Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.01.1986, Az.: 6 B 164/85
Drittanfechtung einer Baugenehmigung gegen einen in einem Wohngebiet geplanten neuzeitlichen Lebensmittelmarkt; Zulässigkeit der Größe eines Ladengeschäftes in einem Wohngebiet
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 08.01.1986
- Aktenzeichen
- 6 B 164/85
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1986, 20524
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1986:0108.6B164.85.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 18.11.1985 - AZ: 8 VG D 58/85
Rechtsgrundlagen
- § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO
- § 11 Abs. 3 S. 3 BauNVO
- § 34 Abs. 1 BBauG
Verfahrensgegenstand
Anfechtung einer Baugenehmigung (Nachbarwiderspruch)
- Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs -.
Der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein in Lüneburg hat
am 8. Januar 1986
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluß des Verwaltungsgerichts Hannover - 8. Kammer Hannover - vom 18. November 1985 wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,-- DM (i.W.: fünftausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Gründe
Die Antragsteller, die auf ihrem Grundstück xxx 28 in Bad Nenndorf einen Pensionsbetrieb führen, wenden sich gegen die der Beigeladenen zu 1) erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Lebensmittelmarktes und einer Filiale der Sparkasse Bad Nenndorf auf dem östlich angrenzenden Nachbargrundstück xxx 26. Das mit Baugenehmigung vom 25. September 1985 genehmigte Vorhaben, in das die Annahmestelle einer chemischen Reinigung und ein Backwaren-Shop mit jeweils ca. 40 qm Verkaufsfläche integriert sind, weist eine Verkaufsfläche von insgesamt knapp 700 qm auf; die Nutzfläche der Sparkasse liegt geringfügig unter 90 qm. Der westliche, also den Antragstellern zugewandte Grenzabstand beträgt 4 m. Die Zufahrt zu dem weitgehend im südlichen Grundstücksbereich angesiedelten SB-Markt soll von der xxx aus erfolgen, die, etwas versetzt, eine leichte Kurvenführung aufweist. Durch der Baugenehmigung beigefügte Nebenbestimmungen ist u.a. festgesetzt, daß die Anlieferung der Waren in der Nachtzeit (22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) verboten ist und die Immissionsrichtwerte nach der TA-Lärm für ein allgemeines Wohngebiet von tagsüber 55 dB(A) und nachts 40 dB (A) nicht überschritten werden dürfen. Auf dem Baugrundstück sind mindestens 29 Einsteilplätze anzulegen (tatsächlich sollen es 34 werden). Das von der Beigeladenen zu 1) dem Bauantrag beigefügte Gutachten des Ingenieurbüros für Raum- und Bauakustik, Bühnentechnik und Lärmschutz, Dipl.-Ing. xxx, aus Hannover vom 14. Mai 1985 bestätigt, daß die vom Verbrauchermarkt verursachten Lärmbeeinträchtigungen noch unter dem von der xxx ausgehenden Straßenverkehrslärm liegen. Auch ohne zusätzliche Lärmschutzmaßnahmen könne davon ausgegangen werden, daß eine stärkere als die bisherige Lärmbeeinträchtigung nicht gegeben sei. Die am Baugenehmigungsverfahren beteiligte Industrie- und Handelskammer Hannover-Hildesheim sah in ihrer Stellungnahme von 18. Juni 1985 den SB-Markt (auch) innerhalb eines allgemeinen Wohngebietes gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO als zulässig an, da das Vorhaben das sich nördlich und westlich anschließende Wohngebiet versorgen würde.
Die Antragsteller haben gegen die Baugenehmigung (ebenso wie gegen den vorausgegangenen Bauvorbescheid vom 8. August 1985) Widerspruch erhoben und am 28. Oktober 1985 beim Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs mit Beschluß vom 18. November 1985 abgelehnt. Wegen der Begründung im einzelnen wird auf die verwaltungsgerichtlichen Ausführungen verwiesen.
