Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 09.07.1996, Az.: 5 U 143/95

Schmerzensgeldanspruch auf Grund eines Behandlungsfehlers mit anschließender Streckheberschwäche von zwei Fingern der rechten Hand; Erfordernis einer Primärnaht nach der Durchtrennung eines Nervs als ärztlicher Standard seit 1989; Behandlungsfehler durch Nichtvornahme dieser Primärnaht; Herabsetzung der Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand; Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls; Anrechnung des Mitverschuldens wegen unterlassener Schadensminderung z.B. durch Aufnahme einer Nebentätigkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
09.07.1996
Aktenzeichen
5 U 143/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 21728
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1996:0709.5U143.95.0A

Amtlicher Leitsatz

12.000 DM Schmerzensgeld nach Nervenbeschädigung bei einer Unterarmoperation mit anschließender Bewegungsbeeinträchtigung der rechten Hand.

Tatbestand

1

Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen eines Behandlungsfehlers und Verletzung der Aufklärungspflicht auf Schmerzensgeld und Schadensersatz in Anspruch.

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Die Klägerin litt seit Juli l989 an Schmerzen im rechten Handgelenk und im rechten Unterarm. Sie wurde am 24. und 26. Oktober l989 von dem Beklagten untersucht. Das Beschwerdebild entsprach einem so genannten Supinator-Syndrom, einer Einklemmung des Ramus interosseus des Nervus radialis in Höhe des Supinatorkanals des Unterarms. Die Schmerzen der Klägerin entstanden vor allen Dingen nach Belastung durch ihre Arbeit. Sie war seit l983 bei der Post als Springerin im Postverteildienst mit zuletzt l7 Wochenstunden beschäftigt. Nebenbei arbeitete sie in einem Kiosk mit einem monatlichen Nettoverdienst in Höhe von 320,- DM.

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Am l5. November l989 führte der Beklagte bei der Klägerin einen chirurgischen Eingriff durch. Er nahm eine Neurolyse im Supinatorkanal vor. Der Operationsbericht lautet wie folgt:

"Axillaris-Block re. sitzt optimal, halbcirculärer Hautschnitt an der Beugeseite des re. Unterarmes, direkt unterhalb des Ellenbogengelenkes, Freipräparation der Nervus rad. Äste nach Trennung der Muskulatur des Muskulus brachio rad. und der Beugemuskeln des Unter- armes, ausgesprochene Neurolyse aller Äste vor allem des N. interosseus, zahlreiche Kleingefäße werden koaguliert, bzw. unterbunden, dann Spaltung des Supinator-Kanals von der Frooseschen Arkade aus.

Dabei wird der Nerv etwa l/4 seines Durchm. versehentlich inzidiert. Kann so belassen werden. Der gesamte Nerv vom Ellenbogengelenk bis zur Mitte des M. supinator wird freigelegt, der Nerv wird ausgelöst."

4

Der weitere Heilungsverlauf nach Abschluss der Operation verlief zunächst normal. Die Klägerin wurde beschwerdefrei. Die Finger III und IV der rechten Hand konnte sie jedoch nicht mehr richtig anheben. Es liegt eine Streckbehinderung und eine dadurch bedingte Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand vor. Die Klägerin klagt außerdem über Sensibilitätsstörungen an der Streckseite der rechten Hand und des rechten Unterarms.

5

Der Beklagte stellte die Klägerin nach der Operation einem Neuro- logen und einem Handchirurgen zur weiteren Behandlung vor. Die Klägerin war zunächst längere Zeit arbeitsunfähig und geht ihrer früheren Tätigkeit bei der Post nur noch in eingeschränktem Umfang nach. Die Tätigkeit im Kiosk übt sie nicht mehr aus.

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Die Klägerin hat behauptet, zu der Verletzung des Nerven sei es infolge einer Unachtsamkeit des Beklagten gekommen.

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...

8

Der Beklagte habe sie nicht nur falsch behandelt, sondern es auch versäumt, sie ordnungsgemäß über die möglichen Folgen der Operation aufzuklären.

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(Das Landgericht hat der Klage zum Teil stattgegeben)

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Beklagten ist zulässig. In der Sache selbst hat das Rechtsmittel nur teilweise Erfolg.

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Die Klägerin hat Anspruch auf Schmerzensgeld und Ersatz ihres materiellen Schadens, weil dem Beklagten bei der Operation zwei Fehler unterlaufen sind, die eine Streckheberschwäche von zwei Fingern der rechten Hand der Klägerin zur Folge haben.

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Das Landgericht hat offen gelassen, ob die Verletzung des Nervs durch den Beklagten ein Operationsfehler war, und hat den eine Haftung auslösenden Behandlungsfehler allein darin gesehen, dass der Beklagte trotz der nur teilweisen Durchtrennung des Nervs nicht sofort eine primäre Naht angebracht hat.

