Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.08.2005, Az.: 6 B 491/05
Bewertung; Bewertungsspielraum; Dyskalkulie; Einschätzungsspielraum; Jahrgangsstufe; Klassenkonferenz; Leistungsbild; Leistungsstand; Noten; Notenausgleichsregelung; Notenkonstellation; Rechenschwäche; Schule; schulische Leistungen; Schuljahrgang; Versetzung; Versetzungsentscheidung; Überspringen
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 25.08.2005
- Aktenzeichen
- 6 B 491/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50739
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 19 Abs 4 GG
- § 59 Abs 4 S 1 SchulG ND
- § 60 Abs 1 Nr 2 SchulG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Klassenkonferenz hat bei der Entscheidung, ob das Leistungsbild eines Schülers das Überspringen eines Schuljahrgangs zulässt, einen Bewertungsspielraum; dieses Leistungsbild erfordert in der Regel einen Notendurchschnitt von "gut" oder besser.
2. Die Notenausgleichsregelung der Verordnung über die Durchlässigkeit sowie über Versetzungen und Überweisungen an den allgemein bildenden Schulen - DVVO - (NdsGVBl 2003, 404) findet auf das Überspringen eines Schuljahrgangs keine Anwendung.
Gründe
I. Die im Jahre 1990 geborene Antragstellerin besuchte im Schuljahr 2004/05 die 8. Jahrgangsstufe der Antragsgegnerin, einem staatlich anerkannten Gymnasium. Am Ende des Schuljahres erhielt sie in dem Zeugnis vom 12. Juli 2005 folgende Fachnoten:
Deutsch: | 4 |
Englisch: | 3 |
Spanisch: | 3 |
Musik: | 4 |
Kunst: | 2 |
Sport: | 2 |
Geschichte: | 3 |
Politik: | 2 |
Erdkunde: | 3 |
Religion: | 3 |
Mathematik: | 5 |
Physik: | 5 |
Chemie: | 4 |
Biologie: | 3 |
Mit Beschluss der Konferenz vom 6. Juli 2005 wurde die Schülerin unter Anwendung der Regeln über einen Notenausgleich bei zwei mit „mangelhaft“ bewerteten Fächern nach Klasse 9 versetzt. Ein Überspringen der 9. Jahrgangsstufe lehnte die Klassenkonferenz ab.
Mit Schreiben vom 10. Mai 2005 hatten die Eltern der Antragstellerin für ihre Tochter bei der Antragsgegnerin beantragt, ein Überspringen der 9. Klasse zuzulassen. Hinsichtlich der Notenfestsetzung in den Fächern Mathematik und Physik verwiesen die Eltern auf einen Erlassentwurf des Niedersächsischen Kultusministeriums und machten geltend, dass hiernach die bei ihrer Tochter vorliegende Dyskalkulie die Versetzungsentscheidung nicht nachteilig beeinflussen dürfe. Dies müsse auch für das Überspringen eines Schuljahres gelten.
Am 11. Juli 2005 erhoben die Eltern der Antragstellerin gegen die Versetzungsentscheidung, soweit ein Überspringen der 9. Jahrgangsstufe abgelehnt worden war, Widerspruch, über den - soweit ersichtlich ist - noch nicht entschieden worden ist.
Am 15. August 2005 hat die Antragstellerin außerdem beim Verwaltungsgericht um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung trägt sie vor:
Sie habe nach dem von ihr gewählten Ausbildungsprofil, dem so genannten Profil S in der Sekundarstufe I (programmiertes Überspringen), einen Anspruch auf Versetzung nach Klasse 10. Ziel dieses Profils S sei die Verkürzung der Sekundarstufenzeit durch das Überspringen der 9. Jahrgangsstufe, sofern eine bestimmte Notenkonstellation erreicht werde. Mit dem Notendurchschnitt von 3,30 habe sie bei Anwendung der Notenausgleichsregelung des Niedersächsischen Schulrechts das Ziel des Profils S erreicht. Seit der 7. Klasse habe sie keine Probleme gehabt, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Auch die Versetzung in die 8. Klasse sei ohne Probleme erfolgt. Aus Anlass des Antrags auf Überspringen der 9. Klasse seien Gespräche mit mehreren Lehrern geführt worden. Lediglich der Mathematiklehrer habe sich zu der Lernschwäche in Mathematik geäußert. Diese Schwäche beruhe jedoch auf einer Dyskalkulie.
Die Antragstellerin beantragt (sinngemäß),
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig im Schuljahr 2005/06 die Teilnahme am Unterricht der 10. Klasse zu gestatten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie macht insbesondere geltend, die Klassenkonferenz habe sich bei ihrer Einzelfallentscheidung von der Erkenntnis leiten lassen, dass die Lücken der Antragstellerin in den Fächern Mathematik und Physik zu groß seien, um das 3. Jahr im S-Profil erfolgreich zu absolvieren.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die von der Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 23. August 2005 überreichten Unterlagen verwiesen.
