Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 15.05.2009, Az.: 3 B 35/09

Verbot einer Versammlung oder Abhängigmachen einer Versammlung von Auflagen bei unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit; Einordnung der Weigerung eines Antragstellers zur Teilnahme an Kooperationsgesprächen als eine fehlende Distanzierung von eventuell gewaltbereiten Teilnehmern und als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
15.05.2009
Aktenzeichen
3 B 35/09
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 16465
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2009:0515.3B35.09.0A

Verfahrensgegenstand

Versammlungsverbot

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Das Verbot einer Versammlung (Demonstration) unter freiem Himmel kommt nur als ultima ratio in Betracht. Das öffentliche zur Schau stellen von rechtsextremistischem Gedankengut und Verhaltensweisen rechtfertigt für sich noch nicht ein Versammlungsverbot. Vielmehr bedarf es einer konkreten Gefahr für die öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Verbotsverfügung müssen erkennbare, d.h. nachweisbare Tatsachen dafür vorliegen, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, bloße Vermutungen genügen insoweit nicht.

  2. 2.

    Ein Verbot der gesamten Versammlung wegen befürchteter Ausschreitungen einer gewaltorientierten Minderheit ist nur unter strengen Voraussetzungen bei Vorliegen einer unmittelbaren Gefahr möglich. Ein solcher Fall liegt vor, wenn voraussichtlich eine nicht unerhebliche Anzahl von Demonstranten allein mit dem Ziel anreisen wird, bei sich bietender Gelegenheit aus der Versammlung heraus in gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei oder Anhängern andersdenkender Gruppierungen zu treten.

  3. 3.

    Die Weigerung des Versammlungsveranstalters zur Teilnahme an Kooperationsgesprächen kann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründen. Eine fehlende Kooperationsbereitschaft liegt jedoch nicht vor, wenn der Veranstalter zwar die Teilnahme an vorgeschlagenen Kooperationsgesprächen verweigert, sich aber zur schriftlichen Kooperation bereit erklärt und eine schriftliche Kooperation auch im Hinblick auf den Zeitablauf möglich ist.

In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 3. Kammer -
am 15. Mai 2009
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 14. Mai 2009 (Az.: 3 A 95/09) gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 12. Mai 2009 wird wiederhergestellt.

    Der Antragsgegnerin bleibt vorbehalten, zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei Durchführung der Versammlung nach § 15 Abs. 1 VersG Auflagen zu erlassen.

    Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

  2. 2.

    Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

1

Der Antragsteller begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner am 14. Mai 2009 erhobenen Klage (Az.: 3 A 95/09) gegen das Verbot der Antragsgegnerin vom 12. Mai 2009, die von ihm für den 23. Mai 2009 in der Zeit von 13.00 Uhr bis 20.00 Uhr angemeldete Versammlung unter dem Motto: "Gegen Behördenwillkür - Keine Blockade der Meinungsfreiheit" durchzuführen, bei der mit 100 bis 150 Teilnehmern gerechnet wird, die weitgehend dem radikal rechten Spektrum zuzurechnen sind.

2

Der gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag ist begründet.

3

Bei der vom Gericht zu treffenden Entscheidung, ob es gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnet bzw. in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 4 ganz oder teilweise wiederherstellt, sind die einander widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen. Dabei sind der Zweck des Gesetzes und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Im Rahmen der Abwägung kommt dem voraussichtlichen Ausgang des Hauptsacheverfahrens besondere Bedeutung zu. Je größer die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren, desto geringer sind die an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu stellenden Anforderungen. Das öffentliche Interesse wiegt demgemäß umso schwerer, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 80 Rn. 158 m.w.N.)

4

Bei der Anwendung dieser Maßstäbe überwiegt vorliegend das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn die angefochtene Verfügung erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig. Die Voraussetzungen für ein Versammlungsverbot liegen nicht vor.

5

Nach § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Durch diese Vorschrift wird das Grundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG, wonach alle Deutschen das Recht haben, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, beschränkt. Die Möglichkeit der Beschränkung der Versammlungsfreiheit ist in Art. 8 Abs. 2 GG ausdrücklich vorgesehen.

