Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 28.08.2014, Az.: 1 Ws 355/14 (StrVollz)
Förderung der Therapiebereitschaft bei drohender Sicherungsverwahrung durch geeignete Behandlungsangebote bereits im Strafvollzug geboten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 28.08.2014
- Aktenzeichen
- 1 Ws 355/14 (StrVollz)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 28537
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2014:0828.1WS355.14STRVOLLZ.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 02.07.2014
Rechtsgrundlagen
- StVollzG § 109 Abs. 3
- StVollzG § 119a
- StVollzG § 120 Abs. 1
- StPO § 338 Nr. 5
- StGB § 66c
- StGB § 67c Abs. 1 Nr. 2
Amtlicher Leitsatz
Bereits das Wecken und Fördern der Mitwirkungsbereitschaft des Strafgefangenen ist Aufgabe und Bestandteil der therapeutischen Behandlung, um den drohenden Vollzug einer Sicherungsverwahrung zu vermeiden. Diese muss eine psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung beinhalten, die auf den Gefangenen zugeschnitten ist, soweit standardisierte Angebote nicht Erfolg versprechend sind.
Tenor:
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers werden der Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle vom 2. Juli 2014 und der Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. April 2014 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, über den Antrag des Antragstellers auf einzeltherapeutische Behandlung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.
2. Die Kosten des gesamten Verfahrens einschließlich erster Instanz und die notwendigen Auslagen des Antragstellers trägt die Landeskasse.
3. Der Streitwert wird auf bis zu 500 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wurde wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt, die er derzeit verbüßt. Außerdem wurde seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Das Ende der Strafvollstreckung ist auf den 11. Juni 2015 notiert. Die große Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle hat mit Beschluss vom 1. Juni 2012 die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe und der Sicherungsverwahrung abgelehnt.
Der Antragsteller war am 24. März 2011 wegen fehlender Therapiebereitschaft aus der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt H. abgelöst worden. In einem schriftlichen Gutachten vom 20. November 2013 verneinte der Psychologe J. des psychologischen Dienstes der Antragsgegnerin die Indikation für eine erneute Durchführung sozialtherapeutischer Maßnahmen gemäß § 104 Abs. 1 NJVollzG mit der Begründung, dass der Antragsteller "derzeit eine erheblich eingeschränkte Introspektionsfähigkeit bzw. ein Unvermögen zur echten kritischen (Selbst)Reflektion" aufweise und dass bei ihm "eine authentische intrinsische Behandlungsmotivation" derzeit "nicht zu erkennen" sei.
Am 26. März 2014 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin eine einzeltherapeutische Behandlung. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 15. April 2014, der dem Antragsteller am Folgetag eröffnet worden ist, ab. Zur Begründung führte sie Folgendes aus:
"Ausweislich des Gutachtens zur Indikationsstellung vom 20.11.2013 entziehen sie sich weiterhin einer ihren narzisstischen Selbstwert bedrohenden Auseinandersetzung mit ihrer Persönlichkeitsproblematik, so dass vor dem Hintergrund dieser Grundhaltung aus gutachterlicher Sicht eine Erreichbarkeit durch psychotherapeutische, einschließlich sozialtherapeutische Behandlungsmaßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt weder sinnvoll noch realisierbar erscheinen. An dieser Einschätzung hat sich aktuell nichts geändert, so dass zurzeit eine einzeltherapeutische Maßnahme nicht indiziert ist."
Gegen diesen Bescheid wandte sich der Antragsteller mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 16. April 2014, der am 23. April 2014 bei Gericht eingegangen ist. Der Antragsteller macht geltend, dass er behandlungsmotiviert und -fähig sei und sich wiederholt um eine sozialtherapeutische Behandlung bemüht habe. Außerdem habe die Anstaltspsychologin P. in Einzelgesprächen, die er seit Längerem mit ihr führe, Zugang zu seiner Problematik gefunden und auch dem Antragsteller diesen vermittelt. Allerdings könnten die Gespräche mit ihr keine sozialtherapeutische Maßnahme ersetzen, weil sie keine ausgebildete Therapeutin sei und die Gespräche auch nur einmal im Monat stattfänden.
Diesen Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle mit Beschluss vom 2. Juli 2014 zurückgewiesen. Sie ist dabei der Begründung des Ablehnungsbescheids der Antragsgegnerin gefolgt und hat ergänzend ausgeführt, dass sich sie die vom Antragsteller behauptete Therapiemotivation "im Lichte des Gutachtens als '(kalkulierte) Strategie zur Abwendung der Sicherungsverwahrung'" darstelle.
