Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 12.09.2008, Az.: 2 W 358/08
Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe
Bibliographie
- Gericht
- OLG Braunschweig
- Datum
- 12.09.2008
- Aktenzeichen
- 2 W 358/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 36750
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGBS:2008:0912.2W358.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Braunschweig - 08.08.2008
Rechtsgrundlagen
- Teil 3 Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG
- Nr. 2503 Nr. 2 VV RVG
- § 58 Abs. 2 RVG
- § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO
Fundstellen
- AGS 2008, 606-608 (Volltext mit red. LS u. Anm.)
- FamRZ 2009, 718-720 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- HRA 2008, 3-4
- NJW-RR 2009, 558-560 (Volltext mit amtl. LS)
- OLGReport Gerichtsort 2008, 837-839
- RVGreport 2009, 66-67 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
Amtlicher Leitsatz
1. Die Anrechnungsbestimmung gemäß Teil 3 Vorbem. 3 Abs. 4 RVG-VV, wonach bei einer vorgerichtlichen Tätigkeit eines Rechtsanwalts in derselben Angelegenheit im nachfolgenden gerichtlichen Verfahren nur eine verminderte Verfahrensgebühr (vgl. BGH, 22. Januar 2008, VIII ZB 57/07, NJW 2008, 1323 f.) entsteht, ist auch bei der Vergütungsfestsetzung zugunsten eines im Prozesskostenhilfeverfahren beigeordneten Rechtsanwalts zu beachten.
2. Diese Anrechnung bei der Vergütungsfestsetzung im Prozesskostenhilfeverfahren steht nicht im Widerspruch zu § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO und § 58 Abs. 2 RVG, weil sie der gesetzlichen Regelungssystematik entspricht.
3. Die Anrechnung bei der Vergütungsfestsetzung im Prozesskostenhilfeverfahren ist auch verfassungsgemäß, weil dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Gebührenordnungen ein Ermessenspielraum zusteht (BVerfG, 15. Dezember 1999, 1 BvR 1904/95, 1 BvR 602/96, 1 BvR 1032/96, 1 BvR 1395/97, 1 BvR 2284/97, 1 BvR 1126/94, 1 BvR 1158/94, 1 BvR 1661/95, 1 BvR 2180/95, 1 BvR 283/97, 1 BvR 224/97, 1 BvR 35/98, BVerfGE 101, 331, 347) und die finanziellen Beeinträchtigungen durch die dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz zugrundeliegende Mischkalkulation hinreichend ausglichen werden.
4. Die Gefahr, dass ein im Prozesskostenhilfeverfahren beigeordneter Rechtsanwalt durch die Anrechnungsbestimmung auf einen Gebührenanspruch gegenüber seinen Mandanten verwiesen werden könnte, den er wegen dessen wirtschaftlicher Verhältnisse nicht realisieren kann, besteht nicht bzw. kann der Rechtsanwalt selber ausschließen. Verfügt der Mandant im Zeitpunkt der vorgerichtlichen Beratung über ausreichend finanzielle Mittel, kann sich der Rechtsanwalt durch einen Vorschuss absichern. Hat der Mandant nicht die ausreichenden Mittel, kann Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz in Anspruch genommen werden mit der Folge, dass eine Anrechnung nach Teil 3 Vorbem. 3 Abs. 4 RVG-VV unterbleibt und die Vergütung aus der Beratungshilfe lediglich nach Nr. 2503 Nr. 2 RVG-VV anzurechnen ist.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen den Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 8. August 2008 wird zurückgewiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I. Das Landgericht hat der Klägerin mit Beschluss vom 2. Mai 2008 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und ihr Rechtsanwalt X........ als Prozessbevollmächtigten beigeordnet. Mit Schriftsatz vom 08. 05. 2008 beantragte dieser die Zahlung von 628,68 €, wobei er neben einer 1,3-fachen Verfahrensgebühr bezogen auf einen Streitwert von 86.126,94 € die Post- und Telekommunikationspauschale sowie 19 % Umsatzsteuer geltend machte. Ferner teilte er mit, vorgerichtliche Gebühren aus VV Nr. 2300 in Höhe von 260,40 € von der Klägerin erhalten zu haben.
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle beim Landgericht Braunschweig interpretierte das Schreiben des Prozessbevollmächtigten als Vorschussantrag, bewilligte jedoch nur einen Vorschuss in Höhe von 473,74 €, weil sie der Auffassung war, dass die Hälfte der erhaltenen vorgerichtlichen Gebühren auf die Verfahrensgebühr anzurechnen sei. Der Erinnerung von Rechtsanwalt X...........vom 23. 05. 2008 half das Landgericht Braunschweig mit Beschluss vom 08. 08. 2008 nicht ab. Gegen diese Entscheidung wendet sich Rechtsanwalt X.......... mit der sofortigen Beschwerde vom 15. 08. 2008, die am 18. 08. 2008 beim Landgericht Braunschweig einging. Er ist der Auffassung, dass die vorgerichtliche Zahlung auf seinen Anspruch auf Prozesskostenhilfevergütung aus der Staatskasse nicht anzurechnen sei.
