Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 16.03.1977, Az.: 1 Ss (OWi) 553/76
Ahndung einer Ordnungswidrigkeit bei Verstoß gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung mit dem Zusatzschild "Bei Nässe"
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 16.03.1977
- Aktenzeichen
- 1 Ss (OWi) 553/76
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1977, 16193
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1977:0316.1SS.OWI553.76.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AZ: 30 OWi 623/76
- AG Hildesheim - 01.09.1976
Rechtsgrundlagen
- § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO
- § 80 Abs. 1 OWiG
Verfahrensgegenstand
Verkehrsordnungswidrigkeit
Amtlicher Leitsatz
Das Zusatzschild "Bei Nässe" zum Zeichen 274 derStraßenverkehrsordnung ist nicht klar und eindeutig genug, um eine Zuwiderhandlung gegen - bedingte - Geschwindigkeitsbegrenzung als Ordnungswidrigkeit ahnden zu können.
In der Bußgeldsache
...
hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Celle auf
die mit einem Zulassungsantrag verbundene Rechtsbeschwerde des Betroffenen
gegen das Urteil des Amtsgerichts Hildesheim vom 1. September 1976
nach Anhörung der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht in der Sitzung vom 16. März 1977
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ...,
des Richters am Oberlandesgericht ...und
des Richters am Amtsgericht ...
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
- 2.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Der Betroffene wird freigesprochen.
- 3.
Die Kosten des Verfahrens, einschließlich der dem Betroffenen erwachsenen notwendigen Auslagen, werden der Landeskasse auferlegt.
Gründe
Der Senat hat die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 OWiG zugelassen, weil die Nachprüfung der Entscheidung zur Fortbildung des Rechts geboten ist.
Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zum Freispruch des Betroffenen.
Das Amtsgericht hat festgestellt, der Betroffene habe bei Befahren der Bundesautobahn Hildesheim - Kassel eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf zunächst 100 km/h und sodann 80 km/h, angeordnet durch Zeichen 274 der StVO mit dem Zusatzschild "Bei Nässe", unbeachtet gelassen, obwohl die Fahrbahn teilweise noch regennaß gewesen sei, und zwar insbesondere der von dem Betroffenen befahrene linke Fahrstreifen (überholstreifen), während der rechte Fahrstreifen stellenweise bereits trockengefahren gewesen sei. Der Auffassung des Amtsgerichts, der Betroffene habe sich dadurch einer Ordnungswidrigkeit nach § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO schuldig gemacht, indem er innerhalb der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h mit mindestens 106 km/h gefahren sei, vermag der Senat im Ergebnis nicht zu folgen.
Mit Recht hat das Amtsgericht allerdings den Einwand des Betroffenen zurückgewiesen, die Verbindung des Vorschriftszeichens 274 mit dem einschränkenden Zusatz "Bei Nässe" sei schon deswegen unbeachtlich, weil sie in der StVO nicht ausdrücklich vorgesehen sei. Die in die StVO eingefügten Verkehrszeichen und insbesondere die Zusatzschilder sind nicht abschließend (vgl. etwa Vwv zu den§§ 39-43, abgedruckt bei Mühlhaus, StVO, 6. Aufl., bei§ 39; Verzeichnisse von Zusatzschildern VBl 1972, 551, 689). Aus Form, Abmessungen usw. der hier infrage stehenden Schilderkombination sind Bedenken gegen ihren amtlichen Charakter und ihre Verbindlichkeit - als Verwaltungsakte in der Form von verwaltungsrechtlichen Allgemeinverfügungen (vgl. Mühlhaus § 39 Anm. 3 a m. Rspr-Hinweisen) - nicht herzuleiten.
Jedoch fehlt es der Verbindung des Zeichens 274 StVO mit dem Zusatzschild "Bei Nässe" an der gebotenen ausreichenden Klarheit und Eindeutigkeit, so - daß ein etwaiger Verstoß gegen die angeordnete - bedingte - Geschwindigkeitsbeschränkung mangels ausreichender tatbestandlicher Fixierung jedenfalls nicht als Ordnungswidrigkeit nach § 49 (Abs. 3 Nr. 4) StVO geahndet werden kann (§ 3 OWiG).
