaft zugestellt worden ist, die Leiterin des Asylbewerberheims, Frau S., als Zeugin zu vernehmen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hält die Klage bereits für unzulässig, da diese erst nach Ablauf der Klagefrist erhoben worden sei und Wiedereinsetzungsgründe nicht ersichtlich seien. Im Übrigen beruft sie sich auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung.

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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zustellers R. S.. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung angehört worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll (Bl. 81 - 86 d. A.) verwiesen.

19

Den Beteiligten ist vom Gericht die Erkenntnismittelliste Russische Föderation zur Verfügung gestellt worden.

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der beigezogenen Ausländerakte verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist bereits unzulässig. Die Klagefrist des § 74 Abs. 1, 2. Fall AsylVfG i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ist durch die Klageerhebung am 4. März 2002 nicht eingehalten worden. Die einwöchige Klagefrist ist durch die Zustellung am 18.02.2002 in Lauf gesetzt worden, so dass die Frist gem. § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 187 ff. BGB am 25.02. 2002 ablief. Die Frist ist in Lauf gesetzt worden, weil die Zustellung am 18.02. 2002 ordnungsgemäß erfolgt ist. Eine Zustellung nach § 10 Abs. 4 AsylVfG, der nur für eine Zustellung in einer Aufnahmeeinrichtung gilt (Marx, AsylVfG, 4. Aufl., § 10, Rn. 66) war zwar nicht möglich, da der Kläger nur bis zum 11.01.2001 in einer solchen Aufnahmeeinrichtung und danach in einem privaten Wohnheim untergebracht war. Die Zustellung ist aber im Wege der Ersatzzustellung gem. § 10 Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 3 Abs. 3 VwZG i.V.m. § 181 Abs. 2 ZPO ordnungsgemäß erfolgt.

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§ 181 Abs. 2 ZPO setzt für eine Ersatzzustellung voraus, dass weder der Empfänger, noch ein in seiner Wohnung lebender erwachsener Hausgenosse angetroffen wird. Dabei ist die Wohnung des Asylbewerbers nicht die Gemeinschaftsunterkunft als solche, sondern das Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft, das ihm zugewiesen wurde und in dem er schläft (BayVGH, Beschluss v. 22.04.2002 - Az. 15 ZB 01.30409). Den Voraussetzungen des § 181 Abs. 2 ZPO ist nicht genüge getan, wenn der Zusteller in einer Gemeinschaftsunterkunft nicht wenigstens den Versuch einer persönlichen Aushändigung des Schriftstücks an den Zustellungsempfänger unternimmt und es statt dessen der Aufsichtsperson direkt übergibt (BayVGH, Beschluss v. 22.04.2002 - Az. 15 ZB 01.30409; BayVGH, Besch. v. 30.10.1996 - 8 AA 95.36894 -, NVwZ-RR 1997, 745 [OVG Nordrhein-Westfalen 02.09.1996 - 25 A 2106/94]; VG Freiburg, Beschl. v. 01.02.1993 - A 1 K 12098/92 -, NVwZ 1993, 808).

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Ob ein möglicherweise fehlender persönlicher Zustellungsversuch für eine fehlerhafte Zustellung überhaupt kausal wäre, da sich der Kläger nach eigener Aussage am 18.02.2002 bei seiner Lebensgefährtin in L. aufhielt, kann dahinstehen. Denn der Zusteller hat einen solchen persönlichen Zustellungsversuch, d.h . den Versuch, den Kläger in seiner "Wohnung" persönlich anzutreffen, zur Überzeugung des Gerichts durchgeführt. Das hat die Beweisaufnahme ergeben. Der Zusteller R. S. hat ausgesagt, dass das Zustellungsverfahren so ablaufe, dass er "normale" Post im Büro des Asylbewerberheims abgebe. Bei Zustellungsurkunden frage er zunächst den Bediensteten, der sich im Büro aufhielte - am 18.02.2002 sei dies die Heimleiterin Frau S. gewesen - ob die betreffende Person im Heim wohne. Wenn dies der Fall sei, sage er der zuständigen Heimleitung, er wolle die Asylbewerber, für die er entsprechende zuzustellende Post habe, sehen. Er ließe der Heimleitung dann Zeit, die Personen in ihren Zimmern aufzusuchen und zu benachrichtigen. Nach ca. 10 Minuten komme er erneut an dem Asylbewerberheim vorbei, um den Personen die Schriftstücke im Büro oder ggfs. auf deren Zimmern auszuhändigen. Erst wenn die Heimleitung ihm mitteile, dass der jeweilige Empfänger nicht anwesend sei, übergebe er das Schriftstück der Heimleitung im Wege der Ersatzzustellung.

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Eine solche Vorgehensweise genügt jedenfalls im vorliegenden Fall den Anforderungen des § 181 Abs. 2 ZPO.

