Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 18.08.2016, Az.: 4 A 344/15
Abstand; Abweichung; Abweichungsentscheidung; Atypik
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 18.08.2016
- Aktenzeichen
- 4 A 344/15
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 43413
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 66 BauO ND
- § 5 BauO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Zulassung einer Abweichung nach § 66 NBauO setzt keine atypische bauliche Situation voraus.
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.06.2014 sowie des Widerspruchsbescheides der Region B-Stadt vom 17.10.2014 verpflichtet, die beantragte Abweichung zuzulassen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt für die Errichtung eines Nebengebäudes die Zulassung einer bauordnungsrechtlichen Abweichung.
Sie ist Eigentümerin des Grundstücks mit der Flurstücksbezeichnung C. der Flur D., Gemarkung E. (A-Straße). Das Grundstück liegt im unbeplanten Innenbereich und ist mit einem Einfamilienhaus bebaut. Das Wohnhaus weist entsprechend der das Ortsbild prägenden Bebauung eine Fachwerkkonstruktion auf und steht nach Angaben der Beteiligten unter Denkmalschutz.
Das Grundstück liegt im Geltungsbereich der „Örtlichen Bauvorschrift über Gestaltung“ der Beklagten aus dem Jahr 1986. Gemäß § 2 der Gestaltungssatzung sind alle baulichen Anlagen als Ziegelrohbau oder Holzfachwerk mit ausgemauertem Holzfachwerk auszuführen. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 der Satzung sind nur geneigte Dächer zulässig. Von dieser Regelung sind Garagen und Nebengebäude ausgenommen (§ 5 Abs. 1 Satz 3). Die Gestaltungssatzung wurde erlassen, um das erhaltenswerte städtebauliche Gesamtbild zu schützen. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass für mehrere Gebäude dieses Bereiches deren Baudenkmaleigenschaft festgestellt sei. Dies bedeute auch, dass sich benachbarte Vorhaben hinsichtlich ihrer Gestaltung darauf einzustellen hätten und die Belange dieser Baudenkmäler zu berücksichtigen seien.
Die Klägerin beabsichtigt, an der nördlichen Seite ihres Grundstücks ein Nebengebäude mit einer Grundfläche von 5,00 x 4,00 m zu errichten, das insbesondere der Unterbringung von Fahrrädern dienen soll. Das geplante Gebäude soll (nach Umplanung) eine Höhe von 4,30 m aufweisen und giebelseitig wegen des Dachüberstandes in einem Abstand von 30 cm zur nördlichen Grundstücksgrenze errichtet werden. Das Grundstück der Klägerin grenzt an dieser Stelle an das Flurstück F., das als Zufahrt für die (Hinterlieger-)Bebauung auf den zu dem Nachbargrundstück ebenfalls gehörenden Flurstücken G. und H. genutzt wird. Die Eigentümer dieses Grundstücks haben der streitbefangenen Baumaßnahme schriftlich zugestimmt, erteilen allerdings nicht die Zustimmung zur Eintragung einer Baulast.
Im Hinblick auf den Verstoß gegen die Grenzabstandsvorschriften beantragte die Klägerin am 16.12.2013 für das Vorhaben die Zulassung einer Abweichung gemäß § 66 Abs. 1 NBauO. Zur Begründung verwies sie auf die örtlichen Bauvorschriften. Die Ausführung des Nebengebäudes solle entsprechend der sowohl auf dem Grundstück vorhandenen als auch der das historische Ortsbild prägenden Bebauung als Fachwerkkonstruktion erfolgen. Damit könnten die Grenzabstandsvorschriften nicht eingehalten werden.
Mit Bescheid vom 30.06.2014 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung lägen nicht vor, da es sich weder um einen atypischen Fall handele noch die Abweichung mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Im Hinblick auf die Grundstückssituation seien keinerlei Besonderheiten erkennbar. An der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen fehle es auch deswegen, da durch den Abstand zur nördlichen Grundstücksgrenze von 30 cm die Entstehung sogenannter Schmutzecken zu befürchten sei. Selbst wenn der Tatbestand des § 66 NBauO erfüllt wäre, sprächen im Rahmen des Ermessens gewichtigere Gründe gegen die Erteilung einer Abweichung.
Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Region B-Stadt mit Bescheid vom 10.12.2014 – zugestellt am 22.12.2014 – als unbegründet zurück. Es bleibe der Klägerin unbenommen, das geplante Nebengebäude mit dem erforderlichen Grenzabstand zu errichten, beispielsweise als Anbau an das bereits bestehende Gebäude oder durch Anpassung der Höhe.
Die Klägerin hat am 19.01.2015 Klage erhoben.
Mit dem Vorhaben erfolge eine Anpassung an die umgebende historische Bebauung ohne negative Folgen für die Öffentlichkeit. Alternative Lösungen wie etwa der Anbau an das Hauptgebäude oder die Errichtung des Nebengebäudes an anderer Stelle auf dem Grundstück seien im Hinblick auf den Zuschnitt des Grundstücks nur mit erheblichen Einschränkungen hinsichtlich der Nutzung möglich. Ein Anbau an das vorhandene Wohngebäude komme schon deswegen nicht in Betracht, weil es sich um das älteste Gebäude von E. handele, welches in unverändertem Zustand ohne Anbau zu erhalten sei. Geschützte Belange der Nachbarn seien ebenfalls nicht betroffen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.06.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Region B-Stadt vom 17.11.2014 zu verpflichten, der Klägerin die beantragte Zulassung einer Abweichung zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es fehle an der erforderlichen atypischen Situation. Die Erteilung einer Abweichung sei auch nicht mit öffentlichen Belangen vereinbar. Zum einen bestehe zumindest die abstrakte Gefahr der Entstehung einer Schmutzecke. Zum anderen sei die gesetzliche Wertung aus § 6 Abs. 2 NBauO zu beachten. Daraus ergebe sich, dass nur durch eine sogenannte Abstandsbaulast eine Unterschreitung des Grenzabstands abgesichert werden könne. Die Erteilung einer Zustimmung des Nachbarn reiche nicht aus. Die Klägerin könne auch nicht die Erhaltung des historischen Ortsbildes als öffentlichen Belang für die Erteilung einer Abweichung ins Feld führen. Denn die Gestaltungssatzung schreibe für Nebengebäude eine bestimmte Dachneigung nicht vor. Ein Nebengebäude mit Flachdach widerspreche weder rechtlich noch tatsächlich dem historischen Ortsbild. Selbst wenn entgegen dieser Auffassung die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung als gegeben angesehen würden, sei das Ermessen im Wesentlichen aus zwei Gründen zulasten der Klägerin auszuüben. Nach der alten Fassung der NBauO wäre in der vorliegenden Fallkonstellation eine Abweichung von Abstandsvorschriften nur im Wege einer Befreiung in Betracht gekommen. Dies gebiete eine restriktive Handhabung. Soweit die Klägerin geltend mache, bei der Bemessung des Abstands den Teil eines Grundstücks in Anspruch zu nehmen, der als private Verkehrsfläche genutzt werde, sei darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber zwischen öffentlichen Verkehrsflächen und privaten Verkehrsflächen differenziere.
Das Gericht hat das Verfahren vor Ort verhandelt. Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zulassung der begehrten Abweichung (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die angefochtenen Bescheide der Beklagten und der Region B-Stadt sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 NBauO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen der NBauO zulassen, wenn diese unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen nach § 3 Abs. 1 NBauO vereinbar sind. Die tatbestandlichen Voraussetzungen liegen vor (dazu unter 1.). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zulassung der Abweichung, weil das Ermessen auf null reduziert ist (dazu unter 2.).
1. Das Bauvorhaben ist mit den Anforderungen des § 5 NBauO nicht vereinbar, so dass es der Zulassung einer Abweichung bedarf. Es hält den notwendigen Grenzabstand gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 NBauO nicht ein, weil es wegen seines geneigten Dachs höher als 3 m ist und so die Privilegierung nach § 5 Abs. 8 NBauO nicht in Anspruch nehmen kann. Als nach § 5 Abs. 8 NBauO privilegiertes Vorhaben dürfte es ohne Abstand oder mit einem bis auf 1 m verringerten Abstand von der Grenze errichtet werden. Die Errichtung des Gebäudes mit einem Abstand von lediglich 30 cm wäre daher auch auf der Grundlage von § 5 Abs. 8 Satz 2 NBauO nicht zulässig.
