Landgericht Bückeburg
Beschl. v. 22.01.2003, Az.: Qs 5/03

Bibliographie

Gericht
LG Bückeburg
Datum
22.01.2003
Aktenzeichen
Qs 5/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 39413
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGBUECK:2003:0122.QS5.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Rinteln - AZ: 6 BRs 37/00
StA Bückeburg - AZ: 305 Js 3935/96

Fundstellen

  • NStZ 2006, 417-424 (Urteilsbesprechung von Privatdozent Dr. Manfred Heinrich)
  • NStZ 2005, 168-171 (Volltext mit red. LS)
  • NStZ-RR 2003, 155-157 (Volltext mit red. LS)

In der Bewährungssache

wegengemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, räuberischer Erpressung pp.

hat die Strafkammer I - Jugendkammer - des Landgerichts Bückeburg auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den einen Widerruf der Bewährung ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts Rinteln vom 19.12.2002 durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht Frhr. v. Hammerstein, die Richterin am Landgericht Raßweiler und den Richter am Landgericht Rohde am 22.01.2003

beschlossen:

Tenor:

  1. Der Beschluss des Amtsgerichts Rinteln vom 19.12.2002 - 6 BRs 37/00 - wird aufgehoben.

    Das Verfahren wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Rinteln zurückgewiesen, das auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden hat.

Gründe

1

I.

Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Rinteln verurteilte O. am 09.10.1997 wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und gemeinschaftlichen Hausfriedensbruchs, des gemeinschaftlichen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung in acht Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit gemeinschaftlichem Hausfriedensbruch und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Nötigung, ferner der Tötung eines Wirbeltieres, der fahrlässigen Körperverletzung, der gemeinschaftlichen Sachbeschädigung in zwei Fällen und der Beleidigung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, wobei das Urteil des Amtsgerichts Stadthagen vom 09.01.1997 - 1 Ds 82 Js 2245/96 (261/96) - und das Urteil des Amtsgerichts Rinteln vom 14.01.1997 - 6 Ds 82 Js 4518/96 (111/96) - mit einbezogen wurden. Die Vollstreckung der Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

2

Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft Bückeburg und die des Verurteilten wurde das angefochtene Urteil durch das Urteil der 1. Großen Jugendkammer des Landgerichts Bückeburg vom 31.03.1998 dahingehend abgeändert, dass der Verurteilte zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt wurde.

3

Am 08.07.1999 setzte der Vollstreckungsleiter der Jugendanstalt Göttingen-Leineberg bei dem Amtsgericht Göttingen die Vollstreckung des Strafrestes nach Verbüßung von mehr als der Hälfte der Jugendstrafe zur Bewährung aus (54 VRJs 137/98), setzte die Bewährungszeit bis zum 20.07.2001 fest und gab dem Probanden u. a. auf, eine Therapie zu absolvieren.

4

Am 09.09.2000 wurde der Verurteilte erneut straffällig. Das Amtsgericht Rinteln verurteilte ihn am 27.03.2001 wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten ohne Bewährung - Az.: 6 Ds 305 Js 6644/00 (128/00) - . Auf die Berufung des Verurteilten hin wurde das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass die erkannte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde (Entscheidung der 8. Kleinen Jugendkammer des Landgerichts Bückeburg vom 16.10.2001 - Ns 62/01 -). Das Urteil ist seit dem 16.10.2001 rechtskräftig. Die Bewährungszeit wurde auf vier Jahre festgesetzt. Dem Verurteilten wurde u. a. zur Auflage gemacht, einen Geldbetrag von 1. 000 DM an die Staatskasse zu zahlen und sich dem zuständigen Bewährungshelfer zu unterstellen.

5

Mit Schreiben vom 22.11.2001 teilte die Bewährungshelferin des Verurteilten mit, dass dieser sich beharrlich der Bewährungsaufsicht entziehe.

6

Das Amtsgericht Rinteln verlängerte daraufhin in der vorliegenden Sache mit Beschluss vom 17.12.2001 (6 BRs 37/00) die Bewährungszeit um ein Jahr.