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Ein Antreffen im Sinne der Vorschrift setzt zwar seinem Wortsinn nach voraus, dass der Zusteller durch Aufsuchen der Wohnung des Empfängers ein räumliches Näheverhältnis zu diesem zu begründen versucht, was grundsätzlich erfordert, dass sich der Zusteller zu dem Zimmer des Asylbewerbers begibt und sich dort über seine An- oder Abwesenheit vergewissert. Diesem Vorgehen kann es aber für den zu entscheidenden Fall gleichgestellt werden, dass der Zusteller die Nachforschung über die Anwesenheit des Empfängers gleichsam als Bote einer Person übertragen hat, an die - wie hier - eine Ersatzzustellung vorgenommen werden kann ( vgl. noch weitergehend BFH, Urteil v. 25.01.1994 - VIII R 45/92, der auch eine Auskunft über die Abwesenheit des Zustellungsempfängers durch eine nicht für eine Ersatzzustellung in Betracht kommende Person für einen Antreffensversuch i.S.d. § 181 Abs. 2 ZPO ausreichen läßt). In einem solchen Fall ist dem Zweck des § 181 Abs. 2 ZPO, die Vereinfachung, Beschleunigung und Praktikabilität der Zustellung bei gleichzeitiger Wahrung des Interesses des Zustellungsempfängers an dem unverzüglichen Zugang des zuzustellenden Schriftstücks (Zöller-Stöber, ZPO, 22. Auflage, § 181, Rn. 1) hinreichend genüge getan. Die Heimleitung in einem Asylbewerberheim ist über die jeweilige Belegung der Zimmer und die Wohnsituation - anders als der Zusteller - bestens im Bilde und kann daher zuverlässig und schnell nachprüfen, ob der betreffende Empfänger anzutreffen ist, um das zuzustellende Schriftstück persönlich entgegenzunehmen. Auch wenn es nach Aussage des Zeugen in dem Büro des Heimes einen Kasten mit Kärtchen gab, auf denen Name und Zimmer-Nummer verzeichnet waren, ist es dem Zusteller - anders als der Heimleitung - doch nicht möglich, den betreffenden Empfänger ohne weiteres zu identifizieren und ihn z.B. in anderen Räumlichkeiten des Heimes ausfindig zu machen. Die Heimleitung gehört auch zu den in § 181 Abs. 2 ZPO genannten Personen, an die eine Ersatzzustellung vorgenommen werden kann und steht zu dem Asylbewerber sozusagen von Gesetzes wegen in einer bestimmten Vertrauensstellung. Es ist also in jedem Fall - entweder durch die Benachrichtigung des Empfängers und die persönliche Entgegennahme des Schriftstücks oder, bei vergeblicher Suche, durch die Weitergabe an ihn nach erfolgter Ersatzzustellung - gewährleistet, dass der Zustellungsempfänger seine Post unverzüglich erhält. Für die Wahrung der Interessen des Asylbewerbers kann es keinen Unterschied machen, ob die Heimleitung nach Aufforderung durch den Zusteller die Abwesenheit des Empfängers feststellt und diese dem Zusteller glaubhaft versichert, oder ob dieser - ggf. nach vorheriger Auskunft durch die Heimleitung - dies nochmals persönlich nachprüft.

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Das Problem, dass sich in dem Zimmer des Empfängers möglicherweise noch weitere zur Familie gehörende erwachsene Hausgenossen befinden, an die dann vorrangig ersatzweise zuzustellen wäre und von deren Vorhandensein sich der Zusteller zur Beurteilung der Zustellungsmöglichkeiten in jedem Falle selbst überzeugen muss, wirkt sich im vorliegenden Fall nicht aus, da keine solchen zur Familie gehörenden Hausgenossen im Zimmer des alleinstehenden Klägers lebten.

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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der eidesstattlichen Versicherung der Prozessbevollmächtigten des Klägers. Soweit diese sich auf ein Zeugnis des Hausmeisters des Asylbewerberheims, Herrn S., bezieht, der angab, eine persönliche Zustellung erfolge nie, ist das durch die glaubhafte Aussage des Zeugen S. widerlegt. Dieser hat nämlich bekundet, dass Herr S. immer nur die "normale" Post in Empfang nehme. Daher sei es aus seiner Sicht plausibel zu behaupten, ein persönlicher Zustellungsversuch erfolge nie. Angesichts der Tatsache, dass der Hausmeister nach Aussage des Zeugen S. selten im Büro ist, da ihm als Hausmeister andere Aufgaben obliegen, vermag das Gericht einen Widerspruch zwischen der Aussage des Zeugen und der gegenüber der Prozessbevollmächtigten des Klägers gemachten Auskunft des Herrn S. nicht zu erkennen.

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Dem in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisantrag, die Leiterin des Heimes, Frau S., zu der "Fehlerhaftigkeit" der Zustellung zu vernehmen, muss das Gericht nicht weiter nachgehen. Die Frage der Fehlerhaftigkeit der Zustellung ist keine dem Beweis zugängliche bestimmte Tatsache, sondern eine Rechtsfrage, über die das Gericht zu entscheiden hat.