Die begehrte Abweichung ist unter Berücksichtigung des Zwecks der Abstandsvorschriften und unter Würdigung der nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Dies ist der Fall, wenn der bauordnungsrechtliche Zustand, der im Falle einer zugelassenen Abweichung entsteht, mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist (vgl. Stiel in: Große-Suchsdorf, Niedersächsische Bauordnung Kommentar, 9. Aufl., § 66 Rn. 20). Maßgeblicher Zweck der Abstandsvorschriften ist es, die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu verwirklichen, indem sie eine ausreichende Belüftung, Besonnung und Tageslichtbeleuchtung der Gebäude gewährleisten und die Freiräume sicherstellen, die für ein störungsfreies Wohnen und einen angemessenen Schutz der Privatsphäre erforderlich sind (vgl. Breyer in: Große-Suchsdorf, § 5 Rn. 22). Für die Zwecke der Abstandsregelung kommt es also zunächst darauf an, dass zwischen den Gebäuden ausreichende Abstände gehalten werden. Daneben wird die ungestörte Nutzung von Freiflächen geschützt (vgl. Breyer, a.a.O., Rn. 27 f.).
Gemessen daran ist die begehrte Abweichung sowohl mit öffentlichen Belangen als auch mit den nachbarlichen Belangen vereinbar. Bezugspunkt für die Beurteilung ist dabei der Vergleich der Auswirkungen des Vorhabens mit den Auswirkungen eines den Vorgaben des § 5 NBauO entsprechenden Nebengebäudes. Ein solches Gebäude dürfte mit einer Höhe von 3 m über eine Länge von 9 m direkt an der Grenze errichtet werden. Dagegen hält das Vorhaben der Klägerin 0,30 m Abstand, ist an der Grenze nur 4 m breit und nur mit seinem Giebeldreieck um 1,30 m zu hoch. Die Auswirkungen der Bebauungsalternativen erscheinen der Kammer daher durchaus vergleichbar. In jedem Fall beeinträchtigt das Gebäude nur den Teil des Nachbargrundstücks, der als notwendige Zuwegung für die Hinterliegerbebauung I. genutzt wird und deswegen nicht mit Gebäuden bebaut werden kann. Dem Gesichtspunkt, dass zwischen Gebäuden ausreichende Abstände gehalten werden müssen, wird also auch bei Zulassung des streitbefangenen Vorhabens hinreichend Rechnung getragen. Für die benachbarte Zufahrt spielen die Gesichtspunkte Besonnung und Tageslicht keine Rolle. Als Freifläche kann dieser Grundstücksteil solange nicht genutzt werden wie er die notwendige Zufahrt zu den Hinterliegern darstellt.
Hinzu kommt, dass die Eigentümer der benachbarten Zufahrt dem Bauvorhaben zugestimmt haben. Dieser Gesichtspunkt ist bei der Beurteilung der nachbarlichen Belange zu berücksichtigen, auch wenn die Nachbarn der Eintragung einer Abstandsbaulast nicht zustimmen. Der Einwand der Beklagten, nur bei Zustimmung zur Eintragung einer Abstandsbaulast sei nachbarlichen Belangen hinreichend Rechnung getragen, verfängt nicht. Nur wenn eine solche Abstandsbaulast nicht eingetragen wird, stellt sich überhaupt die Frage die Zulassung einer Abweichung. Dabei ist unschädlich, dass nur der Abstandsbaulast dingliche Wirkung zukommt, die auch gegenüber einem Rechtsnachfolger wirkt. Denn wenn aufgrund einer schriftlichen Zustimmung ein Vorhaben förmlich zugelassen werden kann, so wirkt jedenfalls diese förmliche Zulassung auch gegenüber Rechtsnachfolgern.
Die öffentlichen Belange streiten sogar für das Vorhaben der Klägerin, weil es die Gestaltungssatzung der Beklagten in vorbildlicher Weise umsetzt. Mit dieser Satzung verfolgt die Beklagte das Ziel, neue Vorhaben harmonisch in das städtebauliche Gesamtbild einzufügen. Dies gilt auch für die Dachform bzw. -neigung. Zwar nimmt die Satzung Garagen und Nebengebäude von der Forderung nach geneigten Dächern aus. Allerdings ersichtlich nicht deswegen, weil eine Fachwerkgarage mit geneigten Dach städtebaulich bzw. gestalterisch unerwünscht wäre, sondern erkennbar vor dem Hintergrund, dass ansonsten die Errichtung solcher Nebengebäude im Hinblick auf die Abstandsvorschriften erheblich erschwert würde. Hinzu kommt, dass die von ihr favorisierte Bauweise für die Klägerin keine erkennbaren wirtschaftlichen Vorteile mit sich bringt. Der entstandene Dachraum ist nicht nutzbar (und soll auch nicht genutzt werden) und die auch mit Rücksicht auf die Gestaltungssatzung der Beklagten gewählte Bauweise verursacht deutliche Mehrkosten.