7

Am 25.04.2002 erließ das Amtsgericht Rinteln gegen den Probanden einen Haftbefehl (6 Gs 43/02). Hierin wird er beschuldigt, am 21. April 2002 in Rinteln und Umgebung gemeinschaftlich handelnd durch dieselbe Handlung eine gefährliche Körperverletzung, eine Freiheitsberaubung sowie eine Bedrohung begangen zu haben. Zum Tatzeitpunkt soll es zwischen dem Mitbeschuldigten W. einerseits und den Zeugen M., M., S. und L. andererseits zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen sein, in deren Verlauf die Mitbeschuldigte W. den Probanden sowie die Mitbeschuldigten Sch. und O. zur Hilfe rief, welche mit einem von dem Mitbeschuldigten O. geführten Pkw herbeieilten. Die Zeugen M., S. und L. entfernten sich in einem Pkw, der Zeuge M. blieb bei dem Probanden. Es soll ihm sodann eine Körperverletzung am rechten Oberschenkel zugefügt worden sein. Der daraufhin flüchtende Zeuge M. soll sodann eingeholt und gegen seinen Willen in das Fahrzeug der Beschuldigten verbracht worden sein, in welchem ihm weitere Körperverletzungen zugefügt wurden. Anschließend soll die Fahrt in die Rintelner Feldmark geführt haben, wo der Zeuge M. erneut körperlich misshandelt wurde. Anschließend sollen die Beschuldigten den Zeugen M. mit dem Pkw wieder nach Rinteln verbracht haben, wo der Zeuge die Beschuldigten zum Wohnort des W. führen sollte. Sie wurden jedoch gegen 05.10 Uhr von zwei Rintelner Polizeibeamten angehalten, wobei dem Zeugen M. erklärt worden sein soll, dass er keinesfalls eine Aussage machen dürfe, weil er ja nun wisse, was künftig mit ihm geschehen werde.

8

Die Haftbeschwerde des Probanden wurde durch den Beschluss der Strafkammer I des Landgerichts Bückeburg vom 18.07.2002 (Qs 47/02) als unbegründet verworfen. Zur Begründung führte die Kammer an, der Beschwerdeführer sei der im angefochtenen Haftbefehl näher bezeichneten Straftaten dringend verdächtig. Dies ergebe sich aus den detaillierten Angaben des Geschädigten M. und der Zeugen M., S. und L., den von den ermittelnden Polizeibeamten beschriebenen und fotografisch gesicherten Prellungen am Körper des Geschädigten M. sowie des Attestes des Hausarztes des Geschädigten, Dr. P., vom 24.04.2002 und aufgrund der Bekundungen der in der Nacht tätig gewesenen Polizeibeamten H. und K. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe des Beschlusses des Landgerichts Bückeburg vom 18.07.2002 Bezug genommen.

9

Die weitere Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 1. Strafkammer des Landgerichts Bückeburg vom 18.07.2002 wurde durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 22.08.2002 (2 Ws 224/02) verworfen.

10

Am 31.10.2002 hat die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Rinteln beantragt, die in dieser Sache noch offene Strafaussetzung zu widerrufen. Der Widerrufsantrag wurde zum einen darauf gestützt, dass der Proband innerhalb der Bewährungszeit eine einschlägige Straftat begangen habe (§ 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB). Die Unschuldsvermutung gemäß Artikel 6 Abs. 2 MRK stehe einem Widerruf nicht entgegen.

11

Zum anderen wurde der Widerrufsantrag auf § 56 Abs. 1 Nr. 2 StGB gestützt. Der Proband sei flüchtig und entziehe sich beharrlich der Aufsicht und Leitung seiner Bewährungshelferin. Dadurch gebe er Anlass zu der Besorgnis, dass er erneut Straftaten begehen werde.

12

Das Amtsgericht Rinteln lehnte den Antrag auf Widerruf der Bewährung durch den Beschluss vom 19.12.2002 (6 BRs 37/00) ab. Zur Begründung führte das Amtsgericht an, ein Bewährungswiderruf käme nicht in Betracht, weil die neue Straftat noch nicht in einem Verfahren gerichtlich geklärt worden sei. Die Unschuldsvermutung des Artikel 6 Abs. 2 MRK stehe einem Widerruf entgegen.

13

Zum anderen reiche die Tatsache, dass der Proband sich durch Flucht der Aufsicht und Leitung seiner Bewährungshelferin entziehe, nicht aus, eine Besorgnis, er werde weitere Straftaten begehen, anzunehmen.

