Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 29.09.2005, Az.: 22 Ss 65/05

Ermessensausübung; Ermessensentscheidung; Gesetzesänderung; Neuregelung; Nichtvereidigung; Revisionsgrund; Revisionsrüge; Sitzungsprotokoll; Urteilsaufhebungsgrund; Verfahrensfehler; Zeugenvereidigung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
29.09.2005
Aktenzeichen
22 Ss 65/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50961
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts ... zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Mit Urteil des Amtsgerichts ... vom 5. August 2004 war der Angeklagte wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 25 € verurteilt worden. Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht mit der Maßgabe verworfen, dass die Tagessatzhöhe auf 10 € reduziert und Ratenzahlung gewährt worden ist.

2

Nach den Feststellungen der Strafkammer suchte der Angeklagte am 21. März 2003 gegen 12:00 Uhr den Einzelhändler ... in dessen Bekleidungsgeschäft in ... auf, um ihn zur Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Angeklagten und seine heutige Ehefrau sowie zur Herausgabe des der Vollstreckung zugrundeliegenden Schuldanerkenntnisses zu bewegen, nachdem es dem Angeklagten nicht gelungen war, dieses Begehren auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Es kam zu einem Streit zwischen ... und dem körperlich überlegenen Angeklagten, der sich schließlich in Boxerstellung vor seinem Gegenüber aufbaute, ihm Schläge androhte und ankündigte, den Laden „platt“ zu machen, wenn ... das Schuldanerkenntnis nicht herausgebe. ... griff sich zum Schutz einen Brieföffner und rief um Hilfe. Davon alarmiert, eilte ... seinem Bruder zu Hilfe und drängte den Angeklagten aus dem Laden.

3

Diese Feststellungen hat die Kammer im Wesentlichen auf die für glaubhaft erachtete Aussage des Geschädigten ... gestützt, während es der bestreitenden Einlassung des Angeklagten nicht gefolgt ist.

4

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der er neben der Verletzung materiellen Rechts auch Verstöße gegen § 59 StPO rügt.

5

II. Das zulässige Rechtsmittel hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, sodass es eines Eingehens auf die gleichfalls erhobene Sachrüge nicht bedarf.

6

Die Revision beanstandet mit Recht, dass die den Angeklagten belastenden Zeugen ... und ... sowie ... ohne gerichtliche Entscheidung unvereidigt geblieben sind. Dieses Revisionsvorbringen wird durch die Sitzungsniederschrift bestätigt. Danach hat auch der Vorsitzende keine Entscheidung über die Vereidigung der Zeugen getroffen. Unter diesen Umständen steht der Zulässigkeit der erhobenen Rüge nicht entgegen, dass der Angeklagte es unterlassen hat, gemäß § 238 Abs. 2 StPO eine Entscheidung des Gerichts zur Vereidigung der Zeugen herbeizuführen (BGH NStZ-RR 1997, 302).

7

Auch wenn mit der Änderung des § 59 StPO durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz die Nichtvereidigung zum Regelfall geworden ist, bedarf es nach wie vor einer (ins Sitzungsprotokoll aufzunehmenden) Entscheidung des Tatgerichts über die Vereidigung, weil nur so erkennbar wird, ob das Tatgericht das ihm insoweit nach § 59 Abs. 1 StPO zustehende Ermessen überhaupt ausgeübt hat (im Ergebnis ebenso Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., Rdnr. 13 zu § 59; vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 336 [OLG Frankfurt am Main 29.07.1999 - 3 Ss 192/99]).

8

Der damit gegebene Verfahrensverstoß muss in aller Regel zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen, weil sich kaum jemals ausschließen lassen wird, dass der Zeuge unter Eid anders ausgesagt hätte (BGH StV 1990, 6; OLG Koblenz VRS 67, 248, 250). So ist die Sachlage entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft auch hier.

9

Zwar hat die Rechtsprechung im Einzelfall Ausnahmen von der aufgezeigten Regel anerkannt (vgl. insbesondere BGH NStZ-RR 1997, 302 m. w. N.; auch BGH NStZ-RR 1999, 48 f.; NJW 1995, 1686 [BGH 14.12.1994 - 3 StR 486/94]; NJW 1986, 1999, 2000; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 363 f. [OLG Frankfurt am Main 10.07.1996 - 3 Ss 86/96]). Dies betraf indes Fälle, in denen das Beweisergebnis auch im Übrigen eindeutig war, der betroffenen Zeugenaussage ohnehin nur eine geringe Bedeutung zukam oder aber die Zeugen sich bei ihrer Aussage ohnehin sicher ihrer Eidespflicht bewusst waren (Sachverständiger, Polizeibeamter). Eine solche Konstellation lag hier jedoch nicht vor.

10

Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Zeugen bereits vor dem Amtsgericht ausgesagt hatten und deshalb möglicherweise mit einer eventuellen Vereidigung rechneten (vgl. in diesem Zusammenhang BGH NStZ 1987, 374, selbst für den Fall, dass ein bereits vereidigter Zeuge ein zweites Mal vernommen wird). Denn dadurch erlangen diese Zeugen nicht die besondere persönliche Stellung in der Zeugenrolle wie sie bei einem gerichtlich erfahrenen Sachverständigen oder Polizeibeamten gegeben ist.

11

Der Senat kann vorliegend weder ausschließen, dass die Kammer sich im Falle einer tatsächlichen Ermessensausübung für die Vereidigung insbesondere des Zeugen ... entschieden hätte, da sie dessen Aussage ersichtlich ausschlaggebende Bedeutung für die Widerlegung der Einlassung des Angeklagten beigemessen hat, noch dass insbesondere der Zeuge ... unter Eid anders ausgesagt hätte. Der Umstand, dass der Zeuge in mehreren Verfahrensstadien konstant ausgesagt hat, rechtfertigt entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft schon deshalb den gegenteiligen Schluss nicht, weil der Zeuge stets unvereidigt geblieben ist.

12

Das angefochtene Urteil konnte deshalb keinen Bestand haben.