Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 26.02.2020, Az.: 1 Ws 1/20

Pflicht zur Anhörung des Verhafteten vor Aufrechterhaltung des Haftbefehls; Anhörungspflicht auch bei Erweiterung des Haftbefehls; Anhörungspflicht auch bei Umwandlung eines Unterbringungsbefehls; Bekanntgabe des Haftbefehls kein Ersatz für die Anhörung des Verhafteten

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
26.02.2020
Aktenzeichen
1 Ws 1/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 65559
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Bückeburg - AZ: 4 KLs 2/20

Redaktioneller Leitsatz

Die Pflicht, den Betroffenen nach der Verhaftung vor Aufrechterhaltung des Haftbefehls anzuhören, besteht auch dann, wenn der Haftbefehl erweitert oder geändert wurde sowie im Falle der Umwandlung eines Unterbringungsbefehls in einen Haftbefehl.

Tenor:

Der Nichtabhilfebeschluss der Strafkammer vom 17. Februar 2020 wird aufgehoben.

Die Sache wird an die I. große Strafkammer des Landgerichts Bückeburg zur Nachholung der Vernehmung des Angeschuldigten gemäß § 115 StPO zum Haftbefehl der Strafkammer vom 11. Februar 2020 und zur anschließenden erneuten Entscheidung über die Abhilfe zurückgegeben.

Gründe

I.

Der Angeschuldigte wurde am 26. September 2019 im Zuge eines Ermittlungsverfahrens wegen eines Vorfalls vom 25. September 2019 in Bückeburg, wo er unter Einsatz einer Schreckschusswaffe gegenüber der Besatzung eines Rettungswagens unter Androhung von gegenwärtiger Gewalt für Leib und Leben die Herausgabe von Betäubungsmitteln verlangt haben soll, in polizeilichen Gewahrsam genommen und zunächst nach dem Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) in die B.klinik in R. eingewiesen.

Unter dem 27. September 2019 erließ das Amtsgericht Bückeburg sodann auf der Grundlage einer ärztlichen Stellungnahme der B.klinik vom Vortage einen Unterbringungsbefehl nach § 126a StPO wegen des Vorfalls vom 25. September 2019, der als versuchte besonders schwere räuberische Erpressung gewertet wurde. In Vollzug des Unterbringungsbefehls wurde der Angeschuldigte fortan im A. Klinikum in H. untergebracht.

Am 18. Oktober 2019 beauftragte die Staatsanwaltschaft Bückeburg den Facharzt für Psychiatrie W. aus W. mit der Begutachtung des Angeschuldigten zur Frage der Schuldfähigkeit im Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Tat.

Nachdem der psychiatrische Sachverständige in einer vorläufigen mündlichen Einschätzung zu dem Ergebnis gekommen war, dass das Vorliegen einer erheblichen Minderung oder gar Aufhebung der Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit des Angeschuldigten zum Zeitpunkt der Tat aus psychiatrischer Sicht nicht festzustellen sei, beantragte die Staatsanwaltschaft Bückeburg am 23. Dezember 2019, den Unterbringungsbefehl in einen Haftbefehl umzuwandeln. Gleichzeitig erhob sie Anklage gegen den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung gemäß §§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1, 22, 23 StGB zum Landgericht Bückeburg.

Nach Eingang der Akten beim Landgericht Bückeburg am 8. Januar 2020 verfügte der Vorsitzende der zuständigen großen Strafkammer die Zustellung der Anklageschrift mit Gelegenheit zur Stellungnahme zur Vornahme einzelner Beweiserhebungen sowie Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens. Bereits im Rahmen der Zustellungsverfügung hat er überdies dem Verteidiger mögliche Hauptverhandlungstermine mitgeteilt.

Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2020 beantragte der Verteidiger des Angeschuldigten sodann die Anberaumung einer mündlichen Haftprüfung, welche das Landgericht auf den 30. Januar 2020 festsetzte. Ferner terminierte der Vorsitzende den Beginn der Hauptverhandlung auf den 26. März 2020.

Mit Schriftsatz vom 29. Januar 2020 nahm der Verteidiger des Angeklagten den Antrag auf Haftprüfung zurück. Nachdem ihm zwischenzeitlich das vorläufige schriftliche Gutachten des Sachverständigen W. übermittelt worden war, erhob er sodann mit Schreiben vom 7. Februar 2020 Beschwerde gegen den Unterbringungsbefehl und beantragte diesen aufzuheben. Ferner beantragte er, den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Haftbefehls mangels Vorliegen von Haftgründen abzulehnen.

Mit Beschluss vom 11. Februar 2020 hob das Landgericht Bückeburg den Unterbringungsbefehl des Amtsgerichts Bückeburg vom 27. September 2019 auf und erließ sogleich wegen desselben tatsächlichen Geschehens vom 25. September 2019 einen auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl gegen den Angeschuldigten. Den Beschluss übersandte das Landgericht formlos an den Angeschuldigten, gegen Empfangsbekenntnis an den Verteidiger und nach § 41 StPO an die Staatsanwaltschaft.

