Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 20.01.2016, Az.: 11 A 2961/15
Ausweisung; Befristung; Ermessen; Teilaufhebung
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 20.01.2016
- Aktenzeichen
- 11 A 2961/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 43172
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 AufenthG
- § 113 Abs 1 S 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Eine Befristung des durch die Ausweisung entstehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots ist ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde auch schon bei einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und dem Bestehen von Milderungsgründen von der regelmäßigen Höchstfrist von zehn Jahren nach § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ausgeht.
Das Gericht muss in einem solchen Fall die Befristung in dem Umfang aufrechterhalten, in dem der ausgewiesene Ausländer zwingend vom Bundesgebiet fernzuhalten ist.
Die Ausländerbehörde ist durch das Urteil nicht gehindert, die Frist ermessensfehlerfrei wieder höher festzusetzen.
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 1. Juli 2015 wird aufgehoben, soweit darin die Wirkungen der Ausweisung des Klägers auf mehr als vier Jahre befristet worden sind.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
Der am 20. August 19.. geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger.
Seine Lebensgefährtin, Frau S. G., geboren am 27. März 19.., ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
Der Kläger und seine Lebensgefährtin reisten am 25. September 1994 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Asylanträge des Klägers blieben erfolglos (Bescheide des Bundesamtes vom 26. Januar 1995 und 12. Juni 2002; VG Oldenburg Urteil vom 9. Juli 1997 - 4 A 659/95 -). Seither wurde der Kläger geduldet. Ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG ist mit bestandskräftigem Bescheid des Beklagten vom 13. Oktober 2008 abgelehnt worden.
Am 26. September 2013 wurde der Kläger vom Landgericht Aurich rechtskräftig wegen gemeinschaftlichen schweren Bandendiebstahls in sechs Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Der Kläger hatte sich mit fünf anderen verabredet zum Bestreiten des Lebensunterhaltes Einbruchsdiebstähle zu begehen und hierbei insbesondere Bargeld, Schmuck und elektronische Geräte zu entwenden. Die Aufgabe des Klägers bestand darin, den Tatort und dessen Umgebung zu beobachten und die sich in der jeweiligen Wohnung aufhaltenden Mittäter ggf. zu warnen. Der Kläger hat in dieser Art und Weise am 28. und 29. September 2012 an jeweils drei Wohnungseinbrüchen mitgewirkt. Hierbei ist ein Gesamtschaden in Höhe von etwa 12.700,00 Euro entstanden. Bei der Strafzumessung wurde zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass er zumindest das gestanden hat, was ohnehin ohne weiteres bewiesen werden konnte. Zudem wurde er nicht als Führungspersönlichkeit eingestuft und berücksichtigt, dass er nicht vorbestraft war und die zwei Diebestouren in zeitlich engem Zusammenhang erfolgten. Zu seinen Lasten ist der Gesamtschaden berücksichtigt worden.
Der Kläger befindet sich seit dem 1. Oktober 2014 in Haft. Das reguläre Strafende ist am 30. September 2017, 2/3 der Zeit wären am 29. September 2016 verbüßt.
Nach Anhörung des Klägers wies der Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 1. Juli 2015 aus der Bundesrepublik Deutschland aus, befristete die Wirkungen der Ausweisung auf sechs Jahre beginnend mit der Ausreise und drohte dem Kläger die Abschiebung in den Kosovo an. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden: Es liege ein zwingender Ausweisungsgrund nach § 53 Nr. 1 AufenthG a.F. vor. Ein besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG a.F. bestehe nicht. Die Lebensgefährtin des Klägers müsse auch während der Inhaftierung ohne seine Unterstützung auskommen. Sie habe am 1. April 2015 ihren Wohnsitz bei Verwandten in Wallenhorst genommen. Wegen des zwingenden Ausweisungsgrundes sei von einer Befristung der Ausweisung auf zehn Jahre auszugehen. Wegen der besonderen Beziehung zu seiner Lebensgefährtin seien hiervon vier Jahre abzuziehen.