Gegen diesen - ihm am 10. Juli 2014 zugestellten - Beschluss hat der Antragsteller am 31. Juli 2014 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Celle Rechtsbeschwerde eingelegt. Er macht geltend, dass ihm die Antragsgegnerin entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geeignete Therapiemöglichkeiten während des Strafvollzugs zur Abwendung der Sicherungsverwahrung verwehre und dadurch Art. 2 Abs. 2 GG verletze.
II.
Die Rechtsbeschwerde des Antragstellers hat Erfolg.
1. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig, weil die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung im Hinblick auf die am 1. Juni 2013 in Kraft getretene Neuregelung zur Ausgestaltung des der Sicherungsverwahrung vorhergehenden Strafvollzugs durch § 66c StGB zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist.
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
a) Allerdings hat der Senat mangels einer hierauf gerichteten Verfahrensrüge nicht zu entscheiden, ob der angefochtene Beschluss bereits aufgrund § 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO aufzuheben wäre, weil dem Antragsteller entgegen § 109 Abs. 3 StVollzG kein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Nach dieser - am 1. Juni 2013 in Kraft getretenen - Vorschrift ist dem Antragsteller für ein gerichtliches Verfahren von Amts wegen ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn die vom Antragsteller begehrte oder angefochtene Maßnahme der Umsetzung des § 66 c Abs. 1 StGB im Vollzug der Sicherungsverwahrung oder - wie hier - der ihr vorausgehenden Freiheitsstrafe dient, es sei denn, dass wegen der Einfachheit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Rechtsanwalts nicht geboten erscheint oder es ersichtlich ist, dass der Antragsteller seine Rechte selbst ausreichend wahrnehmen kann. Nach den Gesetzesmaterialien hat die Beiordnung nach dieser neuen Vorschrift für Streitigkeiten zu erfolgen, die eine den Leitlinien des § 66 c Abs. 1 StGB konforme Umsetzung des Abstandsgebots betreffen (BT-Drucksache 17/9874 S. 27). Sie soll es dem Gefangenen bzw. Untergebrachten erleichtern, die erforderlichen Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen einzufordern (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Februar 2014 - 1 Ws 585/13 (StrVollz); Lesting/Feest, StV 2013, 278, 280).
b) Die Rechtsbeschwerde führt aber auf die erhobene Sachrüge zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie des Bescheids der Antragsgegnerin vom 15. April 2014 und zur Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Neubescheidung des Antragstellers. Die angefochtene Entscheidung und der Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 15. April 2014 beruhen nämlich auf einer Verkennung des Regelungsgehalts und der Bedeutung von § 66c Abs. 2 StGB.
aa) Nach § 66c Abs. 2 StGB ist bei angeordneter Unterbringung in der Sicherungsverwahrung dem Täter schon im Strafvollzug eine Betreuung im Sinne von § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB, insbesondere eine sozialtherapeutische Behandlung, anzubieten mit dem Ziel, die Vollstreckung der Unterbringung möglichst entbehrlich zu machen. Dem Gefangenen ist hiernach eine Betreuung anzubieten, die "individuell und intensiv sowie geeignet ist, seine Mitwirkungsbereitschaft zu wecken und zu fördern, insbesondere eine psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung, die auf den Gefangenen zugeschnitten ist, soweit standardisierte Angebote nicht Erfolg versprechend sind" (§ 66c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB).
Mit Einführung des § 66c StGB durch das Gesetz zur bundesrechtlichen Absicherung des Abstandsgebots in der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I 2425) sind in Umsetzung der Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts aus dessen Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. - (BVerfGE 128, 326 ff.) ausdrückliche Regelungen zur Festschreibung des Trennungs- und Abstandsgebots des Vollzugs der Sicherungsverwahrung zum Strafvollzug, aber auch gleichzeitig ausdrückliche Anordnungen zum therapieorientierten Vollzug getroffen worden, welche sämtlich dem vorrangigen Ziel dienen, die "Gefährlichkeit" des Sicherungsverwahrten "für die Allgemeinheit so zu mindern, dass die Vollstreckung der Maßregel möglichst bald zur Bewährung ausgesetzt oder sie für erledigt erklärt werden kann" (§ 66c Abs. 1 Nr. 1 b StGB). An diesem vorrangigen Ziel soll gemäß § 66c Abs. 2 StGB auch bereits die der Sicherungsverwahrung vorangehende Strafvollstreckung in besonderem Maße orientiert sein mit der Folge, dass hinsichtlich zu gewährender Behandlungsangebote eine Privilegierung der Strafgefangenen mit anschließender Sicherungsverwahrung gegenüber den "normalen" Strafgefangenen ausdrücklich normiert worden ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 28. April 2014 - III-1 Vollz (Ws) 28/14 -, juris). Das besondere gesetzgeberische Interesse an der Durchführung sowie auch der Kontrolle entsprechender Maßnahmen findet in der gleichzeitig neu eingefügten Vorschrift des § 119a StVollzG seinen Ausdruck, nach welcher die Einhaltung der Vorschriften über die notwendige Betreuung und Behandlung der Strafgefangenen mit nachfolgender Sicherungsverwahrung von den (großen) Strafvollstreckungskammern in festgelegten Abständen (vgl. § 119a Abs. 3 StVollzG) von Amts wegen zu überprüfen ist. Eine Missachtung des § 66c Abs. 2 StGB kann zur Folge haben, dass die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 67c Abs. 1 Nr. 2 StGB wegen Unverhältnismäßigkeit zur Bewährung auszusetzen ist (vgl. dazu hiesiger 2. Strafsenat, Beschluss vom 7. Mai 2014 - 2 Ws 71/14).
