Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 19.06.1978, Az.: 2 Ss 125/78
Getrennte Aburteilung in verschiedenen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs; Wechselwirkung zwischen dem Umfang einer Sperrwirkung bei Rechtskraft einer Entscheidung und nochmaliger Anklageerhebung; Angaben über Drogenkonsum bei Vernehmung eines Angeklagten zum Zweck einer Entlassung aus der Bundeswehr; Einheitlicher Lebenssachverhalt infolge eines untrennbaren gedanklichen Zusammenhangs von Straftaten
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 19.06.1978
- Aktenzeichen
- 2 Ss 125/78
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1978, 15604
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1978:0619.2SS125.78.0A
Rechtsgrundlagen
- § 264 Abs. 1 StPO
- § 265 StPO
- § 267 Abs. 1 S. 1 StPO
- § 145d Abs. 1 Nr. 1 StGB
- § 18 WStG
Fundstelle
- NJW 1979, 228 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz
In der Strafsache
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil der Jugendkammer des Landgerichts ... vom 20. Januar 1978
in der Sitzung vom 19. Juni 1978,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht ... als Vorsitzender,
Richter am Oberlandesgericht ...,
Richter am Amtsgericht ... als beisitzende Richter,
Leitender Oberstaatsanwalt ... als Beamter der Staatsanwaltschaft,
Justizangestellte ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts ... zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft hatte den Angeklagten beim Jugendschöffengericht angeklagt, in ... und anderen Orten in dem Zeitraum 1971/Anfang 1977 fortgesetzt durch dieselbe Handlung
- a)
Betäubungsmittel ohne erforderliche Erlaubnis (§ 3 BTMG) bzw. ohne erforderlichen Bezugsschein (§ 4 BTMG) bzw. ohne die erforderliche Ausnahmegenehmigung (§ 9 BTMG) erworben bzw. erlangt/besessen zu haben und
- b)
Erzeugnisse bzw. Waren, hinsichtlich denen Bannbruch begangen worden ist, angekauft zu haben, indem er,
seit etwa 1971 im ... Raum von unbekannten Dritten monatlich mindestens einmal Haschisch erwarb und rauchte, im Frühjahr 1976 in der Diskothek ... in ... zum ersten Mal Heroin für 30 DM und danach fortlaufend in ... auf der Szene erwarb, das er zunächst schnupfte und später - zuletzt am 7.1.1977 - sich injizierte, wobei er die Rauschmittel erwarb, obgleich er wußte, daß das Haschisch und das Heroin nur unter Umgehung der Einfuhrbestimmungen in die Bundesrepublik Deutschland gelangt sein konnten.
Das Jugendschöffengericht hat den Angeklagten freigesprochen. Die dagegen gerichtete Berufung der Staatsanwaltschaft hat die Jugendkammer verworfen. Der Angeklagte, der sich bei einer am 10. Januar 1977 durchgeführten Vernehmung zunächst im Sinne des Anklagesatzes eingelassen hatte, hatte diese Angaben nämlich vor Gericht widerrufen und erklärt, er habe die frühere Aussage nur gemacht, um aus der Bundeswehr entlassen zu werden. Die Jugendkammer konnte in der Hauptverhandlung nicht mit einer die Verurteilung tragenden Sicherheit den im Anklagesatz aufgeführten Sachverhalt feststellen (UA. S. 4). Es konnte dem Angeklagten nicht widerlegt werden, daß er die Angaben über den Drogenkonsum nur gemacht hatte, um aus der Bundeswehr entlassen zu werden. Nach der eigenen Einlassung durch den Angeklagten besteht für die Jugendkammer aber der dringende Verdacht, daß er durch seine früheren Aussagen sich des Vortäuschens einer Straftat und einer Dienstentziehung durch Täuschung schuldig gemacht hat (UA. S. 5). An einer entsprechenden Aburteilung hat sich die Jugendkammer aber durch § 264 Abs. 1 StPO gehindert gesehen.
Dagegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, die rügt, daß die Jugendkammer die Grenzen des § 264 StPO zu eng gezogen habe und deshalb ihrer Pflicht, die Strafklage umzugestalten, nicht nachgekommen sei.
II.
Die gemäß § 344 Abs. 2 StPO zulässige Rüge ist begründet.
Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Dabei ist das Gericht an die Beurteilung der Tat, die dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrunde liegt, nicht gebunden (§ 264 StPO). Die sich daraus herleitende Verpflichtung zur Aburteilung unter dem Gesichtspunkt der Umstellung der Strafklage auch zum Beispiel auf den Vorwurf des § 145 d StGB hat der hiesige 1. Strafsenat - ausgehend von der Wechselwirkung zwischen dem Umfang der Sperrwirkung bei Rechtskraft einer Entscheidung und nochmaliger Anklageerhebung (BayObLG in NJW 1965, 2211) - dann angenommen, wenn zwei Vorwürfe sich auf denselben Lebenssachverhalt beziehen und sie infolge eines untrennbaren gedanklichen Zusammenhangs so miteinander verknüpft sind, daß sie sich wechselseitig ausschließen (Nds. Rpfl. 1968, 262 = JR 1969, 153 mit - im Ergebnis - zustimmender Anm. Koffka = NJW 1968, 2390 mit ablehnender Anm. Fuchs; kritisch auch Tröndle in LK, 10. Aufl., § 1 StGB Rn. 79 und Gollwitzer in L.-R. 23. Aufl., § 264 StPO Rn. 43), Das ist der Fall beim eigentlichen Vorwurf und seinem negativen Spiegelbild. (Urteil des hiesigen 1. Strafsenats vom 17.2.1976 - 1 Ss 351/75 -). In beiden Entscheidungen war nach einer Kraftwagenfahrt, an der zwei Personen teilgenommen hatten, gegen einen von ihnen Anklage wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis bzw. wegen Trunkenheit im Verkehr erhoben worden; herausgekommen war schließlich eine Verurteilung nach § 145 d StGB. Es konnte in diesen Fällen auf die Kraftwagenfahrt mit der anschließenden Täuschungshandlung als einheitlichem Lebensvorgang zurückgegriffen werden. An einem solchen oder ähnlichen Vorgang fehlt es hier zwar. Gleichwohl ist auch hier ein einheitlicher Lebenssachverhalt gegeben, der eine Verurteilung nach §§ 145 d Abs. 1 Nr. 1 StGB, 18 WStG zulassen kann. Zum Tatbestand des § 145 d Abs. 1 Nr. 1 StGB gehört unter anderem das Vortäuschen, daß eine rechtswidrige Tat begangen worden sei, und zum Tatbestand des § 18 WStG gehören arglistige, auf Täuschung berechnete Machenschaften. Getäuscht wird über etwas, was in Wahrheit gar nicht vorliegt. Wenn eine solche Täuschung im vorliegenden Fall festgestellt werden soll, muß (auch) jener Sachverhalt, der in der Anklage geschildert ist, untersucht werden. Das Ergebnis dieser Untersuchung gehört zu den anzugebenden Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat nach §§ 145 d StGB, 18 WStG gefunden worden sind (§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO), es handelt sich keinesfalls bloß um Beweis-Tatsachen (§ 267 Abs. 1 Satz 2 StPO). Wenn die Jugendkammer, was sie bisher nicht getan hat, so zu der sicheren Feststellung gelangen sollte, daß der Angeklagte bezüglich des in der Anklageschrift aufgeführten Sachverhalts getäuscht hat, wäre damit das Gegenteil des in der Anklage aufgeführten Sachverhalts, sozusagen sein negatives Spiegelbild, festgestellt. Darin zeigt sich, daß zwischen der Feststellung, daß etwas nicht geschehen ist - dem negativen Sachverhalt -, und der Feststellung, daß etwas geschehen ist - dem positiven Sachverhalt -, eine innere Verknüpfung derart besteht, daß eine getrennte Aburteilung in verschiedenen Verfahren eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs bedeuten würde. Der in der Anklageschrift aufgeführte Sachverhalt ist gleichermaßen von tragender Bedeutung für das tateinheitlich angeklagte Vergehen (nach dem Betäubungsmittelgesetz und der Abgabenordnung) wie auch für die genannten Vergehen nach §§ 145 d Abs. 1 Nr. 1 StGB, 18 WStG.
Bedenken aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit können dagegen nicht erhoben werden. Denn durch die Vorschrift des § 265 StPO ist dem Schutz des Angeklagten, sollte er dessen bei einer Verfahrenslage wie der vorliegenden bedürfen. Genüge getan. Die Jugendkammer hat zu Unrecht Tatidentität verneint, weil sie es lediglich - vordergründig - auf den Augenblick des Tuns des Angeklagten bei seiner Vernehmung am 10.1.1977 abgestellt hat. Die Angaben, die der Angeklagte damals gemacht hat, lassen sich aber nicht losgelöst von dem Sachverhalt, wie er in der Anklageschrift geschildert wird, betrachten.