14

Gegen den am 23.12.2002 der Staatsanwaltschaft Bückeburg zugegangenen Beschluss legte diese mit Faxschreiben vom 27.12.2002 sofortige Beschwerde ein. Sie begründete sie hinsichtlich der Zulässigkeit mit einem Verweis auf die überzeugenden Ausführungen in den Beschlüssen des Landgerichts Osnabrück (NStZ 1991, 533), des Landgerichts Hamburg (NStZ 1996, 250 ff. [LG Hamburg 04.01.1995 - 634 Qs 46/94]) und des Oberlandesgerichts Nürnberg (NStZ-RR 1998, 242). Es widerspreche der Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafprozess und auch im Jugendrecht, ihr generell ein Beschwerderecht abzusprechen.

15

Im Übrigen stehe außer Zweifel, dass der Verurteilte an der neuerlichen Straftat vom 21.04.2002 mitgewirkt habe. Wegen dieser Tat befinde er sich auf der Flucht. Dadurch entziehe er sich gleichzeitig beharrlich der Aufsicht und Leitung seiner Bewährungshelferin und gebe dadurch Anlass zur Besorgnis, weitere Straftaten zu begehen.

16

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache dahingehend Erfolg, dass die Entscheidung des Amtsgerichts Rinteln vom 19.12.2002 aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen war. Im Einzelnen ergibt sich folgendes:

17

1.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rinteln vom 19.12.2002 ist statthaft.

18

a)

Der Gesetzgeber hat ein Rechtsmittel gegen die Zurückweisung des Antrags auf Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Bei der Fassung des § 59 JGG ist er jedoch davon ausgegangen, dass eine sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den einen Widerruf der Bewährung ablehnenden Beschluss zulässig ist. Bereits aus § 59 Abs. 1 Satz 1 JGG ergibt sich, das gegen eine Entscheidung, durch welche die Aussetzung der Jugendstrafe angeordnet wird, die sofortige Beschwerde zulässig ist. Die Ablehnung des Widerrufs einer bereits beschlossenen Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung steht der Anordnung der Aussetzung der Jugendstrafe entgegen einem Antrag der Staatsanwaltschaft jedoch insoweit gleich. Wenn bereits eine sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Anordnung der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung ausdrücklich zugelassen wird, ist kein Grund ersichtlich, der Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel gegen den ihren Antrag auf Widerruf der Bewährung ablehnenden Beschluss des Gerichts zu versagen.

19

b)

Darüber hinaus ergibt sich die Zulässigkeit des vorliegenden Rechtsmittels aus den §§ 2 JGG, 453 Abs. 2 Satz 1 und 3, 311 StPO.

20

Gemäß § 2 JGG gelten die allgemeinen Vorschriften, insbesondere auch die Strafverfahrensvorschriften der StPO, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. § 59 JGG sieht - wie bereits ausgeführt - eine Rechtsmittelmöglichkeit gegen einen Beschluss, durch den der Antrag auf Widerruf einer Bewährung zurückgewiesen wird, nicht ausdrücklich vor. Da dieser Fall im Gesetz nicht geregelt ist, ist der Weg zu einer entsprechenden Anwendung der Vorschriften der StPO frei. Durch die Verweisungsnorm des § 2 JGG ist eine analoge Anwendung der Vorschriften über das Verfahrensrecht bei Erwachsenen vom Gesetzgeber ausdrücklich zugelassen worden.

21

Gemäß § 453 Abs. 2 Satz 1 StPO ist gegen die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf eine Strafaussetzung zur Bewährung beziehen, die Beschwerde zulässig. Der Widerruf der Aussetzung kann nur mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO). Im Erwachsenenstrafrecht ist es unumstritten, dass der Staatsanwaltschaft auch dann eine sofortige Beschwerdemöglichkeit zusteht, wenn das Gericht den Antrag, eine bestehende Aussetzung zur Bewährung zu widerrufen, abgelehnt hat (Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 453, 13).

22

Im Ergebnis hat die Staatsanwaltschaft auch im Jugendstrafverfahren bei einer Ablehnung ihres Widerrufsantrages das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde. Die Bestandskraft der ablehnenden Entscheidung über den Antrag auf Widerruf der Strafaussetzung kann nicht längere Zeit in der Schwebe bleiben (Hamburg MDR 1990, 564, Stuttgart NStZ 1995, 53 [OLG Stuttgart 12.09.1994 - 4 Ws 182/94]; Meyer-Goßner a. a. O.).

