Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 25.10.2010, Az.: L 2 R 556/10 B
Bekanntgabe von Widerspruchsbescheiden; Klageerhebung innerhalb eines Monats; Erforderlichkeit einer Zustellung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.10.2010
- Aktenzeichen
- L 2 R 556/10 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 28915
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2010:1025.L2R556.10B.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 04.10.2010 - AZ: 6 R 735/10
Rechtsgrundlagen
- § 66 Abs. 2 S. 1 SGG
- § 85 SGG
- § 87 Abs. 1 S. 1 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Durch die Neufassung der §§ 85 Abs. 3 S. 1 und 87 Abs. 1 S. 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 17.8.2001 zum 2.1.2002 wird keine Zustellung von Widerspruchsbescheiden mehr gefordert. Die einmonatige Klagefrist beginnt nunmehr bereits ab deren Bekantgabe zu laufen. Der Begriff der Bekanntgabe ist als solcher jedoch nicht weniger und auch nicht mehr bestimmt als der zuvor maßgebliche Begriff der Zustellung. Der Empfänger wird daherüber die Rechtsbehelfsfrist hinreichend mit dem Hinweis belehrt, dass eine Klage innerhalb eines Monats "nach seiner Bekanntgabe" zu erheben ist, wenn ein Widerspruchsbescheid mit einfachem Brief bekanntgegeben wird. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe
I. Der im Hauptsacheverfahren eine Erwerbsminderungsrente anstrebende Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe.
Nach erfolglosem Ausgangsverfahren wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 24. Februar 2010 zurück. Dieser Bescheid wurde dem Bevollmächtigten des Klägers mit einfachem Brief übersandt, der am darauffolgenden Tag zur Post gegeben worden ist und den Bevollmächtigten wenige Tage später erreicht hat. Der Widerspruchsbescheid enthielt folgende Rechtsbehelfsbelehrung: "Gegen diesen Widerspruchsbescheid können Sie innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe schriftlich Klage erheben beim Sozialgericht Hannover Sie können sich aber auch an den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle dieses Gerichts wenden und Ihre Klage schriftlich aufnehmen lassen."
Mit der am 20. August 2010 erhobenen Klage macht der Kläger geltend, dass die Rechtsbehelfsbelehrung durch die Verwendung des ungenauen und missverständlichen Begriffs der Bekanntgabe unzutreffend sei. Dementsprechend habe er nach § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG die Klage innerhalb eines Jahres erheben können; diese Frist habe er gewahrt.
Den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung seines Bevollmächtigten Rechtsanwalt F. hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 4. Oktober 2010 abgelehnt. Die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid sei nicht zu beanstanden. Angesichts der Versäumung der Klagefrist fehlten der beabsichtigten Rechtsverfolgung die erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des Klägers vom 14. Oktober 2010, mit der dieser anknüpfend an Entscheidungen des BSG weiterhin eine Ungenauigkeit und Missverständlichkeit des in der Rechtsbehelfsbelehrung verwandten Begriffs der Bekanntgabe geltend macht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Auch nach Auffassung des Senates fehlen der beabsichtigten Rechtsverfolgung schon deshalb die nach § 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten, weil der Kläger die Klagefrist versäumt hat. Dementsprechend besteht kein Anlass, näher auf das Fehlen einer weitergehenden inhaltlichen Begründung der Klage und auf die nur unvollständigen Angaben im Antragsformular einzugehen.
Der Kläger hat augenscheinlich, was auch von seiner Seite nicht in Abrede gestellt wird, die einmonatige Klagefrist nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG versäumt. Diese Frist ist im vorliegenden Fall maßgebend, da entgegen der Rechtsauffassung des Klägers die dem Widerspruchsbescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung keine Unrichtigkeit im Sinne des § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG aufwies. Mithin kann er sich auch nicht darauf berufen, dass ihm in Anwendung dieser Vorschrift eine Frist von einem Jahr zur Klageerhebung zur Verfügung gestanden habe.
Das Gesetz selbst stellt in § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG ausdrücklich auf den Zeitpunkt der "Bekanntgabe" als maßgeblichen Zeitpunkt für den Beginn der einmonatigen Klagefrist ab. Schon deshalb kann es als solches weder unrichtig noch missverständlich sein, wenn die Beklagte in der beanstandeten Rechtsbehelfsbelehrung ebenfalls auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe abgestellt hat.
Zu erwägen wäre allenfalls, ob die Beklagte darüber hinaus verpflichtet gewesen sein könnte, den zutreffend herangezogenen Begriff der Bekanntgabe inhaltlich näher zu erläutern. Diese Frage ist jedoch zu verneinen. Schon bezogen auf die bis 2001 maßgebliche Fassung des § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG, als diese Norm auf den Zeitpunkt der seinerzeit noch vorgeschriebenen Zustellung des Widerspruchsbescheides abstellte, hat das BSG klargestellt, dass die Frist bereits dann hinreichend bezeichnet ist, wenn die Worte des § 87 Absatz 1 SGG ("binnen eines Monats nach Zustellung") verwendet werden. Über Vorschriften zum Zeitpunkt der Zustellung braucht hingegen nicht belehrt zu werden. Das Gesetz überlässt es vielmehr dem Empfänger, diesen Zeitpunkt selbst festzustellen (BSG, Urteil vom 24. März 1993 - 9/9 a RV 17/92, NZS 1993, 375 [BSG 24.03.1993 - 9 RV 17/92]).
