Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 17.06.2022, Az.: 1 A 14/22

Flüchtlingseigenschaft; Internetaktivist; Nachtfluchtgründe; Russische Förderation; Strafverfolgung; Ukrainekrieg

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
17.06.2022
Aktenzeichen
1 A 14/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59247
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Flüchtlingsanerkennung, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise die Zuerkennung von Abschiebungsverboten.

Der 31 Jahre alte Kläger ist russischer Staatsangehöriger und von Beruf Ingenieur. Er reiste mit einem deutschen Visum nach eigenen Angaben über Polen kommend am 01.08.2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Erst am 08.01.2020 stellte er einen Asylantrag.

Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 22.07.2020 trug der Kläger im Wesentlichen vor, er habe die Russische Föderation aus Sorge vor Verfolgung wegen seiner antifaschistischen Aktivitäten vor allem in sozialen Medien verlassen. Er habe seit dem Jahr 2009 der Antifaschismusbewegung angehört und sei zunächst zu Demonstrationen gegangen. In dieser Zeit sei er mehrfach von der Polizei kontrolliert worden, seine Daten seien aufgenommen worden. Ab 2012 bis 2017 habe er eine eigene Internetseite betrieben und einen Account bei „Kontakt“, der russischen Entsprechung von Facebook, unterhalten. Dort habe er Artikel über den Antifaschismus europaweit gesammelt und ins Russische übersetzt. Auch habe er eigene Artikel über den Antifaschismus geschrieben. Zudem habe er Geld gesammelt, um den Menschen zu helfen, die einen Rechtsanwalt gebraucht hätten oder ihre medizinische Behandlung nach den Überfällen durch die „Nazis“ hätten finanzieren müssen. Auf seinen Internetseiten habe der Antragsteller einen Spendenaufruf gestartet, um diesen Menschen helfen zu können. Des Weiteren habe er Anzeigen der Demonstrationen veröffentlicht. Im Jahre 2017 habe er insgesamt 12.000 Abonnenten mit täglich 500 Aufrufen gehabt. Die Antifaschisten seien gegen den Krieg, für die Rechte der Schwulen und Lesben und würden in Opposition zur Regierung stehen. Im Februar 2017 seien die Internetseiten von der Polizei gesperrt worden, was ihm seitens des Providers mitgeteilt worden sei. Die Begründung sei gewesen, es würde sich um eine extremistische Seite handeln. Ihm sei Hassverbreitung unterstellt worden. Einer seiner Freunde sei in der Stadt G. zur polizeilichen Vernehmung geladen worden und habe seinen Account anschließend gelöscht. Als er davon erfahren habe, habe er aus Angst sowohl seinen Account als auch die Inhalte auf dem Computer und auf dem Mobiltelefon gelöscht. Auch habe er die Sim-Karte weggeworfen. Im Februar oder März 2017 habe er seine Freunde kontaktiert und überlegt, wie er die Stadt H. verlassen könne und was er weitermachen solle. Eigentlich habe er seine Stadt sofort verlassen wollen, sei aber aufgrund des Stresses und der Aufregung krank geworden. Er habe Nierenprobleme bekommen, habe aber Angst bekommen, ins Krankenhaus zu gehen. Er habe selbst Tabletten eingenommen. Von März bis Mai habe er Angst gehabt, in seiner Wohnung zu leben, und habe sich bei Freunden aufgehalten. Etwa Anfang April 2017 habe er einen Polizisten bei sich im Haus gesehen, der ihn nicht bemerkt habe. Der Polizist habe im Treppenhaus im zweiten Stockwerk gestanden und aus dem Fenster geschaut. Seine Wohnung sei im sechsten Stockwerk gewesen. In diesem Moment habe er verstanden, dass er die Stadt verlassen müsse. Im Mai 2017 sei er in die Hauptstadt I. gekommen, wo er bei einem Freund gelebt habe. Er habe überlegt, was er weitermachen solle. Im Juni 2017 sei er in die Stadt J. weitergereist, wo er sich ein halbes Jahr aufgehalten habe. In dieser Zeit sei eine russischsprechende Frau aus K. nach J. gekommen, mit der er bereits früher wegen der Antifaschismusbewegung in Kontakt gestanden habe. Sie habe sich Sorgen gemacht, da er so plötzlich verschwunden sei. Sie habe ihm gesagt, dass er als Volontär nach Deutschland kommen könne. Im Januar 2018 sei der Antragsteller zum ersten Mal offiziell nach Deutschland gekommen, um die Leute der Organisation „L.“ kennenzulernen. Er habe sich hier zwischen dem 01.01.2018 und 08.01.2018 aufgehalten. Das ehrenamtliche Projekt habe im Juni 2018 beginnen sollen. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland habe er die Zeit in J. verbringen wollen. Als er und eine Freundin im Januar 2018 in J. unterwegs gewesen seien, hätten sie an den Wänden faschistische Sticker gesehen, die sie abgerissen hätten. Die Polizei habe es gesehen. Er und seine Freundin seien von der Polizei angehalten und gefragt worden, aus welchem Grund sie dieses gemacht hätten. Anschließend seien ihre Pässe kontrolliert und die Personaldaten aufgenommen worden. Aufgrund der Aufnahme der Personaldaten durch die Polizei habe er die Stadt verlassen wollen. Er habe Angst gehabt, dass die Polizei merken würde, wer er sei. Er habe seinen Job als Ingenieur bei der Entwicklung von Baukränen in J. gekündigt, die Stadt verlassen und sei zurück in seine Heimatstadt H. gegangen. Dort habe er gewartet, bis er das Visum bekommen habe. Anschließend habe er über I. sein Heimatland verlassen. Im Fall seiner Rückkehr befürchte er seine Inhaftierung und eine hohe Gefängnisstrafe.