6

Das Verbot einer Versammlung unter freiem Himmel gemäß § 15 Abs. 1 VersG kommt jedoch nur als ultima ratio in Betracht, weil das Versammlungs- und Demonstrationsrecht zu den fundamentalen Grundrechten eines freiheitlichen Staatswesens gehört, dem insbesondere in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentationssystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes zukommt und das damit insbesondere auch dem Minderheitenschutz dient (BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, BVerfGE 69, 315 = NJW 1985, 2395, 2398 - Brockdorf -). Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet Grundrechtsträgern demnach das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben. Das öffentliche zur Schau stellen von rechtsextremistischem Gedankengut und Verhaltensweisen rechtfertigt für sich noch nicht ein Versammlungsverbot (so bereits Beschl. der Kammer vom 5.7.2007 - 3 B 21/07 - m.w.N). Die verfassungsrechtlichen Grenzen des Inhalts der auf einer Versammlung geäußerten Meinung richten sich nicht nach Art. 8 Abs. 2 GG, sondern nach Art. 5 Abs. 2 GG, es gilt hierbei die Vermutung zu Gunsten freier Rede in öffentlichen Angelegenheiten. Die Bürger sind grundsätzlich frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen oder die Änderung tragender Prinzipien zu fordern, soweit Meinungsäußerungen nicht auf verfassungsgemäße Weise rechtlich verboten, insbesondere unter Strafe gestellt sind (BVerfG, Beschl. v. 26.01.2006 - 1 BvQ 3/06 -, DVBl 2006, 386 [BVerwG 14.12.2005 - 10 CN 1/05] m.w.N).

7

Zur Annahme einer Gefährdung im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG genügt daher nicht eine abstrakte Gefahr für die öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung. Die Gefahr muss vielmehr so konkretisiert sein, dass nach dem gewöhnlichen Ablauf der Dinge der Eintritt der Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit in aller Kürze zu erwarten ist. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Verbotsverfügung müssen erkennbare, d.h., nachweisbare Tatsachen dafür vorliegen, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, bloße Vermutungen genügen insoweit nicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.04.1998 - 1 BvR 2311/94 -, NVwZ 1998, 834).

8

1.

Bei Anwendung dieser hohen Maßstäbe ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung, der nur durch ein Versammlungsverbot gemäß § 15 Abs. 1 VersG begegnet werden kann, nicht ersichtlich.

9

a)

Das Versammlungsverbot lässt sich nicht mit zu erwartenden polizeilich nicht zu beherrschenden Störungen der öffentlichen Sicherheit, insbesondere nicht mit zu befürchtenden Übergriffen auf Polizeibeamte und Dritte durch die Teilnehmer der vom Antragsteller angemeldeten Demonstration begründen.

10

Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der Schutz der Versammlungsfreiheit grundsätzlich auch dann erhalten blieben, wenn einzelne Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen. Ein vorbeugendes Verbot der gesamten Versammlung wegen befürchteter Ausschreitungen einer gewaltorientierten Minderheit ist nur unter strengen Voraussetzungen bei Vorliegen einer unmittelbaren Gefahr möglich. Eine unmittelbare Gefahr ist dann anzunehmen, wenn voraussichtlich zu der angemeldeten Versammlung eine nicht unerhebliche Anzahl von Demonstranten allein mit dem Ziel anreisen wird, bei sich bietender Gelegenheit aus der Versammlung heraus in gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei oder Anhängern andersdenkender Gruppierungen zu treten (vgl. zuletzt OVG Lüneburg, Beschl. v. 27.04.2009 - 11 ME 225/09 -, Rechtsprechungsdatenbank d. Nds. Oberverwaltungsgerichts). Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin nicht dargelegt, dass gerade aus dem zu erwartenden Teilnehmerkreis der angemeldeten Versammlung eine erhebliche Anzahl von Personen gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei oder Dritten sucht.