Die dagegen rechtzeitig erhobene Beschwerde der Antragsteller hat keinen Erfolg. Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, daß der von den Antragstellern erhobene Widerspruch gegen die der Beigeladenen zu 1) erteilte Baugenehmigung voraussichtlich erfolglos bleiben wird. Es spricht Überwiegendes dafür, daß der genehmigte SB-Markt mit einer Verkaufsfläche von knapp 700 qm zuzüglich der Nutzfläche für die Sparkassenfiliale von etwa 90 qm sich gemäß § 34 Abs. 1 BBauG und § 34 Abs. 3 BBauG i.V.m. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Die im Flächennutzungsplan der Gemeinde Bad Nenndorf aufgenommene Darstellung und die vom Antragsgegner zu den Gerichtsakten gegebene Flurkarte (Bl. 50) mit den in der näheren Umgebung des Baugrundstücks anzutreffenden Nutzungen legen die Feststellung nahe, mit dem Antragsgegner von einem allgemeinen Wohngebiet auszugehen. Allgemeine Wohngebiete dienen vorwiegend dem Wohnen (§ 4 Abs. 1 BauNVO). Zulässig sind neben den Wohngebäuden u.a. nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO auch die der Versorgung des Gebietes dienenden Läden. Bei dem genehmigten SB-Markt handelt es sich um einen "Laden" im Sinne dieser Vorschrift, nämlich um Räumlichkeiten, in denen im Einzelhandel Waren zum Verkauf angeboten werden. Allerdings sind Läden begrifflich nur Räumlichkeiten, die im Hinblick auf das angrenzende und zu versorgende Wohngebiet generell einer Beschränkung der Verkaufsfläche unterworfen sind. In nutzungsrechtlicher Hinsicht sind sie von den in § 11 BauNVO angeführten Einkaufszentren und großflächigen Einzelhandelsbetrieben abzugrenzen, bei denen schädliche Umwelteinwirkungen in der Regel dann anzunehmen sind, wenn die Geschoßfläche 1.500 qm übersteigt (§ 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO). Der genehmigte Selbstbedienungsmarkt mit knapp 700 qm fällt - noch - unter den Begriff des "Ladens". Der früher wenn nicht ausschließlich, so doch überwiegend als Familienbetrieb geführte sogenannte Nachbarschaftsladen mit einer regelmäßig geringen Verkaufsfläche, einem beschränkten Warensortiment und einer persönlichen Bedienung hat einen durchgreifenden Strukturwandel erfahren. Festzustellen ist heute neben den immer seltener anzutreffenden, im reinen Familienbetrieb geführten (Klein)Läden eine weitgehende Hinwendung zu den Selbstbedienungsläden bzw. -märkten. Diese städtebauliche Entwicklung, findet ihren Niederschlag auch in der Auslegung des in der BauNVO verwendeten Ladenbegriffes, der keineswegs statisch angelegt ist. Die Auslegung dieses Begriffes hat sich vielmehr an den städtebaulichen und marktwirtschaftlichen Gegebenheiten seiner jeweiligen Zeit auszurichten. Allerdings besagt die Hinwendung zum Selbstbedienungsladen noch nichts über seine zulässige Größe allgemein. Auch die Ladenverkaufsraumflächen eines neuzeitlichen Selbstbedienungsladens bedürfen einer angemessenen Begrenzung, die sich weder für alle Fälle noch für alle Zeiten generell festlegen läßt. Vielmehr ist die zulässige Größe jeweils abhängig von den vom Verbraucher geforderten und vom Betreiber angebotenen Warensortiment, das wegen der gestiegenen Käuferansprüche und Käufererwartungen in den vergangenen Jahrzehnten stets gestiegen ist. So führen Fickert-Fieseler (BauNVO, Komm, 5. Aufl., RdNr. 5 zu § 4) an, daß sich das durchschnittliche Angebot eines Ladens im Jahre 1960 mit etwa 1.200 Artikeln auf einer Mindestverkaufsfläche von 100 qm bis 120 qm im Jahre 19 70 auf annähernd 3.000 Artikel auf rd. 400 qm Verkaufsfläche erweitert hat. Entsprechend werden heute Läden mit einer Verkaufsfläche um 400 qm Größe allgemein als Läden mittlerer Größenordnung angesehen, die in einem allgemeinen Wohngebiet nicht aus dem üblich gewordenen Rahmen fallen (so bereits Fickert-Fieseler, BauNVO, Komm., in seiner 4. Auflage aus dem Jahre 1979). Diese Entwicklung ist seitdem nicht stehengeblieben. Dem Urteil des Ba-Wü VGH vom 7.2.1979 (III 933/78 - BRS 35 Nr. 33) ist zu entnehmen, daß nach einer Auskunft der Industrie- und Handelskammer die Verkaufsflächen von Selbstbedienungsläden der Lebensmittelbranche mit einem ausreichenden Warenangebot, die vorwiegend auf die Versorgung eines umliegenden Wohngebietes ausgerichtet sind, zwischen etwa 200 qm und 600 qm Verkaufsfläche liegen. Mit der im vorliegenden Verfahren vom Antragsgegner eingeholten Stellungnahme der Industrie- und Handelskammer vom 18. Juni 1985 geht der Senat davon aus, daß der genehmigte Selbstbedienungsmarkt mit knapp 700 qm Verkaufsfläche zwar bereits im oberen Grenzbereich des in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO angeführten Laden-Begriffes anzusiedeln ist, er sich aber angesichts des in Bad Nenndorf zu versorgenden Wohngebietes noch in dem zulässigen Größenrahmen eines neuzeitlichen SB-Lebensmittelmarktes hält.
