Landgericht Aurich
Beschl. v. 04.12.2019, Az.: 13 Qs 39/19

Bibliographie

Gericht
LG Aurich
Datum
04.12.2019
Aktenzeichen
13 Qs 39/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69545
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG - 25.10.2019 - AZ: 8a BRs 24/18

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Amtsgerichts Norden vom 25.10.2019, Az.: 8a BRs 24/18, aufgehoben.

2. Die mit Beschluss des Amtsgerichts Norden vom 19.09.2018, Az.: 8a Ls 310 Js 8115/16 (10/16), bewilligte Strafaussetzung zur Bewährung wird widerrufen.

3. Von der Erhebung von Kosten und Auslagen für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen.

Gründe

I.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 25.10.2019 über die Ablehnung des Antrags auf Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe (§ 26 I JGG) ist statthaft.

Die Statthaftigkeit des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft folgt aus §§ 453, 311 StPO i.V.m. § 2 II JGG. Gemäß § 2 II JGG gelten die allgemeinen Vorschriften, soweit das JGG nichts anderes bestimmt.

Im Erwachsenenstrafrecht ist gegen die Ablehnung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung die sofortige Beschwerde zulässig. Das JGG trifft für diese Fallkonstellation keine eindeutige Regelung. Durch § 59 III JGG ist lediglich die sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Aussetzung einer verhängten Jugendstrafe zur Bewährung nach § 26 I JGG ausdrücklich geregelt.

Die von § 2 II JGG angeordnete entsprechende Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften (vgl. insoweit nur BGHSt 282, 53, 55f.; KG NJW 1979, 1668, 1669; Kleinknecht/Meyer-Goßner 41. Aufl., Einl. Rn 198; vgl. auch BGH Beschl. v. 20. 12. 1985 - 2 ARs 386/85, bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1986, 206, 208f.) ist im Hinblick auf §§ 453, 311 StPO angesichts einer fehlenden ausdrücklichen Regelung im JGG über die Anfechtbarkeit der hier angefochtenen Entscheidung im vorliegenden Fall geboten und nicht durch gesetzliche Wertungen des JGG ausgeschlossen.

Die teilweise in Rechtsprechung und Schrifttum geäußerte Ansicht der Unzulässigkeit einer Anfechtung des abgelehnten Antrags der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe (vgl. LG Krefeld NJW 1974, 1476 [LG Krefeld 28.11.1973 - 8 Qs 556/73]; LG Frankfurt MDR 1966, 353 [LG Frankfurt am Main 03.11.1965 - 5/8 Qs 40/65]; LG München II NJW 1960, 1216 [LG München II 17.11.1959 - I Qs 274/59 jug.] m. zust. Anm. Potrykus - jew. mwN) vermag nicht zu überzeugen (LG Hamburg, Beschluss vom 04. Januar 1995 – 634 Qs 46/94 –, juris; LG Bückeburg, Beschluss vom 22. Januar 2003 – Qs 5/03 –, juris; LG München I Beschl. v. 15. 1. 1990 -JKQs 110/89; LG Osnabrück NStZ 1991, 533 m. zust. Anm. Brunner 535).

Das JGG hat, wie bereits ausgeführt, keine Regelung darüber getroffen, ob der auf den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der Strafaussetzung einer verhängten Jugendstrafe ergehende ablehnende Beschluss des AG anfechtbar ist. Das JGG hat in § 59 III JGG lediglich den Widerruf der Aussetzung einer Jugendstrafe (§ 26 I JGG) als mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar erklärt.

Aus den im JGG genannten Fällen der Unanfechtbarkeit einer (amtsgerichtlichen) Entscheidung kann jedoch nicht die gesetzliche Wertung entnommen werden, ein Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung auf Widerruf der Aussetzung einer Jugendstrafe sei nicht statthaft.

Nach § 59 IV JGG ist der Beschluss über den Straferlass gemäß § 26a JGG nicht anfechtbar.

Die Norm beinhaltet jedoch keinen Rechtsgedanken, der auf die Ablehnung des Antrags auf Widerruf der Strafaussetzung zu übertragen ist. Es kann nicht zwingend gesagt werden, dass erst recht die ablehnende Entscheidung auf den Antrag auf Widerruf der Strafaussetzung unanfechtbar ist, wenn bereits eine viel weitergehende Entscheidung als die Ablehnungsentscheidung, die Entscheidung über den Straferlass, unanfechtbar ist (argumentum a maiore ad minus). Gegen diese Sichtweise spricht insbesondere, dass der Erlass der Jugendstrafe erst nach Ablauf der Bewährungszeit erfolgt und damit praktisch einen Schlußstrich unter einer positiv verlaufenen Bewährungszeit bildet (vgl. so auch LG Hamburg, Beschluss vom 04. Januar 1995 – 634 Qs 46/94 –, juris). Alle maßgeblichen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Bewährung sind zuvor zu treffen und gemäß § 59 I, II JGG anfechtbar. Wenn alle im Vorfeld des Erlasses der Jugendstrafe ergehenden Entscheidungen mit Rechtsmitteln angefochten werden können, dann erübrigt es sich, auch noch beim formalen Schlussakt, dem Erlass der Strafe, ein Rechtsmittel zu gewähren (LG München I aaO). Bei der Frage des Widerrufs der Aussetzung einer Jugendstrafe handelt es sich hingegen um eine Entscheidung, die Vorkommnisse innerhalb der Bewährungszeit betrifft und daher nicht mit einer Entscheidung am Ende einer bereits bestandenen Bewährungszeit vergleichbar ist.