23

c)

Die Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft ergibt sich schließlich aus § 59 Abs. 3 JGG. Gemäß dieser Vorschrift ist die sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe zulässig. Es gebietet bereits der Grundsatz der Waffengleichheit bzw. der der Rechtsgleichheit im Jugendstrafverfahren (so schon Brunner NStZ 1991,535 [BGH 09.07.1991 - 1 StR 666/90]), auch der Staatsanwaltschaft die Beschwerdemöglichkeit gegen die Ablehnung des Widerrufs zuzugestehen. Ein Grund, ihr diese Beschwerdemöglichkeit zu versagen, ist nicht ersichtlich. Falls der Gesetzgeber die Absicht gehabt hätte, der Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel insoweit zu versagen, hätte er, wie etwa in § 59 Abs. 4 JGG, ausdrücklich die Unanfechtbarkeit bestimmen müssen. An einer solchen Vorschrift bezüglich der Unanfechtbarkeit des einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der Bewährung ablehnenden Beschlusses fehlt es jedoch. Damit hat der Gesetzgeber ein diesbezügliches Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ausdrücklich zulassen wollen. Die insoweit von der Gegenmeinung (Eisenberg, JGG, 8. Aufl., § 59, 27 m. w. N.) genannten Argumente im Hinblick auf die besonderen Zwecke und Bewertungen des jugendstrafrechtlichen Rechtsmittelsrechts greifen im Ergebnis nicht durch. Falls der Gesetzgeber aufgrund der im Jugendstrafrecht geltenden besonderen Rechtsmittelbestimmungen eine sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den einen Antrag auf Widerruf der Bewährung ablehnenden Beschluss hätte ausschließen wollen, hätte er dies ausdrücklich in § 59 JGG regeln müssen.

24

Nach Ansicht der Kammer erscheint es nicht sachgerecht, mit allgemeinen Überlegungen aus dem Jugendstrafrecht und dessen Besonderheiten ein Rechtsmittel, das durch die Vorschriften der §§ 2 JGG, 453 Abs. 2, 311 StPO klar und deutlich zugelassen worden ist, zu verwehren. Hierauf haben völlig zu Recht bereits die Landgerichte Hamburg (Strafverteidiger 1995, 480 ff.) und Osnabrück (NStZ 1991, 533) hingewiesen.

25

Ebenso zutreffend hat das Landgericht Osnabrück ausgeführt, dass die Rechtsmittellosigkeit einer Widerrufsablehnung zur Folge hätte, dass selbst gesetzwidrige Ablehnungen vor einer Beschwerde bestehen könnten. Dass dies hinzunehmen sein soll, ist auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich bei der Widerrufsablehnung um eine Zwischenentscheidung handelt, aufgrund der hier zu bewertenden materiellen Richtigkeit einer Entscheidung nicht verständlich (LG Osnabrück a. a. O.). Dies macht auch gerade der vorliegende Fall deutlich.

26

d)

Für die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels gegen die ablehnende Entscheidung über den Antrag auf Widerruf der Aussetzung der Jugendstrafe spricht schließlich die Regelung des § 65 Abs. 2 Satz 1 JGG (LG Hamburg, StV 1995, 481). Danach ist ein Beschluss, mit dem die Änderung von Weisungen abgelehnt wird, nicht anfechtbar. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber diese ablehnende Entscheidung ausdrücklich der Anfechtung entzogen, hingegen dieses für den Fall der ablehnenden Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung einer Jugendstrafe nicht ausgesprochen (Hamburg a. a. O.). Wenn der Gesetzgeber bereits die Änderungen von Weisungen für nicht anfechtbar erklärt, hätte es nahegelegen, dies erst recht für den Fall einer Widerrufsablehnung zu bestimmen. Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber dies gerade nicht getan hat, folgt wiederum, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass der Staatsanwaltschaft eine Beschwerdemöglichkeit gegen die Entscheidung der Widerrufsablehnung zusteht.

27

e)

Gegen eine Statthaftigkeit eines Rechtsmittels der sofortigen Beschwerde spricht schließlich auch nicht, dass der Jugendrichter, der die Strafaussetzung überwacht, den Verurteilten in der Regel besser als der Jugendstaatsanwalt kennt und nur er aus diesem Grunde in der Lage sei, eine zuverlässige Entscheidung darüber zu treffen, ob bei einer hervortretenden Entwicklung des Jugendlichen eine Bewährung zu widerrufen oder (noch) nicht zu widerrufen ist. Insoweit ist auf die auch in der Rechtsmittelinstanz geltende (LG Hamburg STV 1995, 481; Osnabrück NStZ 1991,533) Vorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 3 JGG zu verweisen. Danach ist dem Jugendlichen vor einer Entscheidung nach § 26 JGG die Gelegenheit zur mündlichen Äußerung vor dem Richter zu geben, so dass sich das Beschwerdegericht ein umfassendes Bild von der Persönlichkeit des Jugendlichen machen kann.