II. Die Beschwerde des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist gem. §§ 56 Abs. 2, 33 RVG zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
Gemäß § 47 Abs. 1 S. 1 RVG steht einem Rechtsanwalt im Rahmen eines Prozesskostenhilfeverfahrens für bereits entstandene Gebühren ein angemessener Vorschuss zu. Da bisher nicht in der Sache verhandelt worden ist, kann sich der Vorschussanspruch von Rechtsanwalt X.......... nur auf die Verfahrensgebühr zuzüglich Post- und Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer unter Berücksichtigung der Gebührenvorschriften nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz richten.
Entgegen der Ansicht von Rechtsanwalt X.............. findet dabei aus den nachfolgenden Gründen eine hälftige Anrechnung der vorgerichtlichen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr statt:
Gemäß §§ 45 Abs. 1, 55 Abs. 1 RVG ist die Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts in Höhe der gesetzlichen Vergütung festzusetzen, wobei sich die Höhe der Wertgebühr nach § 49 RVG richtet. Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gemäß Teil 3 Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG die in dem anschließenden gerichtlichen Verfahren nach Nr. 3100 VV RVG anfallende Verfahrensgebühr durch die anteilige Anrechnung einer vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG mindert. Dabei ist es bereits dem Wortlaut der Anrechnungsbestimmung nach ohne Bedeutung, ob die ggf. vom Prozessgegner auf materiell-rechtlicher Grundlage zu erstattende Geschäftsgebühr unstreitig, geltend gemacht, tituliert oder sogar schon beglichen ist (BGH NJW 2008, 1323, 1324). Der Grund für diese Regelung liegt darin, dass Geschäfts- und Verfahrensgebühr teilweise denselben Aufwand vergüten, weshalb ein Rechtsanwalt, der bereits im Rahmen seiner vorgerichtlichen Tätigkeit mit der Sache befasst gewesen ist, in der Regel für die Prozessvertretung eines geringeren Einarbeitungs- bzw. Vorbereitungsaufwandes bedarf. Diesem Umstand trägt der Gesetzgeber mit der oben benannten Regelung Rechnung, derzufolge im anschließenden gerichtlichen Verfahren dem Rechtsanwalt ein geringerer Gebührenanspruch in Bezug auf die Verfahrensgebühr zusteht.
Da die Verfahrensgebühr aufgrund der benannten Anrechnungsvorschrift von vornherein nur in der gekürzten Höhe entsteht und die Rechtsanwaltvergütung im Prozesskostenhilfeverfahren hierzu keine abweichende Bestimmung enthält, ist diese Regelung auch grundsätzlich bei Festsetzung der Vergütung nach § 55 Abs. 1 RVG maßgebend. Die Anrechnung steht insoweit auch nicht im Widerspruch zu § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, weil diese Forderungssperre nur die Vergütung betrifft, die nach der Bewilligung von Prozesskostenhilfe entsteht, während die Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV bereits vor der Bewilligung eben durch die vorgerichtliche Tätigkeit des Anwalts für den Mandanten entstanden ist. Auch steht die Regelung des § 58 Abs. 2 RVG dieser Sichtweise nicht entgegen, weil nicht die Frage der Verrechnung von Vorschüssen und Zahlungen für die obige Rechtsfolge relevant ist, sondern vielmehr aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung kein höherer Vergütungsanspruch nach den Bestimmungen des RVG entsteht.
Dass insoweit ein im Rahmen der Prozesskostenhilfe beigeordneter Rechtsanwalt, der vorprozessual für seinen Mandanten tätig war, im Ergebnis für die gerichtliche Tätigkeit damit eine geringere Vergütung erhält als ein Rechtsanwalt, der erst im Klageverfahren im Rahmen der Prozesskostenhilfebewilligung für den Mandanten tätig wird, verstößt nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Da die Prozesskostenhilfe nur die gerichtliche Tätigkeit eines beigeordneten Anwalts vergütet, ist die oben beschriebene gesetzgeberische Intention sachgemäß, dass ein Anwalt, der bereits vorprozessual mit der Angelegenheit befasst war, einen geringeren Arbeitsaufwand für die Einarbeitung in den Prozess betreiben muss, als derjenige, der erstmals mit der Prozesslage befasst ist. Dieses rechtfertigt eine abweichende Vergütung auch des beigeordneten Rechtsanwalts.
Entgegen der Ansicht des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wird dadurch einer hilfsbedürftigen Partei auch nicht der Zugang zu den Gerichten erschwert bzw. Rechtsanwälten eine angemessene Vergütung verweigert.