11

aa)

Die Antragsgegnerin hat das Versammlungsverbot vor allem mit den Ereignissen während der letzten vom Antragsteller angemeldeten Versammlung am 11. April 2009 und der drohenden Wiederholungsgefahr begründet. Ihr ist insofern zu folgen, als sie die geplante Versammlung am 23. Mai 2009 als eine direkt an die Versammlung vom 11. April 2009 anknüpfende Aktion wertet. Denn der Zusammenhang der beiden Versammlungen wird ausdrücklich auf der vom Antragsteller mit betriebenen Internetseite http://www.demo-lueneburg.com/ unter Bezugnahme auf das Versammlungsmotto "Gegen Behördenwillkür - keine Blockade der Meinungsfreiheit!" bestätigt.

12

Die Geschehnisse am 11. April 2009 sind im Einzelnen noch ungeklärt. Aus den bisherigen Erkenntnissen ergibt sich noch keine hinreichende Grundlage für die Verbotsverfügung. So findet sich in den Verwaltungsvorgängen der polizeiliche Hinweis vom 7. Mai 2009, nach dem ungeklärt ist, ob sich unter den Teilnehmern gewaltbereite Angehörige rechtsextremer Kameradschaften oder Autonomer Nationalisten befunden haben.

13

Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, dass sich die Situation vom 11. April 2009 bei der Versammlung am 23. Mai 2009 zwangsläufig wiederholen wird. Der Streckenverlauf der angemeldeten Demonstration entspricht nicht dem vom 11. April 2009, insbesondere ist weder der Bahnhof Lüneburg noch die "Stint- Brücke" in die Demonstrationsroute einbezogen. Ob der Aufzug auf der geplanten Strecke erneut von Gegendemonstranten durch Sitzblockaden verhindert wird, ist offen. Zwar ruft die Antifaschistische Aktion auf ihrer Internetseite http://www.nazis-aufhalten.de/ dazu auf, die Demonstrationsroute zu behindern. Es ist aber fraglich, ob es erneut zu einer Sitzblockade kommen wird. Dagegen könnte sprechen, dass ein Überraschungseffekt wie am 11. April 2009 unwahrscheinlich ist und aufgrund der Sensibilisierung der Polizei eine Sitzblockade von ihr voraussichtlich verhindert werden könnte. Im Fall der erfolgreichen Sitzblockade bliebe die Möglichkeit der kurzfristigen Streckenänderung. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller eine Routenänderung grundsätzlich verweigern würde. Ausweislich seines eigenen Vorbringens hat er bzw. Herr Worch bereits am 11. April 2009 eine geänderte Strecke vorgeschlagen. Das Verbot oder die Auflösung der Auflösung der Versammlung müssen letztes Mittel bleiben.

14

bb)

Sonstige konkrete polizeiliche Erkenntnisse, die hinreichenden Anhalt für die Annahme bieten könnten, dass es bei der hier in Rede stehenden Versammlung zu Gewalttaten durch Teilnehmer aus der rechten Szene kommen könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Es sind keine Aufrufe zu Gewalttätigkeiten bekannt. Auch Zahl und Kreis der zu erwartenden Teilnehmer stützen nicht eine solche Gefahrprognose. Es handelt sich bei der geplanten Veranstaltung nicht um eine Großdemonstration wie zuletzt in Hamburg und Hannover, sondern um eine Veranstaltung mit 100 bis 150 Teilnehmern. Selbst wenn einzelne gewaltbereite Angehörige rechtsextremer Kameradschaften oder Autonomer Nationalisten teilnehmen sollten, ist angesichts der Veranstaltungsgröße die Bildung eines sog. Schwarzen Blocks, der in Anonymität agiert, kaum möglich. Zumindest wären polizeiliche Maßnahmen erfolgversprechend.