29

Der Klageantrag zu 1) ist darüber hinaus auch deswegen unzulässig, weil ihm das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Der Antrag ist gemäß § 88 VwGO so zu verstehen, dass der Kläger sein Asylbegehren nicht weiter verfolgt, sondern sich ausschließlich gegen die Ablehnung seines Asylantrages als offensichtlich unbegründet wendet. Die insoweit vorliegende isolierte Anfechtungsklage ist unzulässig. Eine solche ist nur unter engen Voraussetzungen ausnahmsweise zulässig (Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 42, Rn. 30). Die für den vorliegenden Fall einzig denkbare Ausnahme, dass die Ablehnung des beantragten Verwaltungsakts über die Verneinung des geltend gemachten Anspruchs hinaus eine für den Kläger nachteilige materiell rechtliche Bedeutung aufweist, liegt nicht vor. Der mit dem Offensichtlichkeitsurteil begründete Nachteil, dass die Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylVfG auf eine Woche verkürzt ist, wirkt sich für den Kläger, dessen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stattgegeben wurde, nicht mehr aus. Die Ausreisefrist endet für ihn gemäß § 37 Abs. 2 AsylVfG einen Monat nach Abschluss des Asylverfahrens. Durch diese Regelung ist hinreichend sichergestellt, dass der Asylbewerber, dessen Asylgesuch sich als nicht offensichtlich aussichtslos erweist, so gestellt wird, wie es regelmäßig bei einem Asylbewerber der Fall ist, dessen Asylgesuch vom Bundesamt schlicht abgelehnt worden ist (BVerwG, Beschl. vom 17.02.1986 - 1 B 30.86).

30

Die Klage wäre im Übrigen - ihre Zulässigkeit unterstellt - mit dem Antrag zu 2) und zu 3) aber auch unbegründet.

31

Es besteht kein Abschiebungshindernis gemäß § 51 Abs. 1 AuslG.

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Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sind denen des Art. 16 a Abs. 1 GG gleich, soweit es die Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale betrifft; insoweit kann auf die entsprechende Rechtsprechung Bezug genommen werden. Danach genießen politische Verfolgte Abschiebungsschutz. Diesen Schutz kann in Anspruch nehmen, wem in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung oder andere unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihnen aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind oder unmittelbar gedroht haben (vgl. BVerfG, Beschl. vom 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315 (334 f., 344), zugleich NVwZ 1990, 151). Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG steht darüber hinaus grundsätzlich demjenigen zu, der sein Heimatland unverfolgt verlassen hat, wenn er sich auf einen Nachfluchtgrund berufen kann. Die Gefahr einer politischen Verfolgung kann sich nicht nur gegen den Ausländer selbst, sondern auch aus gegen Dritte gerichtete Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Ausländer mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, so dass es als eher zufällig anzusehen ist, dass er bislang von ausgrenzenden Rechtsverletzungen verschont geblieben ist (vgl. BVerfG, Beschl. vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/89, 1827/89 -, BVerwGE 83, 216). Sieht der Verfolger von individuellen Merkmalen gänzlich ab, weil die Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher und damit grundsätzlich allen Gruppenmitgliedern gilt, kann eine solche Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat jederzeit mit eigener Verfolgung rechnen muss. Die Gefahr einer Gruppenverfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Hierfür muss eine so große Fehlzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter festgestellt sein, dass sich daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit ableiten lässt (vgl. hierzu: BVerwG, Beschl. vom 24.09.1992 - NVwZ 93, 192; Urteil vom 05.07.1994 - BVerwGE 96, 200; Urteil vom 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, BVerwG 101, 134; vom 09.09.1997 - 9 C 43.96 -, DVBl. 1998, 274; Nds.OVG, Urteil vom 29.06.1998 - 11 L 55110/97 -). Nach diesen Grundsätzen steht dem Kläger kein Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG zu.

33

Der Kläger war in der Russischen Föderation keiner asylerheblichen, individuellen Verfolgung ausgesetzt, eine solche drohte ihm auch nicht.

34

Soweit der Kläger vorträgt, die Islamisten hätten ihm verboten, seine Bilder auszustellen und zu verkaufen, lässt sich dem eine asylerhebliche Verfolgungsintensität nicht entnehmen. Gleiches gilt für seinen Vortrag, die Islamisten würden Bauwerke sprengen und anzünden. Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass er durch derartige Sprengungen oder durch derartige Zerstörungen konkret asylrechtsrelevant bedroht gewesen wäre. Daher kann auch die Frage, ob es sich bei den vorgetragenen Verfolgungen überhaupt um staatliche Verfolgungen handelt, dahinstehen.