28

f)

Die Vorschrift des § 59 Abs. 4 JGG nötigt entgegen der Gegenansicht (Eisenberg a. a. O. § 59, 27) nicht zu einem Ausschluss der Anfechtungsmöglichkeit. Gemäß dieser Vorschrift ist der Beschluss über den Straferlass der Anfechtung entzogen. Hieraus zu folgern, dass, wenn schon eine dem Ablehnungsbeschluss viel weitergehende Entscheidung unanfechtbar ist, dies erst recht für die ablehnende Anordnung auf den Widerrufsantrag Geltung haben muss, ist nicht zwingend (Osnabrück a. a. O.). Dagegen spricht, dass der Erlass der Jugendstrafe gemäß § 26 a Satz 1 JGG erst nach Ablauf der Bewährungszeit ausgesprochen werden darf, wenn der Jugendrichter nicht nach § 26 JGG widerruft. Der Gesetzgeber stellte somit den Erlass der Jugendstrafe an das Ende des Bewährungsverfahrens (Hamburg a. a. O.). Bei dem vorliegenden Beschluss des Amtsgerichts Rinteln handelt es sich aber um eine Entscheidung, die die Geschehnisse innerhalb der laufenden Bewährungszeit beurteilt. Sie kann demnach nicht mit denjenigen Entscheidungen, die nach einer bestandenen Bewährungszeit getroffen werden, gleichgestellt werden.

29

Bei dem Straferlass handelt es sich um eine endgültige Entscheidung, während es sich bei den Entscheidungen während der Bewährungszeit überwiegend um vorläufige Anordnungen handelt. Insoweit kommt dem Straferlass im Hinblick auf das bei einer Entscheidung über den Widerruf nach § 26 Abs. 1 und 2 JGG auszuübende Ermessen eine andere Bedeutung zu. Die Schlussfolgerung, dass dem § 59 Abs. 4 JGG die Unanfechtbarkeit einer dem Grunde und dem Charakter nach andersartigen Entscheidung zu entnehmen ist, ergibt sich danach nicht (LG Osnabrück a. a. O.).

30

g)

Die aufgezeigten Überlegungen gelten ebenso für die von der Gegenmeinung vertretene Argumentation (Potrykos NJW 1960, 1217; Eisenberg a. a. O.), aus dem Rechtsgedanken des § 63 Abs. 1 JGG ergebe sich die Unzulässigkeit der Beschwerde der Staatsanwaltschaft. Auch im Fall des § 62 Abs. 2 JGG geht es um eine endgültige Entscheidung nach Ablauf der Bewährungszeit und nicht um eine Entscheidung im Zwischenverfahren.

31

h)

Soweit Eisenberg und Sieveking (NStZ 1996, 251) sich eingehend mit der Möglichkeit des Jugendrichters hinsichtlich der Einbeziehung der während der Bewährungszeit begangenen Straftat gemäß § 31 JGG beschäftigen und aus dem Einheitsprinzip des JGG entnehmen, eine analoge Anwendung des § 453 StPO sei abzulehnen, kann dem nicht gefolgt werden. Hätte der Gesetzgeber die Rechtsfolge der Unanfechtbarkeit der Widerrufsablehnung im Hinblick auf das Einheitsprinzip des JGG tatsächlich beabsichtigt, hätte er dies ausdrücklich geregelt.

32

Darüber hinaus ist die Einbeziehung der bereits rechtskräftig festgestellten Straftat in die neue Entscheidung gemäß § 31 Abs. 2 JGG nicht zwingend. Ist es aus erzieherischen Gründen zweckmäßig, so kann der Richter davon absehen, schon abgeurteilte Straftaten in die neue Entscheidung mit einzubeziehen (§ 31 Abs. 3 JGG). Gerade bei Jugendlichen gebietet es die pädagogische Erfahrung, ihnen die Konsequenzen einer trotz entsprechender Belehrung innerhalb der Bewährungszeit begangenen Straftat aufzuzeigen. Eine solche Konsequenz ist u. a. der Widerruf der Bewährung gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG. Ein Grund dafür, dass die Entscheidung des Jugendrichters, die bereits rechtskräftig festgestellte Straftat in eine Einheitsjugendstrafe nicht mit einzubeziehen und gleichzeitig die Bewährung aus der früheren Straftat nicht zu widerrufen, nicht anfechtbar sein soll, ist nicht ersichtlich.

