Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 31.07.2020, Az.: 2 Ws 122/20

Keine dauerhafte Beiordnung eines Pflichtverteidigers für gesamtes Maßregelvollstreckungsverfahren; Beiordnung eines Pflichtverteidigers nur nach Prüfungsabschnitten; Notwendigkeit eines externen Sachverständigen als Beginn eines neuen Prüfungsabschnitts

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
31.07.2020
Aktenzeichen
2 Ws 122/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 52835
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 01.04.2020 - AZ: 161 StVK 67/19

Fundstellen

  • AGS 2021, 143-144
  • StRR 2021, 23-26
  • StV 2021, 258-259

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Vollstreckungsverfahren erfolgt für jeden Verfahrensabschnitt des Vollstreckungsverfahrens gesondert.

  2. 2.

    Eine dauerhafte Beiordnung für das gesamte Maßregelvollstreckungsverfahren erfolgt - anders als bei der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - nicht.

  3. 3.

    Ein neuer Prüfungsabschnitt beginnt spätestens mit der Erforderlichkeit und der Auswahl eines externen Sachverständigen, mit der Folge, dass dem Untergebrachten ab diesem Zeitpunkt ein Verteidiger beizuordnen ist

In der Maßregelvollstreckungssache
gegen M. D.,
geboren am ...,
zurzeit in der Psychiatrischen Klinik L.,
- Verteidiger: ... -
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht XXX, den Richter am Oberlandesgericht XXX und den Richter am Landgericht XXX am 31. Juli 2020 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die sofortige Beschwerde des Untergebrachten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg vom 1. April 2020 wird verworfen.

  2. 2.

    Der Antrag des Verteidigers auf Feststellung der Notwendigkeit einer Informationsreise in die Psychiatrische Klinik L. wird zurückgewiesen.

  3. 3.

    Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 473 Abs. 1 StPO).

  4. 4.

    Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

Gründe

I.

Der Untergebrachte wurde mit Urteil des Landgerichts Verden vom 16.09.2015, rechtskräftig seit dem 30.09.2015, wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Zugleich wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet.

Der Untergebrachte, der an einer paranoiden-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis leidet, wohnte seit dem 01.03.2007 in einer Einzimmerwohnung im Wohnkomplex M. X in O.-S. Infolge seiner Erkrankung war er seit Sommer 2013 davon überzeugt, dass aus der Wohnung unter ihm ständig "Werder-Lieder" zu hören seien. Diese stören ihn beim Schlafen und er war der Meinung, dass die in der Wohnung unter ihm angebrachte Tapete gezielt dazu verwendet wurde, um die Schallwellen der Musik in seine Wohnung zu leiten. Er glaubte, dass die Mieterin der Wohnung, die spätere Geschädigte K., das Ziel verfolgte, ihn wahnsinnig zu machen. Am 05.12.2013 beschloss er deswegen, sie zur Rede zu stellen, und erstach sie nach einem kurzen Wortwechsel mit einem von ihm mitgeführten Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 12 cm.

Nach dem Ergebnis der im Erkenntnisverfahren durchgeführten psychiatrischen Begutachtung war die Steuerungsfähigkeit des Untergebrachten zur Tatzeit krankheitsbedingt erheblich vermindert. Der Sachverständige prognostizierte ein sehr hohes Risiko für künftige Gewaltdelikte. Das krankheitsbedingte Wahnsystem des Untergebrachten könne dazu führen, dass er bei Fehlinterpretationen von Blicken oder Gesten seiner Mitmenschen hochimpulsiv und aggressiv reagiere.

Seit der Rechtskraft des Urteils befindet sich der Untergebrachte in der Psychiatrischen Klinik L. Im Überprüfungsverfahren zur Fortdauer der Unterbringung hat der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer auf Antrag der Untergebrachten mit Beschluss vom 07.11.2019 Rechtsanwalt J. aus B. als Pflichtverteidigter beigeordnet. Die mündliche Anhörung des Untergebrachten erfolgte am 27.11.2019. Mit Beschluss vom selben Tage ordnete die Strafvollstreckungskammer die Fortdauer der Unterbringung an. Diese Entscheidung ist seit dem 19.12.2019 rechtskräftig.

Mit Schriftsatz vom 02.01.2020 beantragte Rechtsanwalt S. aus B. unter Vorlage eines mit "Vollmacht" überschriebenen Schreibens des Untergebrachten vom 19.12.2019, diesem als Verteidiger beigeordnet zu werden. Auf den Hinweis des Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer, dass ein neuer Prüfungstermin erst im November 2020 anstehe, teilte Rechtsanwalt S. mit, dass nach seiner Auffassung der Überprüfungszeitraum spätestens mit Rechtskraft der zuvor ergangenen Entscheidung erneut begonnen habe und beantragte zudem die Hin- und Rückfahrt zu dem Untergebrachten in die Psychiatrische Klinik L. für notwendig zu erklären. Seine Ausführungen seien jedoch nicht als Antrag auf Prüfung der Fortdauer der Maßregel zu behandeln.

Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer hat mit Beschluss vom 01.04.2020 den Antrag des Untergebrachten auf Beiordnung von Rechtsanwalt S. zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Beiordnung eines Verteidigers erfolge für jedes Prüfungsverfahren gesondert. Eine Beiordnung komme dann in Betracht, wenn bei der Strafvollstreckungskammer ein solches Verfahren anhängig sei und diese mit der Überprüfung der Fortdauer des Maßregelvollzuges befasst ist. Ein solcher, neuer Prüfungsabschnitt habe hier noch nicht begonnen. Weder sei ein neuer Prüfungsantrag gestellt noch eine Anfechtung der ergangenen Entscheidung erfolgt.

Gegen diese, ihm am 08.04.2020 zugestellte Entscheidung hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 08.04.2020, eingegangen bei dem Landgericht Lüneburg am selben Tag, "Beschwerde" eingelegt und zugleich beantragt, die Hin- und Rückfahrt zu dem Untergebrachten in die Psychiatrische Klinik L. für notwendig zu erklären.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

1. Das als sofortige Beschwerde zu behandelnde Rechtsmittel ist gemäß § 142 Abs. 7 StPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht (§ 311 Abs. 2 StPO) eingelegt worden. Zwar stellt der Beschwerdeschriftsatz nicht ausdrücklich klar, dass die sofortige Beschwerde im Namen des Untergebrachten eingelegt ist, hiervon ist indes in Ansehung der für Rechtsanwalt S.

2. unter dem 19.12.2019 (Bl. 67 Band II VH) erteilten Vollmacht auszugehen.

2. Die sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verteidigers liegen derzeit nicht vor.

a) Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist auch im Vollstreckungsverfahren in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO zulässig (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 62. Aufl., § 140 Rdnr. 33, 33 a m. w. N.), wenn die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, dies gebieten (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27.04.1999, NStZ-RR 1999, 319 [OLG Hamm 27.04.1999 - 1 Ws 111/99]) oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 20. September 2011 - 2 Ws 242/11 -; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.01.2008 - 3 Ws 26/08 -). Betrifft das Verfahren die Vollstreckung einer Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), ist der untergebrachten Person, die keinen Verteidiger hat, nach § 463 Abs. 4 Satz 8 StPO für die Überprüfung der Unterbringung, bei der nach § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO das Gutachten eines Sachverständigen eingeholt werden soll, ein Verteidiger beizuordnen.

b) Die Beiordnung eines Verteidigers im Vollstreckungsverfahren erfolgt - anders als im Erkenntnisverfahren - nicht für das gesamte Strafvollstreckungs- oder Maßregelvollstreckungsverfahren, sondern für jeden Verfahrensabschnitt des Vollstreckungsverfahrens gesondert.

aa) Der Senat folgt insoweit der weit überwiegenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung (vgl. OLG Düsseldorf, StraFo 2011, 371 [KG Berlin 17.06.2011 - 2 Ws 219/11 - 1 AR 736/11]; OLG Zweibrücken, NStZ 2010, 470 f.; OLG München, StraFo 2009, 527; OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 252 f.; KG NStZ-RR 2002, 63 [KG Berlin 03.08.2001 - 5 Ws 380/01]; Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 33a; Willnow in KK-StPO, 8. Aufl., § 141 Rn. 11; Trenckmann in: Kammeier/Pollähne, Maßregelvollzugsrecht, 4. Aufl. 2018, L138 Vollstreckungsrecht der freiheitsentziehenden Maßregeln nach § 63 und § 64 StGB). Die in der Rechtsprechung vereinzelt gebliebene Auffassung der Oberlandesgerichte Stuttgart (NJW 2000, 3367) und Naumburg (Beschluss vom 27. April 2010 - 1 Ws 144/10 -), die Bestellung "für das Vollstreckungsverfahren" gelte bis zu dessen Ende, vermag nicht zu überzeugen. Sie widerspricht dem - gerade beim Maßregelvollzug - oft lang andauernden und wechselhaften Verlauf der Vollstreckung. Insbesondere wird sie dem berechtigten Anspruch des Verurteilten auf die Auswahl des von ihm gewünschten Verteidigers nicht gerecht. Für die dauerhafte Festlegung auf einen zunächst ausgesuchten Verteidiger bestehen angesichts der außergewöhnlichen und oft als besonders belastend empfundenen Situation der häufig über lange Zeiträume Untergebrachten keine nachvollziehbaren Gründe (vgl. OLG Zweibrücken a.a.O.). Im Übrigen führt die umfassende Beiordnung auch zu kostenrechtlichen Schwierigkeiten und Widersprüchen (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.).