35

Ob der Kläger im Jahre 1994 tatsächlich als Fähnrich aus der russischen Armee in E. desertierte, kann ebenfalls dahinstehen. Selbst wenn das Verhalten des Klägers, der nach seinen eigenen Angaben einen Dreijahresvertrag mit der russischen Armee geschlossen hatte und aufgrund seiner Hochschulausbildung sogleich den Dienstgrad des Fähnrichs erhalten hatte, nicht lediglich als "Vertragsbruch" zu werten ist, sondern den Tatbestand der Desertion verwirklichte, erfüllt eine mögliche Bestrafung wegen Desertion in der Regel nicht das Merkmal der politischen Verfolgung i.S. des Art. 16 a Abs. 1 GG. Eine Heranziehung zum Kriegsdienst und die Bestrafung wegen Desertion sind nur dann politische Verfolgung im Sinne des Artikel 16 a Abs. 1 GG (oder des § 51 Abs. 1 AuslG), wenn sie neben der Erfüllung einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht bzw. der Ahndung kriminellen Unrechts auch darauf gerichtet sind, den Betroffenen wegen eines asylerheblichen Persönlichkeitsmerkmals zu treffen (vgl. BVerwG, Urt. vom 24.11.1992, DVBl. 1993, 325 = Info AuslR 1993, 154; BVerfG, Beschl. vom 11.12.1985, BVerfGE 71, 276, 294 [BVerwG 24.11.1992 - BVerwG 9 C 70/91]). Davon ist in der Russischen Föderation nicht auszugehen. Die Wehrstrafgesetze knüpfen nicht an asylrechtserhebliche Merkmale an, sondern gelten für alle Bürger der Russischen Föderation. Gemäß Artikel 338 StGB wird Desertion mit einer Höchststrafe von sieben Jahren Freiheitsentzug geahndet, wobei diese Regelung rückwirkende Kraft entfaltet, wenn sie für den Beschuldigten günstiger ist. Artikel 337 StGB sieht eine Ausnahme von der strafrechtlichen Ahndung vor, wenn die Desertion Folge des Zusammentreffens schwerer Umstände ist.

36

Eine Ausnahme ist für den Kläger auch nicht deswegen gegeben, weil er wegen seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit mit einer härteren Bestrafung im Sinne eines "Politmalus" rechnen müsste. Der Kläger selbst hat in seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge einen Strafrahmen von zehn bis fünfzehn Jahren genannt. Zwar legt die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in einer Antwort auf eine Anfrage des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 30.05.1996 dar, dass Kläger, die desertiert sind, wegen ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit härter bestraft und extra legal menschenrechtswidrig behandelt werden könnten. Als Beleg beruft sie sich aber auf einen Zeitungsartikel des Express Chronika vom 14.07.1995, in dem über das Schicksal 900 gefangenen Tschetschenen berichtet wird, die in eine Kohlegrube bei Omsk transportiert worden seien. Aus dem Bericht geht nicht hervor, ob es sich dabei um "reguläre" Strafgefangene oder Gefangene des ersten Tschetschenienkrieges gehandelt hat. Insoweit ist nicht ausgeschlossen, dass ein Unterschied in der Behandlung der Gefangenen gemacht wird. Zudem scheint es sich herbei um einen Einzelfall gehandelt zu haben. Das Auswärtige Amt nimmt in einer Antwort auf eine Anfrage des Verwaltungsgerichts Hannover vom 07.05.1996 zu dieser Frage dahingehend Stellung, dass nicht mit hinreichender Sicherheit beurteilt werden könne, ob tschetschenische Volkszugehörige in militärgerichtlichen Verfahren mit Nachteilen bei der Strafzumessung zu rechnen hätten. Das Auswärtige Amt berichtet, dass derartige Erwägungen nicht gesetzlich seien, da die Volkszugehörigkeit kein strafschärfendes Tatbestandsmerkmal im russischen StGB sei. Da militärgerichtliche Verfahren der Öffentlichkeit jedoch nur eingeschränkt zugänglich seien, könne dies auch nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. In einer weiteren Auskunft an das VG Schleswig vom 10.05.1996 hält es das Auswärtige Amt hingegen für äußerst unwahrscheinlich, dass ein tschetschenischer Volkszugehöriger mit härterer Bestrafung oder extralegaler menschenrechtswidrigen Behandlung rechnen müsse. Derartige Fälle seien dem Auswärtigen Amt nicht bekannt geworden. Der allgemeine - neuere - Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.08.2001 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. August 2001 merkt zur Strafverfolgung und zur Strafzumessungspraxis an, dass diese nicht nach Merkmalen wie Rasse, Religion, Nationalität etc. diskriminiere. Bei dieser Sachlage ist eine härtere Bestrafung des Klägers wegen seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit nicht beachtlich wahrscheinlich. Hinzu kommt, dass der neueste ad hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2002 darüber berichtet, dass Tschetschenen bisher nur auf freiwilliger Basis in die russische Armee aufgenommen werden. Das spricht dagegen, dass sie für eine Desertion - wenn sie auch bereits 1994 erfolgte - härter bestraft werden als üblich.

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Eine weitere Beweiserhebung, wie hilfsweise beantragt, ist bereits aus diesen Gründen nicht erforderlich. Darüber hinaus sieht sich die Kammer zu einer weiteren Beweiserhebung auch angesichts der Unzulässigkeit der Klage nicht veranlasst.

38

Der Kläger war bei Verlassen der Russischen Föderation auch keiner landesweiten Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger ausgesetzt.