Der Umkehrschluss, dass eine Anfechtung der ablehnenden Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe nicht erlaubt ist, weil das Gesetz in § 59 III JGG lediglich gegen den Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe die sofortige Beschwerde für zulässig erklärt, ist nicht zwingend (argumentum e contrario).

Hiergegen ist einzuwenden, dass eine Unanfechtbarkeit des ablehnenden Beschlusses über den Widerruf der Strafaussetzung im Gesetz nicht ausdrücklich genannt, die Unanfechtbarkeit anderer Beschlüsse, z.B. - wie bereits ausgeführt - nach § 26a JGG, hingegen ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Wenn der Gesetzgeber gewollt hätte, dass die Ablehnung des Antrags auf Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe nicht angefochten werden kann, ist davon auszugehen, dass er dieses, wie beim Straferlass, ausdrücklich angeordnet hätte.

Für die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels gegen die ablehnende Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe spricht auch die Regelung des § 65 II 1 JGG.

Danach ist der Beschluss, mit dem nachträglich die Änderung von Weisungen abgelehnt wird, nicht anfechtbar. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber eine ablehnende Entscheidung ausdrücklich der Anfechtung entzogen, hingegen dieses für den Fall der ablehnenden Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung einer Jugendstrafe gerade nicht ausgesprochen.

II.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist auch begründet.

Zu Unrecht hat das Amtsgericht einen Widerruf der Bewährung abgelehnt.

Die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 26 I Nr. 1 JGG für einen Bewährungswiderruf wegen erneuter Straffälligkeit in der Bewährungszeit sind gegeben.

Durch Urteil des AG Norden vom 08.08.2019, Az.: 8b Ls 310 Js 11595/18 (19/18), wurde der Verurteilte wegen Diebstahls in 6 Fällen, wobei es in einem Fall bei einem Versuch blieb, in Tatmehrheit mit unerlaubtem Anbau von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 27 Fällen in Tatmehrheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt.

Zwar ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, da der Verurteilte Berufung eingelegt hat. Allerdings hat er nach den Feststellungen des Amtsgerichts die Vorwürfe umfassend glaubhaft eingeräumt (Bl. 65 d.A.).

Der Bewährungswiderruf wegen erneuter Straffälligkeit konnte im vorliegenden Fall auch ohne das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen dieser erneuten Straftaten erfolgen, da ein glaubhaftes und nicht widerrufenes richterliches Geständnis dieser Taten durch den Verurteilten vorliegt und das Gericht auf dieser Grundlage zur Überzeugung kommen konnte, dass der Verurteilte diese Taten begangen hat.

Nach Rechtsprechung des BVerfG ist der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuen Straftat auch ohne deren rechtskräftige Aburteilung zulässig, wenn der Verurteilte die neue Straftat glaubhaft gestanden hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.12.1989 - 2 BvR 1741/89, juris Rn. 4, NStZ 1991, 30; Beschluss vom 09.12.2004, a.a.O., Rn. 4; Beschluss vom 23.04.2008 - 2 BvR 572/08, juris Rn. 2; Beschluss vom 12.08.2008, a.a.O., Rn. 13).