Der mit der Verwirklichung des Vorhabens wegen des Dachüberstandes verbundene Abstand von 30 cm zur Grundstücksgrenze beeinträchtigt ebenfalls weder öffentliche noch nachbarliche Belange. Die Entstehung einer sog. Schmutzecke droht im konkreten Fall nicht, weil die benachbarte Zufahrt auf Dauer nicht bebaubar ist.
Der Erteilung der Abweichung steht nicht entgegen, dass das Vorhaben unter Einhaltung der Abstandsvorschriften auch an anderer Stelle auf dem Grundstück verwirklicht werden oder durch ein max. 3 m hohes Flachdachgebäude unmittelbar an der Grundstücksgrenze ersetzt werden könnte. Was die Errichtung an anderer Stelle angeht, wäre etwa eine Verschiebung des Vorhabens in Richtung Süden denkbar. Eine solche Verschiebung würde zwar - wie sich beim Ortstermin gezeigt hat - eine Nutzung der Freiflächen des Grundstücks erheblich verschlechtern, sie wäre jedoch möglich. Die Kammer folgt aber nicht der Auffassung, wonach die Erteilung einer Abweichung - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - eine atypische bauliche Situation voraussetzt (so aber Stiel, a.a.O., § 66 Rn. 14 ff.), die nur bei Vorhandensein topografischer oder anderer Besonderheiten des Baugrundstücks zu bejahen wäre. Im Gesetz findet sich kein Anhaltspunkt für diese Auffassung. Hätte der Gesetzgeber regeln wollen, dass die Erteilung einer Abweichung nur bei einem atypischen Sachverhalt in Betracht kommt, hätte er dieses etwa durch eine Aufnahme des Tatbestandsmerkmals „im Einzelfall“ tun können. Dieses Tatbestandsmerkmal, das sich in § 31 Abs. 2 BauGB a.F. fand, hat der Bundesgesetzgeber gestrichen, um klarzustellen, dass eine „Atypik“, wie sie bis dahin von den Gerichten verlangt werde, nicht mehr vorliegen müsse. Der Wortlaut des § 66 Abs. 1 Satz 1 NBauO legt daher nahe, dass es einer atypischen Situation nicht bedarf. Dem Einwand der mangelnden Bestimmtheit, mit dem die Notwendigkeit dieses ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals begründet wird (vgl. Stiel, a.a.O., Rn. 14), kann entgegen gehalten werden, dass die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine atypische bauliche Situation angenommen werden kann, nicht weniger unbestimmt ist. Wenn der Gesetzgeber das Erfordernis der Atypik sogar in dem sensiblen Bereich des § 31 Abs. 2 BauGB streicht, der es der Bauaufsichtsbehörde ermöglicht, sich über die Rechtsetzungsbefugnis der Gemeinde als Trägerin der Planungshoheit hinwegzusetzen, kann dieses Erfordernis nicht in eine Norm hineingelesen werden, die Abweichungen lediglich von Normen der gleichen Rechtsetzungsebene erlaubt. Art. 20 Abs. 3 GG rechtfertigt die Atypik als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal daher nicht.
2. Die Erteilung einer Abweichung steht im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde. Einen Anspruch auf Zulassung der Abweichung hat der Bauherr daher nur bei einer Ermessensreduzierung auf null. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil die von der Beklagten hilfsweise angestellten Ermessenserwägungen nicht sachgerecht sind und weitere im Rahmen des Ermessens berücksichtigungsfähige Gesichtspunkte, die eine Entscheidung zulasten der Klägerin rechtfertigen könnten, nicht erkennbar sind.
Da § 66 NBauO die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen bereits auf Tatbestandsseite verlangt, reduzieren sich die Gesichtspunkte, die bei einer Ermessensentscheidung noch Berücksichtigung finden können: In die Ermessensentscheidung dürfen nur solche Erwägungen eingestellt werden, die nicht zu einem schon auf Tatbestandsseite zu berücksichtigendem öffentlichen Belang zu rechnen sind.