Mit Bescheid vom 23.09.2020 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, forderte den Kläger zur freiwilligen Ausreise auf und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation im Fall der Zuwiderhandlung an und ordnete schließlich ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dem Kläger drohe auf Grundlage seiner Anhörung keine landesweite Verfolgung, andernfalls hätte er nicht unbemerkt sein Heimatland auf legalem Weg zweimal verlassen können oder an der Universität H. eine Arbeitsstelle finden können. Allein wegen der Asylantragstellung drohe ihm im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation ebenfalls keine Verfolgung.

Der Kläger hat am 13.10.2020 Klage erhoben. Er wiederholt seinen Vortrag aus der Anhörung und führt ergänzend aus, er habe in der Russischen Föderation mit seinem Blog „M.“ auf der gleichnamigen Internetseite, auf Twitter, Tumblr und auf Kontakt (vk.com) eines der größten antifaschistischen Projekte Russlands geschaffen. In Deutschland sei er weiter politisch tätig. Er habe seit 2018 ein neues Projekt „N.“ auf verschiedenen Plattformen und berichte auf diesen Seiten über die politische Situation in Russland und aktuell über die Kriegsverbrechen in der Ukraine. Das russische Strafrecht sei zuletzt verschärft worden. Im März 2022 sei ein neuer Straftatbestand „öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“ in Kraft getreten, der Freiheitsstrafen von 5 bis 15 Jahre vorsehe. Im Übrigen leide er an Depressionen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Ziffer 1 sowie 3 bis 6 ihres Bescheides vom 23.09.2020 () – zugestellt am 29.09.2020 – zu verpflichten,

a. ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

b. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

c. weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf den Herkunftsstaat vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen,

und verweist zur Begründung auf den streitgegenständlichen Bescheid.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 22.12.2020 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 17.06.2022 informatorisch angehört worden; insoweit wird auf das Protokoll verwiesen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogene Asylakte des Klägers verwiesen.

Entscheidungsgründe

Gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entscheidet die Einzelrichterin trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung über die Klage, weil die Beklagte mit der Ladung auf diese Folge ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist.

Die Klage ist zulässig und hinsichtlich des Hauptantrags begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 23.09.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1.

Abgestellt auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor.

Nach § 3 Abs. 4, 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560) ist nach § 3 Abs. 1 AsylG ein Ausländer, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung können namentlich die unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten, § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG.