39

Die vielfachen Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen in Tschetschenien - insbesondere über Angriffe russischer Truppen auf Zivilisten, über "Säuberungsaktionen" der russischen Streitkräfte in verschiedenen Orten Tschetscheniens im Januar und März 2002 und über so genannte Filtrationslager und -punkte an der tschetschenisch-inguschetischen Grenze und in und um Grosny, in denen Folterungen, Schläge und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind, über so genannte Todesschwadronen und über Fälle von Verschwindenlassen von Menschen - legen eine solche Gruppenverfolgung nahe (vgl. ad hoc-Lageberichte des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 15.11.2000, 24.04.2001 und 07.05.2002; amnesty international, Stellungnahme vom 28.10.2001 zum ad hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.04.2001, im Folgenden zitiert: ai-Stellungnahme vom 08.10.2001). Letztlich kann die Entscheidung, ob eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien tatsächlich gegeben ist, jedoch dahinstehen, da jedenfalls dem Kläger in der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

40

Eine inländische Fluchtalternative ist gegeben, wenn der Asylbewerber in anderen Teilen des Landes hinreichend sicher vor unmittelbarer und mittelbarer Verfolgung ist, ohne dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf Dauer ein Leben unterhalb des Existenzminimums droht, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führt (BVerfGE 80, 315, 343; BVerwG, Buchholz 402.25 zu § 1 AsylVfG Nr. 72; BVerwG, EZAR 203 Nr. 4; BVerwG, Info AuslR 1989, 197). Das zum Leben Unerlässliche muss sichergestellt werden (BVerwG, Info AusR 1989, 354).

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Diese Voraussetzungen sind jedenfalls in der Person des Klägers gegeben und sind von der Beklagten daher zu Recht bejaht worden.

42

Gemäß Artikel 27 Abs. 1 der Verfassung der Russischen Föderation besteht das Recht auf Freizügigkeit und freie Wohnungsnahme oder zeitweiligen Aufenthalt in der gesamten Russischen Föderation. Dieses Recht ist vom Verfassungsgericht der Russischen Föderation mit Beschluss 02.02.1998 bestätigt worden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.09.1998 an das OVG NRW). 1993 wurde durch Gesetz die so genannte Wohnberechtigung "Propiska" abgeschafft und durch die einfache Anmeldepflicht "Registrza" ersetzt (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.09.1998 an das OVG NRW).

43

In der Praxis ist diese Freizügigkeit häufig jedoch nicht gewährleistet. Oft wird de facto die "Propiska" noch praktiziert, wobei insbesondere den Tschetschenen ein Zuzug erschwert wird, indem ihnen die Registrierung versagt oder diese an zusätzliche Bedingungen geknüpft wird (Auskunft der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte an das VG Schleswig vom 20.12.2000).

44

Allerdings bestehen verlässliche Auskünfte über Zuzugserschwerungen im Wesentlichen nur für Moskau, St. Petersburg und andere russische Großstädte im Westen. Für andere - vielleicht ländliche und wirtschaftlich weniger interessante - Gebiete gibt es keine genauen Auskünfte. Insoweit berichtet UNHCR (Stellungnahme vom Januar 2002) neben den Zuzugsstopps für Moskau und andere Großstädte nur über bestehende Hemmnisse in einigen nordkaukasischen Republiken. Es ist also überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger seine Registrierung in einem anderen Gebiet der Russischen Föderation erreichen könnte.

45

Soweit der Kläger vorträgt, er könne sich aufgrund seiner Desertion ohnehin nicht registrieren lassen, so ist ihm auch zuzumuten, ohne Registrierung seinen faktischen Wohnsitz in anderen Teilen der Russischen Föderation zu nehmen. Eine effektive und dauerhafte Kontrolle ist - zumal in Moskau, wo hundert Tausende von Menschen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit ohne amtliche Wohnanmeldung leben - kaum möglich (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 30.06.2000). Gegen die Annahme, eine Wohnsitznahme in der Russischen Föderation sei mit oder ohne amtliche Registrierung de facto nicht möglich, spricht auch die Tatsache, dass derzeit etwa zwei Drittel aller Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens wohnen. Allein in Moskau ist die russische Gemeinde auf 100.000 gestiegen (ad hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2000), wobei dort auch Tschetschenen von erheblichem wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss angesiedelt sind und zahlreiche Organisationen und Netzwerke die Interessen gegenüber den Behörden vertreten (vgl. ad hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2002). Zudem ist es auch keineswegs sicher, dass der Kläger sich aufgrund seiner Desertion nicht registrieren lassen könnte. Denn er ist bereits 1994 in die Russische Föderation wieder eingereist. 1995 wurde ihm der Reisepass entzogen. Dabei ist die behauptete Desertion des Klägers nicht aufgefallen.

46

Der Kläger könnte andere sichere Gebiete in der Russischen Föderation von Inguschetien aus auch erreichen. Eine Weiterreise von Inguschetien in andere Teile Russlands ist grundsätzlich möglich (ad hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2002). Zwischen Tschetschenien und Inguschetien hat sich die Reisefreiheit verbessert; mehrere Tausend Menschen pendeln monatlich (UNHCR-Stellungnahme über Asylsuchende aus der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien vom Januar 2002, im Folgenden zitiert: UNHCR-Stellungnahme vom Januar 2002).