Eine solche "permanente" Beiordnung ist auch nicht durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 12. Mai 1992 (StV 1993, 88) geboten, denn dieses Urteil besagt lediglich, dass in Verfahren, in denen es um die Fortsetzung, Aussetzung oder Beendigung der Unterbringung einer geisteskranken Person geht, auch ohne eigenen Antrag des Untergebrachten die Beiordnung eines Verteidigers erfolgen muss (vgl. auch KG Berlin a.a.O.).

bb) Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch die Gesetzgebungshistorie.

aaa) Der Gesetzgeber hatte durch das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung (BGBl. I 2012, 2425) in § 463 StPO einen Abs. 8 angefügt, wonach im Fall der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung dem Untergebrachten für die gerichtlichen Entscheidungen über die Vollstreckung für die gesamte Dauer des Vollstreckungsverfahrens ein Verteidiger zu bestellen ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/9874, S. 26, 27) war sich der Gesetzgeber der Beiordnungspraxis der Strafvollstreckungskammern im Maßregelvollzug bewusst und bewertete diese als uneinheitlich und insbesondere restriktiv. Angesichts der Bedeutung und Tragweite jeder Entscheidung über die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers die Bestellung eines Pflichtverteidigers auch im Vollstreckungsverfahren nunmehr künftig immer erforderlich sein, wobei aus Gründen der Verfahrensvereinfachung nur ein einziger Bestellungsbeschluss vor der ersten gerichtlichen Entscheidung erforderlich sein sollte. Eine Rücknahme der Bestellung könne nach § 143 StPO entsprechend erfolgen.

Da der Gesetzgeber in Kenntnis der Beiordnungspraxis der Strafvollstreckungskammern in Unterbringungssachen durch das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung die die Beiordnung eines Verteidigers betreffenden Norm des § 463 Abs. 4 Satz 5 StPO in der vom 01.06.2013 bis zum 24.07.2015 geltenden Fassung unverändert gelassen hat, ist davon auszugehen, dass er die Notwendigkeit für eine dauerhafte Beiordnung für das gesamte Maßregelvollstreckungsverfahren nur im Falle der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für erforderlich erachtet hat.

bbb) Schließlich hat sich der Gesetzgeber auch im Gesetzgebungsverfahren über das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Verteidigung (BGBl. I 2019, 2128), mit dem - wenngleich auch in Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 - zahlreiche Regelungen zur notwendigen Verteidigung geändert worden sind, nicht gehalten gesehen, die seit dem 01.8.2016 geltende Regelung des § 463 Abs. 4 Satz 8 StPO, wonach dem nach § 63 StGB Untergebrachten für die Überprüfung der Unterbringung, bei der nach § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO das Gutachten eines Sachverständigen eingeholt werden soll, einen Verteidiger zu bestellen ist, an die Regelung des § 463 Abs. 8 StPO anzugleichen.

c) Ein solcher neuer, eine Beiordnung eines Verteidigers erforderlich machender Prüfungsabschnitt hat jedoch hier noch nicht begonnen. Der neue Prüfungsabschnitt beginnt spätestens mit der Erforderlichkeit und der Auswahl eines externen Sachverständigen, mit der Folge, dass dem Untergebrachten ab diesem Zeitpunkt ein Verteidiger beizuordnen ist (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 02.03.2020 - 2 Ws 69/20 -; OLG Zweibrücken a.a.O. und Beschlüsse vom 27.07.2006 - 1 Ws 273/06 - und vom 08.08.2006 - 1 Ws 313/06 -; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 07.06.2019 - 1 Ws 83/19 -). Die von der Verteidigung vertretene Auffassung, wonach unmittelbar nach Ende des einen Prüfungsabschnitt der nächste beginnt, würde letztlich darauf hinauslaufen, dass dem Untergebrachten für die Dauer des gesamten Maßregelvollstreckungsverfahrens - wenngleich auch in Abweichung von § 463 Abs. 8 StPO durch mehrere Beiordnungsentscheidungen - ein Verteidiger beizuordnen wäre, was jedoch, wie vorstehend dargelegt, von Rechts wegen nicht geboten ist.

3. Der Antrag des Verteidigers, eine Informationsreise zu dem Untergebrachten in das psychiatrische Klinikum Lüneburg für notwendig zu erklären, war zurückzuweisen. Die Rechtsgrundlage für den Feststellungsantrag des Beschwerdeführers ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 RVG. Danach kann ein beigeordneter Rechtsanwalt vor Antritt einer Reise bei dem Gericht des Rechtszuges die Feststellung beantragen, dass eine Reise erforderlich sei. Da der Beschwerdeführer dem Untergebrachten indes nicht beigeordnet ist, fehlt es für die begehrte Feststellung in der Rechtsgrundlage.