Zwischen den nach § 3a AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (sog. Verfolgungshandlungen) und den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmalen muss nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal, z.B. eine bestimmte politische Überzeugung, zuschreibt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung solcher Art liegt schließlich vor, wenn dem Antragsteller politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zu alledem BVerwG, Urt. v. 05.11.1991; - 9 C 118.90 -, juris Rn. 17; BVerwG, EuGH-Vorlage v. 07.02.2008 - 10 C 33.07 -, juris Rn. 37).

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (sog. Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Soweit Nachfluchtgründe geltend gemacht werden, kann nach § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 zu erleiden, auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

Nach diesem Maßstab folgt die Einzelrichterin zwar der Einschätzung der Beklagten, nach der der Kläger trotz seiner Internetaktivitäten bis 2017 sein Heimatland nicht vorverfolgt verlassen hat. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dem Kläger zum damaligen Zeitpunkt (Sommer 2018) unter den seinerzeit in der Russischen Föderation geltenden Strafgesetzen bereits eine Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG drohte. Auch wenn der Kläger selbst angab, er habe absichtlich einen Bus für die Ausreise benutzt und eine beliebte Reisezeit gewählt, berichtete er selbst gegenüber dem Bundesamt, er sei bei der Ausreise kontrolliert worden. Wäre er schon ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten, wäre ihm das nach der zutreffenden Einschätzung der Beklagten nicht gelungen.

Der Kläger kann sich allerdings mit Erfolg auf Nachfluchtgründe i.S.d. § 28 Abs. 1a i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG berufen. Er hat im gerichtlichen Verfahren durch Vorlage von Auszügen aus seinen Veröffentlichungen in sozialen Medien sowie im Rahmen seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft gemacht, dass er sich weiter im Internet auf verschiedenen Plattformen kritisch mit der russischen Politik auseinandersetzt. Insbesondere äußert er sich nunmehr seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 ablehnend zu Umständen der Kriegsführung, die er als Kriegsverbrechen bewerte. Diese Aktivitäten stellen sich nach Überzeugung der Einzelrichterin als Fortentwicklung der politischen Aktivitäten des Klägers in seinem Heimatland dar, wo dieser sich zu verschiedenen innenpolitisch relevanten Themen bereits geäußert hatte, die er selbst als „antifaschistisch“ einordnete, unter anderem Antimilitarismus, Feminismus, LSBITQ-Fragen. Dem Kläger gelingt es zwar nicht, den Verbreitungsgrad seiner Seiten im Heimatland – zuletzt nach seinen Angaben 12.000 Follower – zu erreichen, die Verbreitung ist aber mit insgesamt etwa 10.000 Followern auf drei Accounts weiterhin so erheblich, dass die Auftritte weit über den privaten Kreis des Klägers hinausgehen. Da die Veröffentlichungen auf Russisch erfolgen, ist es nachvollziehbar, dass der Kläger seine Leserinnen und Leser in der Mehrheit in der Russischen Föderation und der Ukraine vermutet. Dem Kläger ist es auch nicht zuzumuten, im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation seine Aktivitäten einzustellen. Dass der Kläger nicht unter dem Eindruck des Asylverfahrens in den sozialen Medien veröffentlicht, ergibt sich zum einen aus der Konstanz seiner Aktivitäten über etliche Jahre, zum anderen auch aus dem persönlichen Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Der Kläger konnte dort seine politische Haltung nachvollziehbar machen. Der Eindruck der Ernsthaftigkeit wird noch dadurch unterstrichen, dass der Kläger nach eigenen Angaben von K., wo er nach seiner Einreise in die Bundesrepublik bei der Organisation „L.“ ein Praktikum machte, nach B-Stadt zog, nachdem er gehört hatte, dass es in B-Stadt eine aktive linke Szene gebe. In diese ist er ausweislich seiner Wohnanschrift und seiner durch Vorlage von Bildern nachgewiesenen Aktivitäten für das O. (Gestaltung von Plakaten) eingebettet.

