Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 21.09.2005, Az.: 2 Ws 198/05

Außervollzugsetzung; Freiheitsentziehung; Haftbefehl; Haftverschonung; lebenslange Freiheitsstrafe; Mord; Tatschwere; Untersuchungshaft; Verfahrensdauer; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
21.09.2005
Aktenzeichen
2 Ws 198/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50912
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Haftbefehl der ... des Landgerichts ... vom 9. Juni 2005 betreffend die Angeklagte ... außer Vollzug gesetzt wird.

Der Angeklagten wird aufgegeben,

1. Sicherheit in Höhe von 100.000 € in bar zu leisten,

2. ihren Reisepass zu den Akten zu geben,

3. dem Landgericht nach der Entlassung aus der Haft unverzüglich ihren Wohnsitz anzuzeigen und künftig jeden Wechsel ihres Wohnsitzes oder ihres Aufenthaltes dem Landgericht unaufgefordert mitzuteilen,

4. sich täglich bei dem für ihren Wohnsitz zuständigen Polizeirevier persönlich zu melden.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Angeklagte. Die Beschwerdegebühr wird jedoch um 1/2 ermäßigt. Im selben Umfang hat die Landeskasse die notwendigen Auslagen der Angeklagten im Beschwerdeverfahren zu tragen.

Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

Gründe

1

I. Die ... des Landgerichts ... - Schwurgericht - verurteilte die Angeklagte am 16. Dezember 1997 wegen gemeinschaftlichen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Nachdem der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 10. Februar 1999 die gegen dieses Urteil gerichtete Revision der Angeklagten verworfen und mit Urteil vom selben Tage auf die Revision der Staatsanwaltschaft das Urteil des Schwurgerichts hinsichtlich der Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld aufgehoben hatte, verbüßte die Angeklagte die lebenslange Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Schwurgerichts. Auf die Verfassungsbeschwerde der Angeklagten hob das Bundesverfassungsgericht indes mit Entscheidung vom 25. Januar 2005 den Verwerfungsbeschluss des Bundesgerichtshofes auf. Die ... des Landgerichts ... erließ darauf am 9. Juni 2005 erneut Haftbefehl gegen die Angeklagte. Im Haftprüfungsverfahren lehnte die Kammer den Antrag der Angeklagten auf Aufhebung, hilfsweise Außervollzugsetzung des Haftbefehls vom 9. Juni 2005 mit Beschluss vom 8. August 2005 ab. Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer Beschwerde.

2

II. Die Beschwerde hat teilweise Erfolg. Sie führt zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls.

3

Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft liegen indes vor. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Gründen des Urteils des Schwurgerichts vom 16. Dezember 1997, auf die Bezug genommen wird. Diesen kam trotz der mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Januar 2005 entfallenden Rechtskraft maßgebliche Bedeutung zu, weil dem erkennenden Gericht mit der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung standen, die der Senat als Beschwerdegericht nicht hat (Senatsbeschluss vom 10. März 2005, 2 Ws 49/05; OLG Brandenburg StraFo 2000, 318, 319 [OLG Brandenburg 31.05.2000 - 2 Ws 152/00]). Demnach liegt das Schwergewicht der Überprüfung durch den Senat darauf, ob das Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung wesentliche Umstände nicht mehr vertretbar gewürdigt, nicht berücksichtigt oder verkannt hat. Dies ist nicht der Fall. Diese Bewertung ändert sich im Übrigen auch nicht dadurch, dass infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Bundesgerichtshof möglicherweise das Urteil wegen nicht ordnungsgemäßer Einführung von verwerteten Telefonlisten im Schuldspruch aufheben könnte. Denn selbst in diesem Fall stände einer nunmehr ordnungsgemäßen Einführung dieser Telefonlisten in einer neuerlichen Hauptverhandlung nichts entgegen.

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Aus den im Wesentlichen zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses besteht auch der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO. Bei verfassungskonformer Auslegung dieser Vorschrift ist der Erlass eines Haftbefehls zulässig und geboten, wenn Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Haftanordnung die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Eine demnach erforderliche geringe oder entfernte Gefahr der Flucht (vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Aufl., Rdnr. 38 zu § 112 a) besteht im Falle der Angeklagten.

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Wie bereits die Kammer in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, droht der Angeklagten nach wie vor die Verbüßung einer Reststrafe von mehr als fünf Jahren aus dem Urteil des Schwurgerichts vom 16. Dezember 1997, im Falle der noch möglichen Feststellung der besonderen Schuldschwere sogar eine noch deutlich längere Verbüßungszeit. Von einer derartigen Straferwartung geht durchaus ein erheblicher Fluchtanreiz für die Angeklagte aus. Es erscheint gerade vor dem Hintergrund des bisherigen Lebensweges der Angeklagten und der Vorgeschichte der Tat, wie sie sich aus dem Urteil vom 16. Dezember 1997 ergibt, nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass die Angeklagte diesem Fluchtanreiz nachgeben könnte. Denn die Angeklagte hat in der Vergangenheit gerade in Bezug auf partnerschaftliche Beziehungen eine Neigung zu unüberlegten Handlungen gezeigt, die insbesondere die Möglichkeit nicht völlig fern liegend erscheinen lässt, dass sie sich dem weiteren Strafverfahren und einer etwaigen weiteren Strafvollstreckung im Interesse der nach ihren Angaben neu begründeten Partnerschaft zu einem Mann, dessen Identität sie dem Gericht nicht preisgeben will, durch Flucht entziehen könnte, obwohl nicht zu verkennende Bindungen zur Familie bestehen und durchaus von einer mehrjährigen Bewährung der Angeklagten in Vollzugslockerungen auszugehen ist.