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Der Senat ist auf Grund erneuter sachverständiger Beratung der Überzeugung, dass dem Beklagten während der Operation zwei Behandlungsfehler unterlaufen sind. Der Sachverständige Dr. ... hat bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens ausgeführt, bei nur teilweiser Durchtrennung des Nervs sei es außerhalb jeder Diskussion, dass eine Primärnaht erforderlich sei, d.h. dass der ver- letzte Nerv unmittelbar nach der Verletzung durch eine Naht hätte versorgt werden müssen. Schon nach dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen hätte die Klägerin "spätestens nach Abklingen der Plexusanaesthesie, als das Ausmaß der Muskelausfälle offensichtlich gewesen sei, einem Handchirurgen vorgestellt werden müssen." Bei seiner nochmaligen Anhörung durch den Senat hat der Sachver- ständige keinen Zweifel daran gelassen, dass jedenfalls dann, wenn der Nerv nur teilweise durchtrennt worden ist, und es sich - wie hier - um übersichtliche Wundverhältnisse während einer Operation handele, die Wunde also auch sauber ist, die Verletzung sofort mit einer Primärnaht versorgt werden müsse. Das sei ganz allgemeine Auffassung und auch bereits im Jahre l989 ärztlicher Standard gewesen.

14

Die Anhörung des Sachverständigen durch den Senat hat zugleich ergeben, dass zusätzlich bereits die Verletzung des Nervs auf einem Behandlungsfehler beruht. Schon in seinem schriftlichen Gutachten hatte der Sachverständige Dr. ... die Operationstechnik des Beklagten eindeutig als Fehler qualifiziert. Nach seinen Ausführungen ist unverständlich, warum in Abweichung von der üblichen Technik, wonach die Schere in Längsrichtung der Nerven mit der geringstmöglichen Verletzungsgefahr geführt werde, die Schere hier quer angesetzt wurde. Aus dem Operationsbericht und der Karteikarte ließen sich keine besonderen anatomischen Schwierigkeiten ablesen, die dies rechtfertigten. Der Beklagte habe zwar später von narbigen Verwachsungen gesprochen, die aber ohne Voroperation schwer verständlich seien. Bei seiner mündlichen Anhörung durch den Senat hat der Sachverständige bestätigt, dass bei normalen Verhältnissen in Längsrichtung geschnitten werden müsse. Unter der Prämisse, dass ein Pseudoneurom entstanden war, sei es vertretbar gewesen, die Schere in Querstellung zu spreizen, um das Gewebe zu- nächst zu dehnen. Es müsse aber gleichwohl in Längsrichtung geschnitten werden. Wenn durch das Pseudoneurom besondere Schwierigkeiten bei der Präparation des Nervs auftreten, was im Operations- bericht dokumentiert werden sollte, müsse man versuchen, die Arkade mit dem Skalpell in Längsrichtung zu spalten. Ein Querschneiden wäre in dieser Situation - so der Sachverständige - jedenfalls ein grober Fehler.

15

Der Beklagte haftet hingegen nicht wegen Verletzung einer Aufklärungspflicht. Eine Aufklärung der Klägerin durch den Beklagten ist zwar nicht schriftlich dokumentiert. Darüber, ob die Klägerin über die Risiken der Operation informiert worden ist, herrscht Streit.

16

Die Klägerin hat jedoch nicht nachvollziehbar dargelegt, dass sie bei ordnungsmäßiger Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre. Sie litt unter sehr erheblichen Beschwerden. Die Erfolgschancen waren, wie der Sachverständige Dr. ... ausgeführt hat, bei fachgerechter Durchführung der Operation gut. Der ungünstige Verlauf in diesem Fall beruht auf Behandlungsfehlern, auf die sich die geschuldete Aufklärung nicht erstreckt. Der Beklagte haftet danach selbst dann nicht wegen Verletzung einer Aufklärungspflicht, falls die gebotene Aufklärung unterblieben sein sollte.

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Der Klägerin steht gemäß § 847 BGB wegen der Folgen der oben erörterten beiden Behandlungsfehler ein Schmerzensgeld zu. Der vom Landgericht ausgeurteilte Betrag in Höhe von 12.000,- DM erscheint auch dem Senat unter Berücksichtigung aller Umstände angemessen.

18

Dem Beklagten sind zwei Behandungsfehler unterlaufen, auf denen der Gesundheitsschaden an der rechten Hand der Klägerin beruht.