Diesbezüglich hat sich die Interessenlage durch die Neufassung der §§ 85 Abs 3 Satz 1 und 87 Abs. 1 Satz 1 SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17. August 2001 (BGBl I 2144) zum 2. Januar 2002 nicht geändert. Da seitdem keine Zustellung von Widerspruchsbescheiden mehr gefordert wird, beginnt die einmonatige Klagefrist nunmehr bereits ab deren Bekantgabe zu laufen. Der Begriff der Bekanntgabe ist als solcher jedoch nicht weniger (und auch nicht mehr) bestimmt als der zuvor maßgebliche Begriff der Zustellung. Beide Begriffe bedürfen der näheren gesetzlichen Erläuterung (vgl. insbesondere § 37 SGB X für die Bekanntgabe und § 63 Abs. 2 SGG i.V.m. §§ 166 ff. ZPO sowie § 85 Abs. 3 Satz 2 SGG i.V.m. §§ 2 bis 10 VwZG für die Zustellung).
Das Gesetz fordert jedoch gerade nicht eine Erläuterung solcher weiterführenden Detailvorschriften in Rechtsbehelfsbelehrung; dies wäre auch nicht sachdienlich. Auch bei einem Verzicht auf weiterführende Detailerläuterungen wird gewährleistet, dass der Rechtsunkundige vor Rechtsnachteilen durch Unwissenheit geschützt wird, indem die Rechtsmittelbelehrung ihn über den wesentlichen Inhalt der zu beachtenden Vorschriften unterrichtet und es ihm so möglich macht, ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte zur Durchführung des Rechtsmittels einzuleiten. Zugleich wird damit gerade auch im Interesse des rechtsungewandten Beteiligten verhindert, dass die Rechtsmittelbelehrung durch weitere Informationen inhaltlich überfrachtet wird und, statt Klarheit zu schaffen, wegen ihres Umfanges und ihrer Kompliziertheit Verwirrung stiftet (BSG, Urteil vom 24. März 1993 - aaO. mwN).
Soweit das BSG in einzelnen Entscheidungen darauf abstellt, dass der Begriff der Bekanntgabe "ungenau und missverständlich" sei, dürfen seine Hinweise nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden. Sie bezogen sich allein auf Fallgestaltung, in denen ein Versicherungsträger, was in seinem Ermessen liegt, auch da förmlich zugestellt hat, wo die formlose Bekanntgabe - etwa in der Form eines einfachen Briefes - genügt hätte. In solchen Sonderfällen hat es das BSG nicht nur als folgerichtig, sondern auch als erforderlich angesehen, dass in der Rechtsbehelfsbelehrung auf den Zeitpunkt der "Zustellung" für den Beginn der Rechtsbehelfsfrist abgehoben wird. Wird hingegen auch in solchen Ausnahmefällen der Begriff der Bekanntgabe verwendet, dann ist dies insofern "ungenau und missverständlich", als für die Konkretisierung des genauen Zeitpunkts einer solchen förmlichen Zustellung die näheren gesetzlichen Bestimmungen über die Zustellung (und nicht etwa die über eine Bekanntmachung) heranzuziehen sind (BSG, Urteil vom 27. September 1983 - 12 RK 75/82 -; Urteil vom 09. Dezember 2008 - B 8/9b SO 13/07 R - FEVS 60, 550; offen gelassen in dem vom Kläger herangezogenen Urteil vom 21. Dezember 2009 - B 14 AS 63/08 R - mN auch zur abweichenden Rechtsprechung des BVerwG).
Ein solcher Ausnahmefall ist im vorliegenden Zusammenhang gerade nicht gegeben. Die Beklagte hat den angefochtenen Widerspruchsbescheid nicht förmlich zugestellt, sondern sich mit einer schlichten Bekanntgabe ohne Zustellnachweis mit einfachem Brief begnügt.
Abgesehen von der erläuterten - im vorliegenden Zusammenhang nicht einschlägigen - Ausnahmekonstellation sieht auch das BSG den vom Gesetzgeber selbst herangezogenen Begriff der Bekanntgabe weder als ungenau noch als missverständlich an. Bezeichnenderweise hat das BSG auch bezogen auf die vorstehend angesprochenen Ausnahmefälle lediglich gefordert, dass die Rechtsbehelfsbelehrung in Fällen einer förmlichen Zustellung auf den Zeitpunkt der Zustellung als solcher für den Fristbeginn abstellt. Es hat hingegen keine näheren inhaltlichen Erläuterungen des Rechtsbegriffs der Zustellung - etwa in Form eines Abdrucks der §§ 2 bis 10 VwZG - gefordert. Solcher bedarf es auch nicht bezogen auf die im vorliegenden Fall maßgebliche Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).