47

Der Kläger hätte in anderen Teilen der Russischen Föderation auch nicht mit asylerheblichen Verfolgungen zu rechnen. Insoweit teilt die Kammer die pauschale Einschätzung von amnesty international, es könne für Personen kaukasischer Abstammung generell nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass diese auch in anderen Teilen der Russischen Föderation Opfer von polizeilicher Willkür, Folter und Misshandlung werden, schon angesichts der enormen Größe der russischen Föderation nicht (vgl. ai-Stellungnahme vom 08.10.2001). Zwar wird auch für andere Teile der Russischen Föderation häufig über diskriminierende Kontrollen, kurzzeitige Verhaftungen und Hausdurchsuchungen berichtet. In südrussischen Städten soll es zu Verhaftungen wegen fehlender Registrierungen gekommen sein. Auch soll generell eine angespannte, feindliche Stimmung herrschen, die mit antitschetschenischen Ressentiments und Diskriminierungen einhergeht (ai-Stellungnahme vom 08.10.2001). Diese Übergriffe sollen infolge der Bombenattentate auf Wohnhäuser aber hauptsächlich in Moskau vorgekommen sein und noch vorkommen. Dort bestand die Verpflichtung zu einer erneuten Registrierung, die dann häufig verweigert wurde (UNHCR-Stellungnahme vom Januar 2002). Auch kam es zu massiven Kontrollen kaukasisch aussehender Menschen und zu deren Verhaftung (ai-Stellungnahme vom 08.10.2001). Die nach den Bombenattentaten von Moskau häufig vorkommende Praxis, Tschetschenen Beweismittel unterzuschieben, um gegen sie ein Strafverfahren einleiten zu können, hat aber mittlerweile auch in Moskau wieder nachgelassen und bleibt auf Einzelfälle beschränkt (Bericht des Menschenrechtszentrums Memorial, Negation und Recht: Nach der Flucht aus Tschetschenien, Russland: Zur Situation von Menschen, die aus Tschetschenien geflohen sind, Seite 39, im Folgenden zitiert: Memorialbericht).

48

Soweit über Fälle in anderen Landesteilen berichtet wird, erreichen derartige Anfeindungen und diskriminierenden Kontrollmaßnahmen aber nicht generell die Intensität der in Tschetschenien selbst stattfindenden Übergriffe (ebenso: VG Oldenburg, Beschluss vom 20.12.2001, - 1 B 253/02 -; VG Osnabrück, Beschluss vom 25.02.2002, - 5 B 62/02 -). Anders als amnesty international (Stellungnahme vom 08.10.2001) und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (Stellungnahme vom 06.02.2002, S. 3) berichtet das Auswärtige Amt nicht von tagelangen Misshandlungen und Folterungen, sondern von diskriminierenden Kontrollmaßnahmen und ungesetzlichen Übergriffen. Diese scheinen eher einer generellen antitschetschenischen Stimmung als einer zielgerichteten, intensiven Verfolgungsabsicht des russischen Staates hinsichtlich aller tschetschenischen Volkszugehörigen zu entspringen und sind von Häufigkeit und Intensität her mit denen in Tschetschenien selbst stattfindenden massiven und gezielten Angriffen auf Leib und Leben von Zivilisten nicht vergleichbar (ähnlich: VG Stade, Beschluss vom 27.12.2001, - 6 B

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1770/01 -). Auch scheint neuerlich von politischer Seite Gesprächsbereitschaft zu bestehen. So empfing Staatspräsident Putin Vertreter der tschetschenischen Diaspora zu einem Gespräch im Kreml im April 2002 (ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2002).

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Gegen diese Einschätzung spricht auch nicht der angebliche Befehl Nr. 541 des ehemaligen russischen Innenministers Ruschailo, der im Zusammenhang mit den Bombenattentaten auf Moskauer Wohnhäuser gezielt diskriminierende Maßnahmen gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen anordnet. So wird u.a. befohlen, harte Lebens- und Arbeitsbedingungen für Tschetschenen einzuführen und ihnen gezielt die Registrierung zu versagen. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte hat in einem Schreiben an das Auswärtige Amt vom 30.08.2001 und in einer Auskunft an das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 06. Februar 2002 die Auffassung vertreten, dass der Befehl Nr. 541 echt sei und beruft sich auf ein Interview mit dem von Moskau eingesetzten früheren Bürgermeister von Grosny, Bislan Gantamirow, der die Geltung des Befehls bestätigt habe. Dagegen gibt es nach Einschätzungen des Auswärtigen Amtes (Auskünfte an das VG Braunschweig vom 28.03.2002 und 12.12.2001) keine Belege für die Authentizität des Befehls. Der frühere russische Innenminister Ruschailo habe die Existenz bestritten. Das Auswärtige Amt drückt seine Zweifel an der Echtheit des Befehls aus, da er in elementarem Gegensatz zur russischen Verfassung stünde. In einer Auskunft an das VG Karlsruhe vom 26.04.2002 geht das Auswärtige Amt davon aus, dass es sich bei dem Befehl Nr. 541 um eine Fälschung handele. Zwar gebe es einen Befehl Nr. 541, dieser habe aber einen anderen Inhalt und trage den Titel: "Über die Verewigung der Namen der im Tschetschenienkrieg Gefallenen". Dies mag dahinstehen. Die Kammer schließt sich jedenfalls der früheren Einschätzung des Auswärtigen Amtes an (ebenso: VG Hannover, Beschluss vom 12.02.2002 - 12 B 537/02 -). Der Auskunftslage - die tatsächliche Authentizität des Befehls unterstellt - ist nicht zu entnehmen, dass der Befehl landesweit gegenüber allen tschetschenischen Volkszugehörigen konsequent ausgeführt würde.