In einer Stellungnahme des Niedersächsischen Ministers für Wirtschaft und Verkehr vom 15.2.1977 hat dieser ausgeführt, die Geschwindigkeitsbeschränkung "Bei Nässe" solle nur angeordnet werden, wenn einer von zwei speziellen Tatbeständen vorliegt. Einmal handelt es sich um neue bituminöse Fahrbahndecken, die in den ersten Wochen und Monaten nach der Verkehrsfreigabe eine geringere Griffigkeit bei Nässe besitzen, als ein Kraftfahrer vermuten kann, der die nasse Straßenstrecke mit einer dem Zustand der Fahrbahn sonst angemessenen Geschwindigkeit befährt. Da diese Fahrbahnen bei trockenem Wetter ohne Bedenken mit hohen Geschwindigkeiten befahren werden können, hätte eine uneingeschränkte Geschwindigkeitsbeschränkung eine unnötige Behinderung des Verkehrs bedeutet und dem Grundsatz bestmöglicher Nutzung des Straßenraums widersprochen. Der zweite Anwendungsfall betrifft Straßen mit Spurrillen, entstanden durch Spikes-Reifen oder anhaltend starke Hitzeeinwirkung auf die Fahrbahndecke. Auch bei geringem Niederschlag sammelt sich in den Spurrillen so viel Wasser, daß der gefährliche Aquaplaning-Effekt eintreten kann. Beide Anwendungsfälle beziehen sich demgemäß auf vorübergehende bauliche Mängel von Straßen und Autobahnen. Sie liegen sicherlich im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht der Straßanbehörden, weil damit auf besondere Gefahren hingewiesen wird, die auch für einen aufmerksamen Kraftfahrer nicht ohne weiteres erkennbar sind.
Welcher Zustand der Fahrbahnoberfläche mit dem Zusatzschild "Bei Nässe" gekennzeichnet werden soll, ist nach der erwähnten Stellungnahme "weder in der StVO noch in der Verwaltungsvorschrift zur StVO noch in Dienstanweisungen der Polizei definiert". Mit Bestimmtheit könne lediglich gesagt werden, daß bei Regen beliebiger Stärke und unmittelbar danach, eine Straße "naß" sei. Im Übergangsbereich zwischen trocken und naß - bei Beginn eines Regens wie auch für den Trocknungsprozeß nach einem Regen - sei es jedoch unmöglich, eine scharfe Abgrenzung zu geben. Diesem Unsicherheitsbereich der Geschwindigkeitsbeschränkung sollte die Polizei nach der Vorstellung des Ministers dadurch Rechnung tragen, daß von einer Überwachung zu Beginn eines Regens sowie bei Abtrocknen der Fahrbahn abgesehen würde. Daß dies nicht geschieht, zeigt der vorliegende Fall deutlich.
Die weitgehende Unbestimmtheit und mangelnde Bestimmbarkeit des Begriffs "Nässe" macht die angesprochene Schilderverbindung um so fragwürdiger, als dem Zusatzschild nicht lediglich einschränkende, sondern geradezu auslösende Bedeutung zukommt. Das nach Größe und Erkennbarkeit als erstes ins Auge fallende Verbotsschild lt. Zeichen 274 der StVO soll nicht grundsätzlich (ggf. mit gewissen Einschränkungen), sondern nur ausnahmsweise für den Fall von Fahrbahnnässe gelten. Schon hierdurch, vor allem aber durch geradezu zwangsläufig unterschiedliche Auffassungen der Kraftfahrer darüber, wann die Fahrbahn naß ist und demgemäß die Geschwindigkeitsbeschränkung wirksam werden soll, werden Unsicherheiten in den Verkehr auf der Autobahn hineingetragen, die die Verkehrssicherheit beeinträchtigen. Der Kraftfahrer hat in der Regel nicht Zeit, über die Bedeutung eines Verkehrsschildes nachzusinnen; es muß ihm, soll er rechtzeitig darauf reagieren, im Augenblick des Erkennens verständlich sein. Dieser Forderung wird die Schilderkombination ganz und gar nicht gerecht.