15

cc)

Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Weigerung des Antragstellers zur Teilnahme an Kooperationsgesprächen noch keine fehlende Distanzierung von eventuell gewaltbereiten Teilnehmern und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründet. Das BVerfG hat im sog. Brokdorf-Beschluss aus Art. 8 Abs. 1 GG eine Verpflichtung der Behörde abgeleitet, vor und bei teilweise unfriedlichen Großversammlungen die Kooperation mit den friedlichen Demonstrationsteilnehmern zu suchen, um drohenden Unfriedlichkeiten vorzubeugen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, BVerfGE 69, 315 = NJW 1985, 2395, 2398 f. - Brockdorf -). Kooperationsbemühungen sind schon deshalb im Interesse der Behörde, weil im Falle des Scheiterns dieser Bemühungen spätere Verbote und Auflösungen umso eher einer verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung standhalten als die Behörde sich zuvor ernsthaft für die friedliche Durchführung der Versammlung eingesetzt hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, BVerfGE 69, 315 = NJW 1985, 2395, 2399 - Brockdorf -). Allerdings ist Kooperation ein Vorgang, der auf Gegenseitigkeit beruht, d.h., die behördlichen Bemühungen müssen eine Entsprechung im Verhalten des Veranstalters finden (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 15. Auflage 2008, § 14 Rn. 51 ff. m.w.N.). Die Kooperation ist dabei keine Rechtspflicht des Veranstalters, sondern eine bloße Obliegenheit (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1. Mai 2001 - 1 BvQ 21/01 -, NVwZ 2001, 907 f.). Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist von einer ausreichenden Kooperationsbereitschaft des Antragstellers auszugehen. Mit Schreiben vom 24. April 2009 meldete der Antragsteller nicht nur die Versammlung für den 23. Mai 2009 an, sondern teilte der Antragsgegnerin seine Anschrift, Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse für eventuelle Rückfragen mit. Er verweigerte zwar die Teilnahme an den von der Antragsgegnerin vorgeschlagenen Kooperationsgesprächen, erklärte sich aber zur schriftlichen Kooperation bereit. Mit Schreiben vom 7. Mai 2009 lehnte die Antragsgegnerin die schriftliche Kooperation aus "grundsätzlichen Erwägungen" und unter Hinweis auf die fehlende Praktikabilität ab. Nach Auffassung des Gerichts gehören zum versammlungsfreundlichen Verfahren umfassende Kooperationsbemühungen der Behörde, die nicht grundsätzlich auf Gespräche beschränkt werden können, wenn andere Möglichkeiten zur Kooperation bestehen. Eine schriftliche Kooperation der Beteiligten wäre in dem fast einmonatigen Zeitraum zwischen der Versammlungsanmeldung und -durchführung auch möglich gewesen. Kurzfristige Absprachen hätten durch E-Mail-Kontakt erfolgen können.

16

b)

Soweit die Antragsgegnerin die Verbotsverfügung auf die Prognose einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit der angekündigten Demonstration der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) gestützt hat, ist auch das nicht ausreichend.

17

aa)

Soweit die Antragsgegnerin darauf hinweist, dass es bei zahlreichen Demonstrationen des rechts- und linksextremen Spektrums immer wieder zu erheblichen Auseinandersetzungen kommt, und dafür konkrete Vorfälle aus verschiedenen Städten in den verschiedenen Jahren aufführt, hat das keinen Bezug zu der hier angemeldeten Versammlung. Die Vorkommnisse in Rotenburg und Minden etwa betreffen Auseinandersetzungen zwischen linksextremen Gruppen und der Polizei und können schon deshalb keine Gefahr für die jetzt angemeldete Versammlung begründen. Im Übrigen können solche Auseinandersetzungen dadurch vermieden werden, dass "linke" und "rechte" Gruppen voneinander ferngehalten werden. So hat denn auch die Polizeiinspektion Lüneburg in einer Stellungnahme vom 13. Mai 2009 ausgeführt, dass bei der hier angemeldeten Versammlung und der angemeldeten Gegenversammlung eine direkte Konfrontation dadurch vermieden werden kann, dass die eine Gruppe im Ostteil der Stadt ihr Demonstrationsrecht ausüben kann und die andere Gruppe im Westteil. Der Lösegraben und die Schießgrabenstraße könnten gleichsam die "Grenze" zwischen den Gruppierungen bilden. Der Straßenverkehr auf den Straßen Am Schifferwall / Schießgrabenstraße in beiden Richtungen könnte aufrecht erhalten bleiben, die Parkhäuser Stadtmitte und Karstadt blieben erreichbar und der Interessenlage des Einzelhandels würde Rechnung getragen. Das bedeutet: Kann durch eine solche Grenzziehung das Zusammentreffen politisch verschieden denkender Gruppen vermieden werden, kann die Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch Modifikation der hier angemeldeten Aufzugsroute und durch andere Auflagen vermieden werden, so dass sich ein völliges Verbot als unverhältnismäßig darstellt.