Gegen diesen Beschluss vom 11. Februar 2020 wendet sich der Angeschuldigte mit seiner Beschwerde vom 14. Februar 2020, mit der er eine bestehende Fluchtgefahr in Abrede nimmt.

Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 17. Februar 2020 nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Dem Senat ist eine Entscheidung über die Beschwerde derzeit nicht möglich, weil die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung des Angeschuldigten gemäß § 115 StPO zur Haftentscheidung vom 11. Februar 2020 noch aussteht.

1. Die Vorschrift des § 115 StPO verlangt, dass der Beschuldigten nach Ergreifung auf Grund eines Haftbefehls von dem zuständigen Richter vor der Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls zu vernehmen ist. Die Vorschrift zählt dabei zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Artikel 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. September 2001 - 2 BvR 1144/01 -, Rn. 17, juris).

Zwar ist dem Wortlaut nach § 115 StPO nur auf den gerade erst ergriffenen und nicht auf den schon in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten anwendbar. Nach ständiger Rechtsprechung und Literatur findet § 115 StPO jedoch auf den erweiterten oder wesentlich geänderten Haftbefehl entsprechende Anwendung (BVerfG aaO; OLG Hamm, StV 1995, S. 200; StV 1998, S. 273; StV 1998, S. 555; Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 115, Rn. 3; KK-StPO/Graf, 8. Aufl. 2019, StPO § 115 Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 115 Rn. 12, jeweils m.w.N.). Nichts anderes gilt, wenn ein vormals ergangener Unterbringungsbefehl in einen Haftbefehl umgewandelt wird, zumal das Vorliegen von Haftgründen nach § 112 Abs. 2 StPO erstmals im Rahmen des Haftbefehls festzustellen ist. Auch insofern muss dem Beschuldigten die Möglichkeit eingeräumt werden, sich gegenüber dem für die Vernehmung nach § 115 StPO zuständigen Richter zu äußern.

2. Zwar ist vorliegend der Haftbefehl der Kammer vom 11. Februar 2020 dem Angeschuldigten durch schriftliche Übersendung bekannt gemacht worden. Dies genügt indes nicht. Vielmehr ist - unabhängig von der Bekanntmachung nach Maßgabe von § 114a StPO, die als solche auch schriftlich erfolgen kann (vgl. etwa Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 114a Rn. 3) - eine richterliche Vernehmung in entsprechender Anwendung des § 115 StPO aus den vorstehenden Erwägungen weiterhin geboten (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 08. Dezember 2016 - 1 Ws 599/16 -, Rn. 6, juris, m.w.N.). Die unverzichtbare persönliche Vernehmung entsprechend § 115 Abs. 2 und Abs. 3 StPO soll dem Gericht ermöglichen, sich einen unmittelbaren Eindruck vom Beschuldigten zu verschaffen, und der Betroffene soll Gelegenheit erhalten, im unmittelbaren persönlichen Kontakt mit dem zuständigen Gericht die den neuen Haftbefehl tragenden Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die ihn entlastenden Tatsachen vorzutragen (vgl. OLG Celle aaO; OLG Koblenz, Beschluss vom 4. April 2011 - 1 Ws 183/11; OLG Jena, Beschluss vom 27. Juni 2008 - 1 Ws 240/08; vgl. zur parallelen Konstellation einer Haftfortdauerentscheidung nach §§ 121, 122 StPOBVerfG, Beschluss vom 20. September 2001 - 2 BvR 1144/01, NStZ 2002, 157; OLG Hamm, Beschluss vom 22. Januar 1998 - 2 BL 2/98, StV 1998, 273).

3. Bei dieser Sachlage war die Abhilfeentscheidung daher aufzuheben und dem Landgericht Gelegenheit zur Nachholung der ihr obliegenden Anhörung gemäß § 115 Abs. 2 und 3 StPO zu geben.

Das Landgericht wird im Rahmen der Aufrechterhaltung des Haftbefehls auch über eine neue Abhilfeentscheidung zu befinden haben.

4. Der Senat verkennt auch nicht, dass ein ordnungsgemäßes Abhilfeverfahren keine Verfahrensvoraussetzung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ist. Anders ist der Fall jedoch dann, wenn durch eine Zurückweisung der Sache das Verfahren beschleunigt wird oder der Senat an einer eigenen Sachentscheidung gehindert ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 306 Rn. 10).

Letzteres ist hier gegeben. Denn der Senat ist an einer eigenen Sachentscheidung gehindert, weil die Kammer eine zwingend vorgeschriebene mündliche Anhörung unterlassen hat und diese Einfluss auf die zu treffende Abhilfeentscheidung haben kann.

III.

Eine Kostenentscheidung ist mangels verfahrensabschließender Entscheidung nicht veranlasst.