Am 31. Juli 2015 hat der Kläger hiergegen Klage erhoben. Sein gleichzeitig gestellter Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Beschluss des Einzelrichters vom 26. August 2015 - 11 B 2962/15 - abgelehnt worden. Eine Beschwerde des Klägers blieb erfolglos (Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 29. September 2015 - 8 ME 155/15 -).
Der Kläger trägt im Wesentlichen vor: Der Beklagte habe den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG a.F. nicht berücksichtigt. Er habe auch nicht hinreichend in Rechnung gestellt, dass seine Ehefrau schwer erkrankt sei. Sie leide an einer schweren obstruktiven Atemwegserkrankung. Sie sei deshalb auf seine Unterstützung angewiesen. Die Familienangehörigen könnten ihn nicht ohne weiteres ersetzen. Durch seine Abwesenheit sei sie psychisch stark beeinträchtigt und gesundheitlich akut gefährdet. Außerdem müsse berücksichtigt werden, dass er seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland lebe. Der Kläger legte zur Glaubhaftmachung ärztliche Atteste von Dr. med. B. vom 25. Februar 2015, des Facharztes für Allgemeinmedizin M. G. vom 9. und 30. Juni 2015 sowie ein amtsärztliches Gutachten vom 30. Oktober 2014 vor.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 1. Juli 2015 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er erwidert im Wesentlichen: Frau G. sei mit dem Kläger nicht verheiratet. Sie müsse auch während seiner Inhaftierung auf die Unterstützung des Klägers verzichten. Da der Kläger nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels gewesen sei, bestünde auch kein besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG a.F.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen; Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen geringen Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.
Maßgeblich für die gerichtliche Entscheidung über die Ausweisung und ihre Befristung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - InfAuslR 2013, 418, Rn. 8 m.w.N).
Die Ausweisung des Klägers beurteilt sich daher nach den §§ 53 - 55 AufenthG in der seit dem 1. Januar 2016 geltenden Fassung, welche sie insbesondere durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) erhalten haben und ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt. Es handelt hierbei nicht um eine Ermessensentscheidung, sondern eine gerichtlich voll überprüfbare Abwägung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Einzubeziehen sind hierbei die in den §§ 54 und 55 AufenthG typisierend aber nicht abschließend angeführten besonders schwerwiegenden und schwerwiegenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen. Hat ein danach vertyptes Interesse nach der gesetzgeberischen Wertung stärkeres Gewicht als die gegenläufigen Belange, müssen besondere Umstände vorliegen, die eine abweichende Abwägung rechtfertigen können (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49 f.).
Bei der Abwägung sind nach der Gesetzesbegründung (a.a.O., S. 50) neben den in § 53 Abs. 2 AufenhtG ausdrücklich aufgeführten Gesichtspunkten (Dauer des Aufenthalts, persönliche, wirtschaftliche und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, Folgen der Ausweisung für Familienangehörige) auch maßgeblich die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. Entscheidung vom 22. Januar 2013 - 66837/11 - juris, Rn. 29 m.w.N.) für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung zu Grunde zu legen. Hierbei ist vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen.
Danach ist hier festzustellen, dass ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besteht, weil der Kläger wegen der Bandeneinbruchsdiebstähle zu einer Freiheitstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist. Auf der anderen Seite besteht weder ein schwerwiegendes noch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse im Sinne des § 55 AufenthG. Insbesondere ergibt sich dieses nicht im Hinblick auf die Betreuungsbedürftigkeit von Frau Sultane G., weil der Kläger mit ihr nicht verheiratet ist. Der Kläger selbst hält sich zwar seit über zwanzig Jahren in der Bundesrepublik Deutschland auf, hat jedoch niemals einen Aufenthaltstitel besessen.
Überwiegt schon hiernach das öffentliche Interesse an der Ausweisung deutlich, ergibt die Abwägung nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten im Einzelfall kein abweichendes Ergebnis. Insoweit wird auf die diesbezüglichen Ausführungen in dem Beschluss des Einzelrichters vom 26. August 2015 verwiesen, denen das Nds. Oberverwaltungsgericht gefolgt ist. Gesichtspunkte, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, hat der Kläger seither nicht mehr vorgetragen.
Die Befristung des nach § 11 Abs. 1 AufenthG durch die Ausweisung entstehende Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sechs Jahre ist allerdings rechtsfehlerhaft und kann nur aufrechterhalten bleiben, soweit dieses vier Jahre nicht übersteigt.