6

Auch gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch nicht die Aufhebung des Haftbefehls gemäß § 120 Abs. 1 StPO. Zwar verstärkt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gewicht des Freiheitsanspruchs der Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (zuletzt BVerfG NStZ 2005, 456, 457 [BVerfG 22.02.2005 - 2 BvR 109/05] m. w. N.; vgl. auch OLG Hamm NStZ-RR 1998, 307 f. [OLG Hamm 24.03.1998 - 2 Ws 101/98]), sodass mit zunehmendem Freiheitsentzug die Belange des Untersuchungsgefangenen stärkeres Gewicht erlangen.

7

Diese Gesichtspunkte beanspruchen auch in vorliegender außergewöhnlicher Konstellation Geltung, ohne dass es entscheidend darauf ankäme, ob die mehrjährige Dauer des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK zu werten ist, wofür aus den von der Verteidigung vorgetragenen Erwägungen vieles spricht. Bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung kann keinesfalls unberücksichtigt bleiben, dass die Angeklagte nunmehr deutlich mehr als neun Jahre Freiheitsentzug im Nachhinein ohne rechtskräftige Grundlage erlitten hat. Hinzu kommt, dass der besondere Verfahrensablauf hier dazu führt, dass die Angeklagte selbst der durch ihr beanstandungsfreies Verhalten im Vollzug erwachsenen Vergünstigungen in Form von Lockerungen verlustig geht und trotz der Bewährung in den Lockerungen über Jahre hinweg die bereits konkreten Planungen für den Übergang in den offenen Vollzug Makulatur werden. Bei dieser Sachlage bedarf es ganz besonders gewichtiger Gründe, um die Fortdauer der Untersuchungshaft zu rechtfertigen.

8

Solche Gründe liegen hier aber zur Überzeugung des Senats vor. Sie ergeben sich aus der besonderen Schwere der der Angeklagten zur Last gelegten Tat. Die Angeklagte ist des schwersten Verbrechens dringend verdächtig, das das deutsche Strafgesetzbuch kennt und für das die lebenslange Freiheitsstrafe absolut angedroht ist. Dabei hat die Angeklagte infolge des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 10. Februar 1999 zudem durchaus noch mit der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zu rechnen, sodass eine Vollstreckung der Freiheitsstrafe deutlich über die Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren hinaus in Betracht kommt. An dieser Prognose ändert sich im Übrigen auch nichts dadurch, dass die Angeklagte möglicherweise durch einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK belastet ist. Eine Ausnahme von der absoluten Strafdrohung des § 211 StGB hat der Bundesgerichtshof bislang allein für den Fall des Heimtückemordes bei Vorliegen außergewöhnlicher Milderungsgründe angenommen. Eine Vergleichbarkeit dieser Konstellation mit der vorliegenden ist nicht zu erkennen, weil es hier an mildernden tatbezogenen Umständen gerade fehlt. Es ist deshalb eher fern liegend, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK eine Strafrahmenverschiebung gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB im Falle der absoluten Strafdrohung des § 211 StGB begründen können soll.

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Der ungewöhnliche Verfahrensablauf und die Dauer der Freiheitsentziehung gebieten jedoch eine besonders sorgfältige Prüfung, ob nicht eine Aussetzung des Vollzuges des Haftbefehls gemäß § 116 StPO in Betracht kommt. Diese Prüfung ergibt, dass der Haftbefehl des Landgerichts ... vom 9. Juni dieses Jahres gegen die aus der Beschlussformel ersichtlichen rigiden Maßnahmen außer Vollzug zu setzen ist. Insbesondere mit der umfassenden Meldeverpflichtung und der Anordnung der beträchtlichen Sicherheitsleistung, die nach Aktenlage auch von der vermögenden Angeklagten nur durch eine Kreditaufnahme zu finanzieren sein wird, kann der ohnehin nur geringen Fluchtgefahr ausreichend wirksam begegnet werden. Die Höhe der festgesetzten Sicherheitsleistung orientiert sich an dem ursprünglichen Kautionsangebot der Angeklagten, dem Hinweis in der Beschwerdeschrift, dass auch eine höhere Sicherheitsleistung mit Unterstützung von Familienangehörigen erbracht werden könne, und dem erheblichen Immobilienvermögen der Angeklagten.

10

Die Angeklagte wird darauf hingewiesen, dass die Außervollzugsetzung des Haftbefehls erst mit Erbringung der Sicherheitsleistung wirksam wird und der Vollzug des Haftbefehls wieder angeordnet werden kann, wenn die Angeklagte den ihr auferlegten Pflichten nicht nachkommt, Anstalten zur Flucht trifft oder neu hervortretende Umstände eine Verhaftung erforderlich machen sollten.

11

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 4 StPO.