33

III.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rinteln vom 19.12.2002 hat in der Sache zumindest auch insoweit Erfolg, als die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses zurückzuweisen war. Insoweit gilt Folgendes:

34

1.

Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 26 Abs. 1 JGG liegen vor.

35

a)

Der Verurteilte ist dringend verdächtig, am 21.04.2002 in Rinteln und Umgebung gemeinschaftlich handelnd durch dieselbe Handlung eine gefährliche Körperverletzung, eine Freiheitsberaubung sowie eine Bedrohung begangen zu haben. Hiervon ist bereits das Amtsgericht Rinteln in seinem Haftbefehl vom 25.04.2002 (6 Gs 43/02) ausgegangen. Die hiesige Strafkammer hat auf die Haftbeschwerde des Verurteilten hin den Haftbefehl mit umfangreicher und detallierter Begründung ausdrücklich aufrechterhalten und die Beschwerde als unbegründet verworfen (Qs 47/02). Das Oberlandesgericht Celle hat die weitere Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Bückeburg vom 18.07.2002 verworfen (2 Ws 224/02).

36

Auch wenn die neue Straftat noch nicht rechtskräftig abgeurteilt worden ist, ist ein Widerruf bereits grundsätzlich dann zulässig, wenn die neue Straftat zur Überzeugung des Gerichts feststeht (BVerfG NStZ 88, 21; NStZ 91, 30; Europäische Kommission für Menschenrechte, Strafverteidiger 92, 282). Insoweit vermag die Kammer der insoweit entgegenstehenden Ansicht des Amtsgerichts Rinteln nicht zu folgen.

37

Es kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob die Kammer den Verurteilten nicht nur für dringend verdächtig hält, die Straftat am 21.04.2002 in Rinteln begangen zu haben, sondern darüber hinaus auch von seiner Straftat insgesamt überzeugt ist, sodass dies bereits einen Widerruf der Bewährung rechtfertigen würde.

38

Vorliegend ist ein Widerruf der Aussetzung zur Bewährung jedenfalls gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 2 JGG gerechtfertigt. Durch seine Flucht hat sich der Verurteilte jedenfalls der Aufsicht und Leitung seiner Bewährungshelferin beharrlich entzogen. Für die weitere Voraussetzung, dass er hierdurch Anlass zu der Besorgnis gibt, erneut Straftaten zu begehen, ist eine Überzeugung des Gerichts von einerTatbeteiligung des Verurteilten nicht zwingend erforderlich. Aus im Einzelnen bezeichneten und objektivierbaren Verdachtsmomenten muss sich insoweit lediglich eine konkrete Wahrscheinlichkeit ergeben, dass der Verurteilte erneut Straftaten begehen wird. Nach Ansicht der Kammer liegt aufgrund des bereits festgestellten dringenden Tatverdachts bezüglich der Tat am 21.04.2002 in Rinteln ein solcher Anlass zu der Besorgnis weiterer Straftaten vor.

39

b)

Ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung erscheint vorliegend nicht unverhältnismäßig. Insbesondere kommt eine bloße Verlängerung der Bewährungszeit oder die Erteilung von weiteren Weisungen oder Auflagen nicht in Betracht. Der Verurteilte befindet sich seit geraumer Zeit auf Flucht. Zudem ist der Verurteilte bereits in der Vergangenheit mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Eine positive Sozialprognose kann ihm nicht mehr gestellt werden.

40

2.

Die Kammer sieht sich gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden. Voraussetzung für eine Widerrufsentscheidung ist die persönliche Anhörung des Verurteilten (§ 58 Abs. 1 Satz 3 JGG). Eine solche persönliche Anhörung des Verurteilten hat das Amtsgericht unterlassen, da sich dieser seit geraumer Zeit auf Flucht befindet. Es hätte jedoch gemäß § 58 Abs. 2 JGG, 453 c StPO einen Sicherungshaftbefehl erlassen müssen. Dies wird das Amtsgericht nachzuholen und nach einer entsprechenden Anhörung des Verurteilten über den Widerrufsantrag erneut zu entscheiden haben.

41

IV.

Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wird das Amtsgericht zu entscheiden haben.