Soweit einem im Prozesskostenhilfeverfahren beigeordneten Rechtsanwalt infolge der hälftigen Anrechnung der vorgerichtlichen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr bei entsprechend hohen Streitwerten im vorgerichtlichen Verfahren tatsächlich keine Verfahrensgebühr mehr zustehen sollte, weil diese gem. §§ 55, 49 RVG nach niedrigeren Wertgebühren entsteht als die vorgerichtlichen Geschäftsgebühr - so wie hier auch, was noch ausgeführt wird -, ist dieses im Rahmen der gebührenrechtlichen Mischkalkulation, die der Struktur des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes zugrundeliegt, hinzunehmen und verfassungsrechtlich unbedenklich. Dem Gesetzgeber steht bei der Ausgestaltung von Gebührenordnungen ein Ermessensspielraum zu (vgl. BVerfG 101, 331, 347 ff.). Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Gebührenordnungen jeder Art für die Betroffenen Vor- und Nachteile aufweisen. Das gelte für ein Stundensatz-System ebenso wie für Fallpauschalen oder die Anknüpfung an den Gegenstandswert. Welcher gesetzlichen Regelung in einer bestimmten Situation der Vorzug gegeben werde, richte sich nach der Einschätzung des Gesetzgebers auf der Grundlage verfügbarer Erkenntnisse, wobei der Entscheidung zum Kostendämpfungsgesetz (BVerfGE 70, 1, 30) weiter zu entnehmen ist, dass für die Beurteilung nicht die Interessenlage des Einzelnen, sondern eine generalisierende Betrachtungsweise des betroffenen Wirtschaftszweiges maßgeblich ist. Dass die dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz zugrundeliegende Mischkalkulation zur angemessenen Rechtsanwaltsvergütung wegen dieser Anrechnungskonstellation diesen gesetzgeberischen Spielraum überschreitet, ist nicht ersichtlich. Insoweit ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass Rechtsanwälten aufgrund der Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Mitteln der Allgemeinheit erst ein Markt eröffnet wird, der ansonsten gar nicht für sie bestünde.
Die Anrechnungsbestimmung führt auch nicht zu einer weiteren Verkürzung der dem beigeordneten Rechtsanwalt zustehenden Gebühren. Sofern ein Mandant aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse bereits vor dem gerichtlichen Verfahren, mithin zu dem Zeitpunkt, zu dem der Anwalt für ihn außergerichtlich tätig wird, wirtschaftlich nicht in der Lage ist, die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu bezahlen, muss ein Rechtsanwalt ohnehin den Mandanten auf die Möglichkeit zur Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz hinweisen. Liegen die Voraussetzungen nach dem Beratungshilfegesetz vor, kann der Rechtsanwalt von seinem Mandanten gem. Ziff. 2500 VV RVG eine Beratungshilfegebühr in Höhe von 10,00 € verlangen und im Übrigen die weiteren Gebühren, insbesondere eine Geschäftsgebühr in Höhe von 70,00 € nach Ziffer 2503 VV RVG gegenüber der Staatskasse mit der Folge geltend machen, dass gem. Ziffer 2503 Nr. 2 VV RVG diese Gebühr, die er aus der Staatskasse erstattet erhält, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens bei Prozesskostenhilfebewilligung nur zur Hälfte auf die anschließende Verfahrensgebühr anzurechnen ist. Eine Anrechnung einer Geschäftsgebühr nach den Nummern 2300 bis 2303, wie in Teil 3 der Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG bestimmt, findet dann nicht statt, weil eine solche Gebühr im Rahmen einer Beratungshilfe nicht entsteht.
Die Gefahr, dass ein im Prozesskostenhilfeverfahren beigeordneter Rechtsanwalt durch die Anrechnungsbestimmung auf einen Gebührenanspruch gegenüber seinem Mandanten verwiesen werden könnte, den er wegen dessen wirtschaftlicher Verhältnisse nicht realisieren kann, besteht nicht bzw. kann der Rechtsanwalt selber ausschließen. Mittels eines Vorschusses kann er seinen vorgerichtlichen Vergütungsanspruch vor einem nachträglichen Vermögensverfall seines Mandanten sichern, sofern der Mandant im Zeitpunkt der vorprozessualen Tätigkeit des Rechtsanwalts noch über ausreichend eigene finanzielle Mittel verfügt. Ist der Mandant bereits zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, die Rechtsanwaltskosten zu tragen, ist der Rechtsanwalt im Rahmen einer sachgerechten Beratung ohnehin gehalten, den Mandanten auf die Möglichkeiten des Beratungshilfegesetzes hinzuweisen mit der Folge, dass beim Vorliegen der Voraussetzungen nach dem Beratungshilfegesetz auch eine Anrechnung gemäß Teil 3 der Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG - wie oben dargelegt - gar nicht erfolgt.
Infolgedessen hat der beigeordnete Rechtsanwalt vorliegend mit der Entscheidung der Urkundsbeamtin bereits einen höheren Vorschuss erhalten, als ihm nach dem Gesetz zusteht. Auf die 1,3-fachen Verfahrensgebühr in Höhe von 508,30 € zzgl. Mehrwertsteuer ist nämlich die vorgerichtlich entstandene Geschäftsgebühr in Höhe von 1.660,10 € zur Hälfte, mithin in Höhe von 830,05 € anzurechnen.
Die Kostenentscheidung bzgl. dieses Beschlusses ergibt sich aus § 56 Abs. 2 S. 2, 3 RVG. Eine weitere Klärung dieser Rechtsfrage durch den Bundesgerichtshof ist gem. § 33 Abs. 4 S. 3 RVG nicht möglich.