18

bb)

Es sind ferner keine Gründe ersichtlich, warum nicht beide Versammlungen am 23. Mai 2009 stattfinden können. Auch nach Aussage der Polizei ist dies möglich, wenn das Zusammentreffen beider Veranstaltungen vermieden wird. Wenn die Antragsgegnerin auf gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen dem linken und dem rechten Spektrum in der Vergangenheit in anderen Städten verweist, ist daraus noch keine Gefahrenlage für die Stadt Lüneburg am 23. Mai 2009 herzuleiten. Bei eventuellen Störungen oder Behinderungen wären behördliche Maßnahmen dann primär gegen die Störer zu richten und nur im Sonderfall des polizeilichen Notstandes gegen Nichtstörer. Es ist im Gegensatz zu der Situation am 1. Mai nicht ersichtlich, dass ausreichende Polizeikräfte am 23. Mai 2009 fehlen werden.

19

2.

Das Verbot der Versammlung lässt sich auch nicht auf die Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG stützen. Im Allgemeinen reicht eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht aus, um ein Versammlungsverbot zu rechtfertigen. Ein Ausnahmefall ist nicht ersichtlich. Anhaltspunkte dafür, dass die geplante Versammlung in einer Weise durchgeführt werden soll, welche das sittliche Empfinden und grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzen, hat die Antragsgegnerin nicht benannt. Die Anmeldung lässt solche auch nicht erkennen. Allein der Umstand, dass am 23. Mai 2009 eine Versammlung durchgeführt wird, an der überwiegend Personen teilnehmen, die dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind, beinhaltet noch nicht eine solche provokative Wirkung. Die Versammlung nimmt im Übrigen weder Bezug auf die Wahl des Bundespräsidenten noch auf den 60. Jahrestag des Grundgesetzes.

20

3.

Nach alledem hat die Antragsgegnerin keine nachweisbaren Umstände vorgetragen, wonach bei Durchführung der Versammlung die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist und dieser Gefahr nur durch ein Versammlungsverbot begegnet werden kann. Ob und welche Auflagen gemäß § 15 Abs. 1 VersG erforderlich und unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Schutzes des Antragstellers aus Art. 5 und 8 GG angemessen sind, hat die Antragsgegnerin in dem bis zur Durchführung der geplanten Versammlung noch ausreichend verbleibenden Zeitraum zu entscheiden.

21

Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich die ursprüngliche angemeldete Aufzugsroute für den Antragsteller und seine Versammlungsteilnehmer nicht verwirklichen lassen wird. Denn die Antragsgegnerin hat bereits am 13. Mai 2009 eine Demonstration mit dem Thema "Keine Neonazis in unserer Stadt" bestätigt. Dieser Aufzug beginnt am Kran, geht über Stintmarkt, Rosenstraße, Markt hin zum Lambertiplatz. Nach der polizeilichen Einschätzung, wie sie in der Stellungnahme der Polizeiinspektion Lüneburg vom 13. Mai 2009 zum Ausdruck kommt, ist eine räumliche Separierung der Gruppen aus polizeilicher Sicht unerlässlich. Damit wird für den Antragsteller die Route geändert werden müssen. Dass eine solche Änderung im Wege der Auflage verhältnismäßig und rechtmäßig ist, um das Versammlungsrecht des Antragstellers doch noch zu verwirklichen, ist ohne weiteres anzunehmen. Möglicherweise müssen sich der Antragsteller und sein Anhang auf den Bahnhofsvorplatz und die Straßen "rechts" des Lösegrabens verweisen lassen. Die Streckenführung im Einzelnen kann noch zwischen den Beteiligten erörtert und festgelegt werden.

22

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

23

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.

24

...

Siebert
Minnich
Rohr