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Der Kläger gehört auch nicht zu einer Personengruppe, die einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt wäre und für die die Frage der Fluchtalternative daher möglicherweise anders zu entscheiden ist. Weder hat er sich in der Tschetschenienfrage auf Seiten der Tschetschenen politisch engagiert, noch war er auf tschetschenischer Seite im Kriegseinsatz. Vielmehr hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge selbst vorgetragen, er halte den Krieg für sinnlos und gelte deswegen bei den Tschetschenen als Sympathisant der Russen. Bei dieser Sachlage ist es dem Kläger möglich, sich in anderen Teilen Russlands vorübergehend - wenn auch möglicherweise illegal - aufzuhalten, bis ihm eine Rückkehr nach Tschetschenien wieder möglich ist; asylerhebliche Übergriffe, die mit den in Tschetschenien vorkommenden Übergriffen vergleichbar wären, können mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

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Auch drohen dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sonstige Nachteile. Es ist nicht zu befürchten, dass er auf Dauer ein Leben unter das Existenzminimum führen muss, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt.

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Zwar weisen das Auswärtige Amt in seinem ad hoc-Bericht vom 07.05.2002, amnesty international in seiner Stellungnahme vom 08.10.2001 und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in ihrer Antwort auf die Anfrage des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 22.10.2001 darauf hin, dass die Lage in Inguschetien äußerst schlecht und das Überleben dort oft kräftezehrend sei. Inguschetien selbst und der Russische Immigrationsdienst seien mit der Versorgung der Bevölkerung überfordert (ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2002). UNHCR spricht sich entschieden dagegen aus, Inguschetien als Fluchtalternative anzuerkennen (UNHCR-Stellungnahme vom Januar 2002).

54

Dem Kläger kann jedoch zugemutet werden, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen und dort ein - wenn auch sehr bescheidenes Auskommen - zu finden. Nach eigenen Angaben ist der Kläger Bauingenieur und Kunstmaler und kann daher seine Arbeitskraft zur Erzielung eines Einkommens einsetzen. Die Kammer verkennt nicht, dass es angesichts der Tatsache, dass für eine offizielle Arbeitsstelle eine Registrierung erforderlich ist und angesichts der Tatsache, dass wiederum diese Registrierung bürokratischen Hemmnissen begegnet, für den Kläger zunächst schwierig sein könnte, eine Arbeit zu finden. Sie ist dennoch davon überzeugt, dass es dem Kläger angesichts seiner qualifizierten Ausbildung und seinen Fähigkeiten gelingen wird, ein Einkommen zu erzielen. Dafür spricht schon die Tatsache, dass der Kläger seit 1994 wieder in Tschetschenien und Inguschetien gelebt und selbst dort sein Überleben durch den Betrieb einer Baufirma sichergestellt hat. Soweit der Kläger zunächst auf staatliche Sozialhilfe angewiesen wäre, müsste er sich als Binnenflüchtling registrieren lassen. Diese Anerkennung als Binnenflüchtling (Formular Nr. 7), wird zwar selten gewährt. Nach Aufflammen der erneuten Kämpfe im September 1999 bis zum 31.12.2001 erhielten nur 12.464 Personen den Status als Vertriebener, wobei die meisten davon ethnische Russen waren. Eine Chance besteht jedoch eher dann, wenn der Flüchtling - wie es dem Kläger hier möglich wäre - angibt, Tschetschenien aus Angst vor fundamentalistischen Islamisten verlassen zu haben. Zudem werden Flüchtlinge in vielen russischen Städten mittlerweile von Juristen den Menschenrechtsorganisationen Memorial unterstützt (vgl. Liste der juristischen Beratungsstellen "Immigration und Recht" des Menschenrechtszentrums Memorial). Es steht ihnen der - wenn auch nicht häufig erfolgreiche - Klageweg offen.

55

Selbst wenn der Kläger - aus Angst vor seiner Desertion - keine Registrierung als Binnenflüchtling erreichen kann, so ist es doch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass er dauerhaft mit Hunger, Verelendung und schließlich mit dem Tode bedroht ist. Insoweit ist auch zu bedenken, dass in Russland ohnehin mehr als 40 Prozent der Menschen unter dem in Deutschland für notwendig erachteten Existenzminimum lebt und ihr Überleben in verschiedener Art und Weise sicherstellt. Das gilt auch für die über 500.000 Tschetschenen, die ohne Anerkennung als Binnenflüchtling in verschiedenen Teilen der Russischen Föderation leben und daher offiziell weder Anspruch auf Arbeit noch auf staatliche Unterstützung haben.