Die Beklagte stützt ihre hilfsweise angestellten Ermessenserwägungen ausweislich der in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärung maßgeblich auf zwei Gesichtspunkte: In den Fällen, in denen nach der alten Fassung der NBauO nur die Erteilung einer Befreiung in Betracht gekommen wäre, werde bei der Zulassung der Abweichung von Abstandsvorschriften restriktiv verfahren, weil an die Erteilung einer Befreiung höhere Anforderungen als an die Erteilung einer Ausnahme zu stellen seien. Im vorliegenden Fall wäre nach altem Recht nur die Erteilung einer Befreiung in Betracht gekommen, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahme nach § 13 Abs. 1 NBauO a.F. nicht vorgelegen hätten. Hinzu komme, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Inanspruchnahme von Verkehrsflächen bei der Bemessung des Abstandes zwischen öffentlichen und privaten Verkehrsflächen differenziere.
Beide Ermessensgesichtspunkte hält die Kammer nicht für sachgerecht. Wenn der Gesetzgeber mit der Novellierung der Abweichungsvorschrift deutlich gemacht hat, dass er an der Unterscheidung zwischen Befreiung und Ausnahme nicht festhalten will, geht es nicht an, diese Differenzierung über die „Hintertür“ der Ermessenserwägung beizubehalten. Dieser gesetzgeberische Wille ist zu beachten.
Auf die unterschiedliche Behandlung privater und öffentlicher Verkehrsflächen weist die Beklagte zwar zu Recht hin. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 NBauO dürfen nur öffentliche Verkehrsflächen für die Bemessung des Grenzabstandes bis zu ihrer Mittellinie dem Baugrundstück zugerechnet werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in Bezug auf private Verkehrsflächen keine Abweichung von den Grenzabständen zugelassen werden können. Hätte der Gesetzgeber in Bezug auf private Verkehrsflächen eine § 6 Abs. 1 NBauO entsprechende Regelung getroffen, wäre die Zulassung einer Abweichung schon nicht erforderlich. Zudem ist der Umstand, dass es sich bei der benachbarten Grundstücksfläche um eine (private) Verkehrsfläche handelt, im Rahmen des § 66 Abs. 1 Satz 1 NBauO bereits auf Tatbestandsebene zu würdigen. Eine weitere Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes im Rahmen der Ermessensausübung scheidet damit aus.
Das Argument der Beklagten, die Klägerin könne ihr Grundstück auch ohne die erstrebte Abweichung sinnvoll nutzen, ist nach Auffassung der Kammer ebenfalls nicht tragfähig: Selbst wenn eine solche restriktive Handhabung der ständigen Verwaltungspraxis der Beklagten entspräche und deswegen nicht schon im Hinblick auf Art. 3 GG zu beanstanden wäre, wäre dieser Maßstab zu beanstanden, weil er ein zu strenger ist. Eine solche Praxis würde dazu führen, dass die Zulassung von Abweichungen nur in sehr seltenen Fällen in Betracht kommt, die Abweichung vielmehr prinzipiell versagt wird. Auch wenn es ein zulässiger Ermessensgesichtspunkt sein kann, die Breitenwirkung der Verwaltungspraxis in Rechnung zu stellen, verkennt die Beklagte mit einem so engen Maßstab, wie er in der Begründung des Bescheides genannt wird, die durch den Verzicht auf das Erfordernis der Atypik zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Intention des § 66 NBauO.
Andere Ermessensgesichtspunkte, die eine ablehnende Entscheidung rechtfertigen könnten, werden von der Beklagten nicht benannt. Solche sind der Kammer auch nicht ersichtlich. Insbesondere eine unerwünschte Vorbildwirkung wird dem Vorhaben der Klägerin nicht zukommen. Die vorliegende Besonderheit, dass das Nebengebäude an die Grenze zu einer auf Dauer nicht bebaubaren Zuwegung für Hinterliegerbebauung gebaut werden soll, schließt dies aus.
Die Klägerin hat daher nicht nur einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrages, sondern einen Anspruch auf Zulassung der begehrten Abweichung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO. Die Berufung ist zuzulassen, weil die Frage, ob die sog. Atypik als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in § 66 NBauO hineinzulesen ist, in der Rechtsprechung nicht geklärt ist, und dieser Frage grundsätzliche Bedeutung zukommt.