II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Mit der Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO begehrt die Antragstellerin eine Vorwegnahme der Hauptsache, da ihr bei einer Stattgabe für die Dauer des Widerspruchs- und eines später nachfolgenden Klageverfahrens die Rechtsposition vermittelt wird, die sie grundsätzlich erst nach erfolgreichem Abschluss eines Klageverfahrens erreichen könnte. Ihrer Natur nach darf mit einer von der Antragstellerin angestrebten Anordnung jedoch grundsätzlich nur eine einstweilige Regelung oder ein vorläufiger Zustand geschaffen und im Allgemeinen einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht vorgegriffen werden (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rn. 208 ff.). Von diesem Grundsatz ist im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eine Ausnahme dann zuzulassen, wenn bereits im Verfahren zur Gewährung des einstweiligen Rechtsschutzes zu erkennen ist, dass der Rechtsuchende in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird und unzumutbar schweren Nachteilen ausgesetzt wäre, wenn er auf den rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens verwiesen würde (Finkelnburg/Jank, a. a. O., Rn. 217 m. w. N.). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor; es lässt sich bereits jetzt absehen, dass die Antragstellerin in einem eventuell nachfolgenden Klageverfahren ein Überspringen der 9. Jahrgangsstufe nicht wird erreichen können.
Nach § 59 Abs. 4 Satz 1 NSchG bedarf die Teilnahme einer Schülerin in einem höheren Jahrgang der von ihr besuchten Schulform einer Entscheidung der Klassenkonferenz, dass von der Schülerin in dem Schuljahrgang eine erfolgreiche Mitarbeit erwartet werden kann. Hierbei handelt es sich im Regelfall um eine Versetzungsentscheidung, die sich mit dem Übergang in die nächsthöhere Jahrgangsstufe befasst. Das Überspringen eines Jahrgangs ist in § 60 Abs. 1 Nr. 2 NSchG i. V. m. § 6 der Verordnung über die Durchlässigkeit sowie über Versetzungen und Überweisungen an den allgemeinbildenden Schulen in der hier anzuwendenden Fassung der Änderungsverordnung vom 19. November 2003 - DVVO - (Nds. GVBl. 2003, 404) geregelt. Diese Regelungen sehen hierzu ebenfalls einen Beschluss der Klassenkonferenz vor, wenn nach den gezeigten Leistungen und bei Würdigung ihrer Gesamtpersönlichkeit die Schülerin fähig erscheint, nach einer Übergangszeit in dem künftigen Schuljahrgang erfolgreich mitzuarbeiten. Hierbei handelt es sich um eine Prognoseentscheidung, die die stimmberechtigten Mitglieder der Klassenkonferenz auf der Grundlage ihrer im Laufe der fachlich-pädagogischen Tätigkeit gewonnenen Erfahrungen zu treffen haben und die außer der Bewertung aller von der Schülerin gezeigten Leistungen auch die Gesamtpersönlichkeit berücksichtigt. Die zur Durchführung der DVVO ergangenen ergänzenden Bestimmungen i. d. F. vom 19. November 2003 - EB-DVVO - (SVBl. 2004, 20) sehen hierzu vor, dass die Frage, ob eine Schülerin für fähig gehalten wird, einen Schuljahrgang zu überspringen, in den Fällen zu prüfen ist, in denen der Notendurchschnitt des Zeugnisses gut oder besser ist oder entsprechende Aussagen in den Lernentwicklungsberichten enthalten sind. Eine solche Prüfung ist außerdem vorzunehmen, wenn - wie hier - die Erziehungsberechtigten dies beantragen (EB-DVVO Nr. 4.2 zu § 6). Nach dem gezeigten Leistungsvermögen muss die Schülerin bei den der Schule möglichen Hilfen fähig sein, innerhalb eines Zeitraums von ca. 12 Unterrichtswochen Anschluss an den Unterricht in dem entsprechenden Schuljahrgang zu finden (EB-DVVO Nr. 4.1 und 4.7 zu § 6).
Nach Maßgabe dieser Grundsätze erweist sich die Entscheidung der Klassenkonferenz, mit der ein Überspringen der 9. Jahrgangsstufe abgelehnt worden ist, nicht als fehlerhaft.