56

Es besteht für den Kläger auch kein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat den Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG zu Recht versagt. Auch der Antrag zu 3) wäre damit unbegründet.

57

Ein Abschiebungshindernis ergibt sich zunächst nicht aus § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung bei Anwendung der EMRK unzulässig wäre. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden, was voraussetzt, dass ein vorsätzliches geplantes und auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln vorliegt (BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, S. 133 m.w.N.; Urt. vom 18.04.1996, NVwZ-Beilage 1996, S. 58; Urt. vom 04.06.1996, Info AuslR 1996, S. 289; Urt. vom 15.04.1997, NVwZ 1997, S. 1127 [BVerwG 15.04.1997 - BVerwG 9 C 38/96]). Die Geltendmachung allgemeiner, der Bevölkerung drohender Gefahren infolge einer Bürgerkriegssituation, innerer Unruhen, bewaffneter Konflikte, Hungersnöte, rechtswidriger Verhältnisse oder ganz allgemein der politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse in einem bestimmten Land reichen nicht aus (Hailbronner, AuslR, 22. Ergänzungslieferung, A 1, § 53 Rn. 47). Auch ein Klima grober Menschenrechtsverletzungen oder von Gewalt erreicht als solches nicht aus, solange sich die Gefahr nicht gegen den Einzelnen individuell richtet (BVerwG, Urt. vom 04.06.1996, NVwZ-Beilage 1196, S. 89). In Fällen der Abschiebung durch einen Vertragsstaat ist ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK nur dann in Betracht zu ziehen, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Abgeschobene im aufnehmenden Land einer von diesem Artikel verbotenen Behandlung unterworfen wird (BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 - a.a.O.).

58

Nach diesen Grundsätzen kann sich der Kläger nicht auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4 Ausländergesetz i.V.m. Artikel 3 EMRK berufen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass er bei einer Rückkehr nach Russland gefoltert oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe ausgesetzt werden wird.

59

Soweit das Auswärtige Amt in seinen Lageberichten (vgl. z.B. Lagebericht vom 28.08.2001) die äußerst problematische Menschenrechtslage in der Armee anprangert, in der ein Klima von Gewalt und Drangsalierung durch Vorgesetzte und Kameraden herrsche, so kann dies nicht zu einem Abschiebungshindernis zu Gunsten des Klägers führen. Es ist nämlich nicht wahrscheinlich, dass er nach seiner Rückkehr in die Russische Föderation erneut zum Wehrdienst eingezogen werden wird. Dies hat der Kläger weder in seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge noch im Klageverfahren hinreichend substantiiert vorgetragen. Zudem tun Tschetschenen derzeit nur freiwillig in der Russischen Armee ihren Dienst (s.o. Seite 12).

60

Soweit sich der Kläger auf eine mögliche Bestrafung wegen seiner vorgetragenen Desertion beruft, kann auch dies nicht zu einem Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK führen. Eine Bestrafung und eine Inhaftierung in russischen Gefängnissen, Arbeitslagern und Strafbataillonen kann nicht zu einem Abschiebungshindernis führen. Zwar werden die Bedingungen im russischen Strafvollzug als allgemein alarmierend bezeichnet. Die russischen Gefängnisse entsprechen in der Regel nicht europäischem Mindeststandard, sie sind meist überbelegt, die Ernährung ist schlecht und die medizinische Versorgung unzureichend (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.08.2001 und vom 22.05.2000). Zugleich wird aber betont, dass die Haftbedingungen jeden Häftling gleichermaßen treffen und in der allgemeinen desolaten finanziellen Situation des Strafvollzugs begründet liegen. Eine gezielte unmenschliche Behandlung gegenüber einzelnen Gefangenen oder bestimmten Gruppen von Gefangenen ist nicht zu erkennen.

61

Der Kläger kann sich auch nicht auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG berufen. Nach dieser Vorschrift kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Beruft sich der Ausländer dagegen lediglich auf allgemeine Gefahren i.S.d. § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich der ganzen Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe im Zielland drohen, soll der Abschiebungsschutz auch für den Einzelnen ausschließlich durch eine generelle Regelung nach § 54 AuslG gewährleistet werden (BVerwG, Urteile vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, S. 324; - 9 C 15.95 -). Nur in Ausnahmefällen kann dem Ausländer wegen der durch die Abschiebung drohenden Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts ein Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG auch im Einzelfall zustehen.

62

Eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde ist nach § 54 AuslG hinsichtlich aller in Russland Inhaftierten oder von Inhaftierung bedrohter Staatsangehöriger nicht erlassen worden. Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG käme nur dann noch in Frage, wenn sich der Kläger in einer solchen Gefahrenlage befände, dass er im Falle seiner Abschiebung nach Russland sozusagen sehenden Auges in den Tod oder in die Hinnahme schwerster Verletzungen geschickt würde. Diese Voraussetzungen sind nicht dargetan.

63

Die Abschiebungsandrohung beruht auf § 34 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 50 AuslG und ist nicht zu beanstanden.

64

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.