Der von den Antragstellern angegriffene SB-Markt dient auch "der Versorgung des (Wohn)Gebietes" im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO. Der Äußerung der Industrie- und Handelskammer ist im einzelnen zu entnehmen, daß der neue Wettbewerber ein Ausgabevolumen von rd. 1.960 Einwohnern =7,4% des Marktpotentials in der Samtgemeinde Nenndorf benötigt, um betriebswirtschaftlich im Branchendurchschnitt zu liegen. Dieses Käuferpotential ergibt sich bereits allein aus dem nördlich und westlich des Vorhabens liegenden Wohngebiet. Unabhängig davon muß sich der Einzugsbereich eines Ladengeschäftes nicht auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränken, sondern darf sich auch auf andere angrenzende Baugebiete bzw. durchfahrende Kunden erstrekken. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO verlangt nämlich nicht, daß das Ladengeschäft ausschließlich der Versorgung des Gebietes dient, in dem der Standort des SB-Marktes liegt (Ba.Wü. VGH, Urt. v. 7.2.1979, a.a.O.). Ist der genehmigte SB-Markt in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig, ergeben sich auch keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken aus der damit verknüpften Einstellplatz-Pflicht. Ist ein SB-Markt in einer Größenordnung von 700 gm in dem Baugebiet zulässig, müssen die angrenzenden Anlieger auch den damit verbundenen Kraftfahrzeugverkehr bzw. die damit verbundenen Stellplätze grundsätzlich hinnehmen. Daraus, daß der Antragsgegner über die erforderliche Stellplatzzahl von 29 weitere 5 zugelassen hat, ergeben sich ebenfalls keine rechtlichen Bedenken, denn bei der erstgenannten Zahl handelt es sich nur um eine Mindestzahl.
Allerdings dürfen auch Selbstbedienungsläden neuzeitlicher Form die in einem allgemeinen Wohngebiet vorherrschende Hauptnutzung "Wohnen" nicht in unzumutbarer Weise stören. Sie müssen sich vielmehr in einem besonderen Maße dem Gebot der Rücksichtnahme unterwerfen, das im Begriff des "Einfügens" in § 34 BBauG 1976/79 enthalten ist (BVerwG, Urt. v. 13.3.1981 - BVerwG 4 C 1.78 - ZfBR 1981, 149 = BRS 38 Nr. 86). Für eine unzumutbare Betroffenheit der Antragsteller ergeben sich hier aber keine durchschlagenden Anhaltspunkte. Die Beigeladene zu 1) hat bereits im Genehmigungsverfahren durch das von ihr vorgelegte Gutachten xxx vom 14. Mai 1985 nachgewiesen, daß die durch den SB-Markt verursachte Lärmbeeinträchtigung unter dem von der xxx ausgehenden Straßenlärm liegt. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23. November 1985 hat der Gutachter dieses Ergebnis dahin präzisiert, daß unter Zugrundelegung von 830 Kfz. Std (Verkehrszählung 1985) von einer Vorbelastung an der östlichen Hausfront des Hauses der Antragsteller von 63,9 dB (A) auszugehen ist, dem nach der Berechnung des Niedersächsischen Landesamtes für Immissionsschutz vom 11. November 1985 61 dB (A) als Geräusche vom Verbrauchermarkt gegenüberstehen. Von einer höheren Geräuschbelästigung durch den SB-Markt kann daher jedenfalls im vorliegenden Eilverfahren nicht ausgegangen werden. Im übrigen hat der Antragsgegner unzumutbare Lärmbeeinträchtigungen durch eine der Baugenehmigung beigefügte Nebenbestimmung ausgeschlossen, denn die Beschränkung der Immissionen auf tagsüber 55 dB (A) und nachts 40 dB (A) entspricht zumutbaren Werten. Das Gebot der Rücksichtnahme wird auch weder durch den Standort des SB-Marktes noch durch den der Stellplätze verletzt. Die Beigeladene zu 1) hat zu Recht darauf hingewiesen, daß eine Verschiebung des Vorhabens in den rückwärtigen Grundstücksbereich nur dazu führen würde, dann am neuen Standort die angeführten Spannungen auftreten zu lassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO, der Streitwertfestsetzung liegen die §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG zugrunde.
Dieser Beschluß ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.