Im Anschluss an die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf dem Gebiet des Prüfungsrechts geht die Kammer davon aus, dass den Lehrern im Bereich einer fachlich-pädagogischen Bewertung von schulischen Leistungen wegen der Eigenart des Bewertungsvorgangs ein der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung nur eingeschränkt zugänglicher Bewertungsspielraum zusteht (BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 372 m. w. N.; B. v. 13.03.1998, 6 B 28.98; Nds. OVG, B. v. 15.11.1999, 13 M 3932/99 und 13 M 4354/99; VG Braunschweig, B. v. 20.08.2003, 6 B 290/03). Die Verwaltungsgerichte können eine Bewertungsentscheidung der Schule lediglich daraufhin überprüfen, ob sie auf der Grundlage eines fehlerfreien Bewertungsverfahrens, auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage, unter Beachtung allgemein anerkannter Bewertungsgrundsätze sowie frei von sachfremden Erwägungen und Willkür zustande gekommen ist. In diesem Sinne eingeschränkt ist auch die Überprüfung von Versetzungsentscheidungen sowie eine Entscheidung der Klassenkonferenz zu dem Überspringen eines Schuljahrgangs. Die Klassenkonferenz hat einen Einschätzungsspielraum, soweit die Entscheidung von einer positiven Leistungsprognose für die erfolgreiche Teilnahme an dem Unterricht in der höheren Jahrgangsstufe abhängt. In Anbetracht der von der Antragstellerin am Ende der 8. Jahrgangsstufe gezeigten Leistungen, die nur durch die Anwendung der Ausgleichsregelungen des § 4 DVVO eine Versetzung in die 9. Jahrgangsstufe ermöglicht haben, kann die Entscheidung der Klassenkonferenz, ein Überspringen der 9. Klasse nicht zuzulassen, nicht beanstandet werden.
Die im Zeugnis vom 12. Juli 2005 aufgeführten Fachnoten weisen aus, dass die Antragstellerin den Anforderungen in der 8. Klasse nicht ohne Schwierigkeiten entsprechen konnte. Ein solches Leistungsbild entspricht bereits im Ansatz nicht einer zum Überspringen eines Schuljahrgangs notwendigen Befähigung, die in der Regel mit einem Notendurchschnitt von gut oder besser gekennzeichnet ist. Das Leistungsbild der Antragstellerin könnte auch nach dem auf ein Überspringen der 9. Klasse angelegten Ausbildungskonzept (Profil S) der Antragsgegnerin nicht die von der Antragstellerin angestrebte Entscheidung rechtfertigen. Dieses Konzept sieht vor, dass der Unterricht von vier Jahrgangsstufen (Klasse 7-10) auf drei Schuljahre verteilt ist (Klasse 7, 8 und 10), indem der Unterrichtsstoff in den drei Schuljahren gegenüber der herkömmlichen Stundentafel umfänglicher angeboten wird. Am Ende der ersten beiden Jahrgangsstufen dieses Ausbildungsmodells (Klasse 8) können die Eltern der Schüler entscheiden, ob von ihnen ein Antrag auf Überspringen des 9. Schuljahrgangs gestellt werden soll. Nach dem Ausbildungskonzept „Programmiertes Überspringen“ im Profil S (Sekundarstufe I) kann ein solcher Antrag im Regelfall ohne Bedenken (nur) gestellt werden, wenn die Schülerin ohne große Schwierigkeiten in den Klassen 7 und 8 im Profil S gearbeitet hat (Nr. 3 des Konzepts). Das ist bei der Antragstellerin jedoch nicht der Fall. Sie hatte bereits im Halbjahreszeugnis in Mathematik ein „mangelhaft“ erhalten und sich bis zum Schuljahresende im Fach Physik auf eine weitere Note „mangelhaft“ verschlechtert. Auch in dem Kernfach Deutsch, in dem - ebenso wie in Mathematik - im 10. Schuljahr erhöhte Unterrichts- und Leistungsanforderungen gestellt werden, hatte die Antragstellerin nur einen ausreichenden Leistungsstand erreicht. Lediglich in den Fächern Kunst (von „befriedigend“ auf „gut“) und Chemie (von „ausreichend“ auf „befriedigend“) vermochte die Antragstellerin bis zum Schuljahresende eine Notenverbesserung herbeizuführen. Die Entscheidung der Klassenkonferenz, in Anbetracht dieses Leistungsstands ein Überspringen des 9. Schuljahres nicht zu gewähren, sondern unter Anwendung der Notenausgleichsregelung, die nur für eine Entscheidung über die Versetzung in die nächsthöhere Jahrgangsstufe gilt, die Versetzung in die 9. Klasse zu beschließen, begegnet deshalb keinen rechtlichen Bedenken.
Soweit die Antragstellerin unter Hinweis auf einen Erlassentwurf des Niedersächsischen Kultusministerium vom 19. April 2005 zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen von einem anderen Leistungsbild ausgeht, indem sie die Nichtberücksichtigung der Noten in Mathematik und Physik fordert, folgt die Kammer dieser Auffassung nicht. Abgesehen davon, dass der Erlass bisher noch nicht in Kraft gesetzt worden ist, sehen die dort enthaltenen Grundsätze für die Leistungsfeststellung und -bewertung (Nr. 4.1 des Erlasses) vor, dass auch Schülerinnen mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen in der Regeln den für alle Schülerinnen geltenden Maßstäben der Leistungsbewertung unterliegen und - soweit in besonders begründeten Ausnahmefällen hiervon abgewichen werden kann - für den Bereich der Rechenschwierigkeiten ein Abweichen nur in der Grundschule und im Primarbereich einer Förderschule zulässig ist.
Der Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des in einem Verfahren zur Hauptsache anzunehmenden Wertes (II. Nr. 38.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - NVwZ 2004, 1327).