In der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte wird diesen Vorgaben dem Grundsatz nach einheitlich gefolgt und es ist anerkannt, dass auch ohne das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung im Hinblick auf eine erneute Straffälligkeit erfolgen kann, wenn ein nicht widerrufenes glaubhaftes richterliches Geständnis vorliegt (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 18.08.2015 - 5 Ws 103/15, juris Rn. 4; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19.12.2003 - 3 Ws 469/03, juris Rn. 12, NJW 2004, 790 [OLG Düsseldorf 19.12.2003 - III-3 Ws 469/03]; OLG Hamm, Beschluss vom 30.04.2012 - 3 Ws 101/12, 102/12, juris Rn. 14; OLG Jena, Beschluss vom 29.10.2009 - 1 Ws 414/09, juris Rn. 13 f., OLGSt StGB § 56f Nr. 52; OLG Köln, Beschluss vom 09.06.2004 - 2 Ws 209/04, juris Rn. 3 f., NStZ 2004, 685; OLG Nürnberg, Beschluss vom 17.05.2004 - Ws 558/04, Ws 559/04, juris Ls., NJW 2004, 2032; OLG Oldenburg, Beschluss vom 14.10.2009 - 1 Ws 548/09, juris Rn. 7, NdsRpfl 2010, 92; Beschluss vom 20.01.2014 - 1 Ws 29/14, juris Rn. 7, StV 2014, 759 (Ls.); OLG Stuttgart, Beschluss vom 26.07.2004 - 4 Ws 180/04, juris Rn. 9, NJW 2005, 83; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 15.09.2004 - 1 Ws 343/04, juris Rn. 10 f., NStZ-RR 2005, 8; LK-Hubrach, 12. Auflage, § 56f StGB Rn. 10; Fischer, 64. Auflage, § 56f StGB Rn. 7; siehe auch die Rechtsprechung des Senats, Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 18.12.2013 - Ws 197/13; Beschluss vom 16.05.2014 - 1 Ws 51/14). Weitergehend werden teilweise auch geständige Angaben vor Strafverfolgungsbehörden ohne anwaltlichen Beistand des Verurteilten für hinreichend erachtet (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 19.05.2005 - 1 Ws 213/05, juris Rn. 4 f.), was aber schon im Hinblick auf die für den Bewährungswiderruf erforderliche Überzeugungsbildung des die Bewährungsaufsicht führenden Gerichtes erhebliche Bedenken aufwirft (ähnlich die Kritik bei LK-Hubrach, a.a.O.).

Da vorliegend ein glaubhaftes richterliches Geständnis vorliegt, ist der Widerrufsgrund § 26 I Nr. 1 JGG erfüllt.

Von dem Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe war auch nicht gegen Maßnahmen nach § 26 II JGG abzusehen. Dabei nimmt die Kammer im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der Obergerichte an, dass ein Verurteilter von einem Widerruf der Strafaussetzung wegen neuer Straftaten nur unter strengeren Voraussetzungen als denen verschont werden kann, die für den Widerruf einer Strafaussetzung wegen sonstiger Verstöße maßgebend sind (siehe Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 24.01.1974 - Ws 197/73, juris Ls., MDR 1974, 593; zuletzt Beschluss vom 28.08.2017 - 1 Ws 100/17).

Die entspricht dem systematischen Ausnahmecharakter des § 26 II JGG. Seine Anwendung setzt voraus, dass das Gericht, sei es aufgrund einer bereits eingetretenen positiven Veränderung der Lebensverhältnisse des Verurteilten, sei es aufgrund neuer Auflagen und Weisungen zu der Überzeugung gelangt, er werde endgültig von Straftaten Abstand nehmen und ein geordnetes Leben führen. Diese Überzeugung kann nur gewonnen werden, wenn objektiv eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein künftiges Wohlverhalten des Verurteilten vorliegt (vgl. Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Allein der Umstand, dass der Verurteilte Beratungsgespräche bei der DROBS führt, reicht hierfür nicht aus, zumal die vom Verurteilten früher absolvierte Therapie ihn nicht von einem Rückfall in die Sucht und den neuen Straftaten abgehalten hat.

Der vorliegende Reststrafenbewährungsbeschluss datiert vom 19.09.2018 (Bl. 2 d.A.). Die Rechtskraft ist am 03.10.2018 eingetreten. Nur kurze Zeit nach Rechtskraft, nämlich am 05.10.2018, 10.10.2018, 13.10.2018, 19.10.2018, 28.10.2018, 29.10.2018, 31.10.2018, 02.11.2018, 17.11.2018, 03.12.2018 und 14.12.2018 beging der Verurteilte neue Straftaten (Bl. 62/63 d.A.). Hieran schlossen sich noch 19 weitere Taten an. Aufgrund der hohen Rückfallgeschwindigkeit ist eine Vollstreckung der verhängten Jugendstrafe geboten.

Auch der Umstand, dass der Verurteilte eine Operation am Rücken hatte, führt nicht zu einer positiven Sozialprognose. Nach Mitteilung der Bewährungshelferin ist die Operation gut verlaufen. Dafür, dass der Verurteilte den Krankenhausaufenthalt zu einer vollständigen Veränderung seiner Lebensführung genutzt hätte, fehlen aus Sicht der Kammer belastbare Anhaltspunkte. Die Ursache seiner Straffälligkeit, nämlich die Suchterkrankung, hat der Verurteilte nach wie vor nicht aufgearbeitet. Trotz früherer Therapie nach § 35 BtmG ist er nur kurze Zeit nach Rechtskraft der Bewährungsentscheidung erneut durch Begehung einer Vielzahl neuer Straftaten rückfällig geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 74 JGG.