19

Sie leidet unter einer Streckheberschwäche von zwei Fingern, die sich bei einer Vielzahl von alltäglichen Verrichtungen bemerkbar macht und auch die Arbeitsfähigkeit der Klägerin entscheidend beeinträchtigt. Insgesamt ist die Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand erheblich herabgesetzt, da die beiden mittleren Finger nicht aus eigener Kraft aktiv gestreckt werden können, so dass - wie die Sachverständigen ausgeführt haben - diese beiden Finger bei der Benutzung der Hand u.U. im Wege stehen, wodurch auch die Gefahr von Verletzungen gegeben ist. Die Klägerin behilft sich damit, dass sie die beeinträchtigten Finger jeweils durch Fingerringe mit den noch bewegungsfähigen benachbarten Fingern verbindet und durch sie mitführen lässt. Die gesamten Umstände rechtfertigen das vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld, obgleich sich die von der Klägerin geklagten Gefühlsbeeinträchtigungen der rechten Hand nach den Darlegungen des Sachverständigen Dr. ... nicht sicher auf die Verletzung des Nervs zurückführen lassen. Diese Beeinträchtigungen sind durch die erlittene Verletzung schwerlich erklärbar.

20

Der Beklagte schuldet der Klägerin zusätzlich Ersatz des materiellen Schadens. Die Ersatzpflicht umfasst die vom Landgericht ausgeurteilten Beträge für die Krankengymnastik in Höhe von 443,36 DM und 23,29 DM, die Fahrtkosten im Rahmen der Nachbehandlung in Höhe von 735,- DM und 115,60 DM, die von der Berufung nicht angegriffen worden sind.

21

Ferner hat die Klägerin Anspruch auf Ersatz ihres Verdienstaus- falls. Auf Grund der Behinderung der rechten Hand kann die Klägerin ihre frühere Tätigkeit im Kiosk nicht mehr ausüben, wie das Landgericht unter Verwertung des überzeugenden arbeitsmedizinischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. ... ausgeführt hat. Da- durch ist ihr von Januar 1990 bis Juli 1995 ein Verdienstausfall in Höhe von 10.560,- DM entstanden. Insoweit wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (UA S. 8 u. bis S. 9 Mitte) Bezug genommen. Von dem so errechneten Betrag sind ersparte berufsbedingte Aufwendungen, die der Senat gemäß § 287 ZPO auf monatlich 50,- DM geschätzt hat, in Abzug zu bringen. Insgesamt mindert sich der ersatzfähige Schaden damit für die Zeit von Januar l990 bis Juli l995 um 2.700,- DM.

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Der Schaden beruht nicht auf einem Mitverschulden der Klägerin, das sie sich nach § 254 BGB anrechnen lassen müsste. Entgegen der Auffassung des Beklagten brauchte sie sich nicht nach einer neuen Nebentätigkeit umzusehen, da ihre Bemühungen auf Grund ihres Alters und ihrer Behinderung, die sich bei fast allen Tätigkeiten störend bemerkbar machen kann, bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage keine Erfolgschancen gehabt hätten.

23

Dass die auf den Behandlungsfehlern beruhende Gesundheitsverletzung auch ursächlich ist für einen Verdienstausfall im Rahmen der von der Klägerin ausgeübten Tätigkeit als Sortiererin bei der Post, den die Klägerin für die Zeit ab Januar l990 geltend macht, steht hingegen nicht fest. Nach Auffassung des Senats hat die Klägerin nicht den Nachweis erbracht, dass sie ohne die erlittene Verletzung des Nervs auf Dauer wöchentlich l7 Stunden als Berufssortiererin hätte arbeiten und in diesem Umfang eine feste Anstellung hätte erlangen können. Das Beschwerdebild vor der Oparation beruhte wesentlich auf der spezifischen Belastung der Hand durch die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit. Beschwerden traten bei ihr vor allem nach Belastung der Hand durch Arbeit auf. Inzwischen zeigen sich Anzeichen übermäßiger Belastung auch bereits bei einer Arbeitszeit von nur ll Stunden wöchentlich an der - allerdings ungeübten - linken Hand, weshalb die Klägerin dort zur Unterstützung eine Manschette trägt, wie sich aus dem Sachverständigengutachten von Dr. ... ergibt. Es ist danach nicht sicher, dass die Belastbarkeit der rechten Hand bei fehlerfreier Durchführung der Operation langfristig über den Zustand vor der Operation hinaus so stark gewesen wäre, dass die Klägerin auf Dauer wöchentlich l7 Stunden als Briefsortiererin hätte tätig sein können. Entsprechende Feststellungen hat auch das Landgericht in dem angefochtenen Urteil nicht getroffen. Das offene Beweisergebnis geht aber zu Lasten der Klägerin, die bezüglich des Schadensumfangs insoweit die volle Beweislast trägt.

24

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