Aufgrund dieser öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten wäre der Kläger, der nach glaubhaften Angaben bereits vor seiner Ausreise jedenfalls den russischen Ermittlungsbehörden bekannt geworden ist, im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche Akteure ausgesetzt, ohne dass eine interne Fluchtalternative bestünde. Das ergibt sich aus den von der Einzelrichterin ausgewerteten Erkenntnismitteln zur Strafverfolgung von Internetaktivisten wie dem Kläger. Danach ist die Meinungs- und ist in der Russischen Föderation zwar verfassungsrechtlich garantiert, wird aber durch ein „ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften“ beschränkt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.05.2021, Stand: Oktober 2020, S. 6). Für den Einzelnen ist nicht absehbar, ob er aufgrund einzelner Äußerungen oder Handlungen damit rechnen muss, strafrechtlich belangt zu werden (Auswärtiges Amt, ebd.). Zu den Straftatbeständen, auf die die Behörden zurückgreifen, zählen der Straftatbestand des Schürens von Hass und Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen (Art. 282 Strafgesetzbuch), außerdem das Extremismusgesetz (Gesetz Nr. 114) oder der Straftatbestand der Verleumdung. Ein im März 2019 in Kraft getretenes Gesetz sieht für die online getätigte Herabwürdigung der Gesellschaft, des Staats, seiner Verfassung, Symbole oder Organe eine Administrativstrafe von bis zu 100.000 Rubel oder 15 Tagen Arrest vor (Auswärtiges Amt, ebd.). Mit dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine wurde das Strafrecht weiter deutlich verschärft. Am 04.03.2022 wurden das Ordnungswidrigkeitengesetz und das Strafgesetzbuch um Vorschriften ergänzt, nach denen die Verbreitung von falschen Informationen über russische Militäreinsätze und die Herabwürdigung der russischen Armee mit Geldbußen von bis zu 1,5 Mio. Rubel oder einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet werden (European Union Agency for Asylum - EUAA -, Country of Origin Query: Russian Federation, vom 05.04.2022, S. 7). Nach Berichten von Amnesty International wurden in wenigen Tagen nach Inkrafttreten der Vorschriften 140 Personen verhaftet (EUAA, ebd., mit Nachweis). Am 22.03.2022 wurde die „Fake news“-Gesetzgebung weiter verschärft; die Klägervertreterin hat zutreffend im gerichtlichen Verfahren auf den entsprechenden Straftatbestand hingewiesen. Diese besonders hohen Strafandrohungen stellen für sich genommen bereits eine unverhältnismäßige Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 3 AsylG und damit eine Verfolgungshandlung dar. Dazu treten beachtliche Einschränkungen im gerichtlichen Strafverfahren hinsichtlich der Einhaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. UNDOS, Russia 2021 Human Rights Report, S. 18 ff.) sowie die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen als weitere Aspekte, die zu einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung und Bestrafung führen. Verurteilte Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien, Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien oder in einem Gefängnis untergebracht. Die Verhältnisse sind unterschiedlich. Jedenfalls in Gefängnissen sind die Haftbedingungen unmenschlich und entwürdigend (Auswärtiges Amts, a.a.O., S. 17 f.). Sie sind von Überfüllung, Übergriffen durch Wärter und andere Insassen, beschränktem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, Mangel an Essen und unzureichenden hygienischen Bedingungen geprägt (UNDOS, a.a.O., S. 10). Insbesondere politische Gefangene, die u.a. wegen „Terrorismus“, „Extremismus“, „Separatismus“ oder Spionage verurteilt worden sind, werden besonders harten Haftbedingungen unterworfen, zu denen auch Einzelhaft oder die Unterbringung in psychiatrischen Abteilungen gehören (UNDOS, a.a.O., S. 20).

2.

Ist danach die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, kann weder die diesbezügliche Ablehnung des Antrags als auch die Ablehnung des nachrangigen subsidiären Schutzes als auch der Feststellung von Abschiebungsverboten im angefochtenen Bescheid Bestand haben.

3.

Das gleiche gilt für die Abschiebungsandrohung. Eine Abschiebungsandrohung setzt gem. § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG unter anderem voraus, dass dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, was aber vorliegend gerade der Fall ist.

4.

Aufzuheben war schließlich auch das in Ziffer 6 des Bescheides verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.