Auch insoweit ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. März 2013 - 1 B 17.12 - NVwZ-RR 2013, 574, Rn. 13), wie sich nunmehr auch daraus erschließt, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers im Falle eines Widerspruchs oder einer Klage gegen die Befristungsentscheidung die grundsätzlich eintretende aufschiebenden Wirkung ausdrücklich ausgeschlossen worden ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG).
Nach § 11 Abs. 3 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden. Diese darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Diese Frist soll zehn Jahre nicht überschreiten.
Die Frist ist dabei allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzen. In einem ersten Schritt ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles anhand des Gewichts des Ausweisungsgrundes prognostisch einzuschätzen, wie lange die Gefahr besteht, dass der Ausländer weitere Straftaten oder andere Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung begehen wird. Im einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist anhand der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1 und 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. März 2014 – 1 C 2.13 – juris, Rn. 12; Urteil vom 14. Mai 2013 – 1 C 13.12 – InfAuslR 2013, 334, Rn. 30 ff.; Urteil vom 13. Dezember 2012 – 1 C 14.12 – InfAuslR 2013, 141, Rn. 14 ff; Urteil vom 13. Dezember 2012 – 1 C 20.11 – InfAuslR 2013, 169, Rn. 40 ff.; Urteil vom 10. Juli 2012 – 1 C 19.11 – InfAuslR 2013, 397, Rn. 42 f.)
Der Beklagte hat im Bescheid vom 1. Juli 2015 eine Ermessensentscheidung getroffen (vgl. Seite 2, vorletzter Absatz). Er hat auch einerseits die Schwere der Straftaten und andererseits Bleibeinteressen in Rechnung gestellt. Er ist aber im ersten Schritt rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass wegen der Straftaten des Klägers eine Frist von zehn Jahre anzusetzen ist. Damit hat der Beklagte in Überschreitung seines insoweit bestehenden Spielraums bereits die in § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG vorgesehene regelmäßige Höchstfrist ausgeschöpft. Dies wird nach Ansicht des Einzelrichters den Straftaten, welche der Kläger begangen hat, nicht gerecht. Es liegen zwar - wie ausgeführt - schwerwiegende Bandeneinbruchsdiebstähle vor, die auch zu einer Freiheitsstrafe geführt haben, die um 50 % über der in § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorgesehenen Grenze von zwei Jahren liegt. Es ist aber zu beachten, dass die Art der Straftaten noch nicht im allerhöchsten Bereich der Kriminalität zu verorten ist und insbesondere im Falle des Klägers auch die vom Landgericht Aurich festgestellten aus dem Tatbestand ersichtlichen Milderungsgründe bestanden, insbesondere keine weiteren Straftaten zu berücksichtigen waren.
Das Gericht hält sich allerdings nicht befugt, deshalb die Befristungsentscheidung als Ganzes aufzuheben. Vielmehr muss auch im Falle einer behördlichen Ermessensentscheidung nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO („soweit“) ein abtrennbarer Teil eines Verwaltungsakts in dem Umfang aufrechterhalten bleiben, in dem er rechtmäßig ist (vgl. allgemein BVerwG, Beschluss vom 30. Mai 2006 - 6 B 28.06 - juris, Rn. 8; Beschluss vom 2. Mai 2005 - 6 B 6.05 - juris, Rn. 6). Dieser ergibt sich hier aus der sich unter Berücksichtigung der obigen Grundsätze im Einzelfall zwingend ergebenden Mindestfrist, für die der ausgewiesene Ausländer vom Bundesgebiet ferngehalten werden muss. Diese beträgt hier vier Jahre.
Zur Vermeidung weiterer Rechtsstreitigkeiten wird darauf hingewiesen, dass der Beklagte durch dieses Urteil nicht gehindert ist, ermessensfehlerfrei wieder eine abweichende höhere Frist festzusetzen. Dabei müsste er die Belange von Frau G. nach derzeitiger Sachlage nicht so stark wie im Bescheid vom 1. Juli 2015 gewichten, weil der Kläger mit ihr nicht verheiratet ist.