bb) Vor diesem Hintergrund erweist sich die Begründung des Ablehnungsbescheids der Antragsgegnerin, der die Strafvollstreckungskammer gefolgt ist, als nicht tragfähig. Nach dem bereits zitierten Wortlaut des § 66c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB ist das Wecken und Fördern der Mitwirkungsbereitschaft Aufgabe und Bestandteil der therapeutischen Behandlung (so auch schon Senatsbeschluss vom 3. August 2007 - 1 Ws 294/07 -, StraFo 2007, 435 [OLG Celle 03.08.2007 - 1 Ws 294/07], zu § 9 Abs. 1 StVollzG). Diese muss eine psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung beinhalten, die auf den Gefangenen zugeschnitten ist, soweit standardisierte Angebote nicht Erfolg versprechend sind. Weder dem angefochtenen Beschluss noch der Begründung des Ablehnungsbescheids ist zu entnehmen, dass dem Antragsteller bereits eine diesen Anforderungen genügende, auf seinen konkreten Einzelfall zugeschnittene Therapie angeboten worden ist.
Das Gutachten vom 20. November 2013 belegt auch nicht etwa eine absolute Therapie- bzw. Behandlungsunfähigkeit des Antragstellers. Dies würde eine mit therapeutischen Mitteln nicht erreichbare Persönlichkeitsstörung oder eine auf Dauer angelegte und mit therapeutischen Mitteln nicht mehr aufzubrechende und somit nicht zu korrigierende Verweigerung der Mitarbeit an der Behandlung voraussetzen, die nur anzunehmen wäre, wenn jeder Ansatzpunkt für eine therapievorbereitende Motivationsarbeit gänzlich fehlte (vgl. Senat aaO.; ebenso OLG Schleswig, Beschluss vom 31. Oktober 2005 - 2 Vollz Ws 415/05; KG, Beschluss vom 28. April 2000 - 5 Ws 754/99, jew. m.w.N.).
Weder der von der Strafvollstreckungskammer festgestellte Sachverhalt noch die Ablehnungsbegründung der Antragsgegnerin enthalten Anhaltspunkte dafür, dass eine dieser Voraussetzungen beim Antragsteller erfüllt ist. Im Gegenteil hat der Psychologe J. am Ende seines Gutachtens selbst dargestellt, welche Maßnahmen nun angeraten seien, um die von ihm verneinte Therapiemotivation beim Antragsteller zu wecken. Da dies aber - wie oben ausgeführt - bereits Aufgabe und Bestandteil der therapeutischen Behandlung ist, kann hierauf nicht die Ablehnung einer therapeutischen Behandlung gestützt werden.
3. Der angefochtene Beschluss und der Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin konnten daher keinen Bestand haben. Da der Senat indes nicht entscheiden kann, welche Form der Therapie geeignet ist, die Mitwirkungsbereitschaft des Antragstellers zu wecken bzw. zu fördern, kam eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zu einer bestimmten Maßnahme nicht in Betracht. Vielmehr war die Antragsgegnerin insoweit zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu verpflichten (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG).
III.
Der Vorsitzende des Senats hat auch zum Vermeiden von Verfahrensverzögerungen davon abgesehen, dem Antragsteller in entsprechender Anwendung von § 109 Abs. 3 StVollzG für das Rechtsbeschwerdeverfahren einen Bevollmächtigten beizuordnen, zumal das Rechtsmittel des Antragstellers Erfolg hatte. Eine entsprechende Entscheidung soll für den Fall eines erneuten gerichtlichen Verfahrens der zuständigen Strafvollstreckungskammer vorbehalten bleiben.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 4 StVollzG, § 467 Abs. 1 StPO analog.
V.
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 1 Nr. 8, 52 Abs. 1, 60, 63 Abs. 3, 65 GKG.