Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 29.06.2004, Az.: S 6 KR 117/04
Freiwillige Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenversicherung; Kündigung der Mitgliedschaft in einer Betriebskrankenkasse (BKK); Bestehen eines Sonderkündigungsrechts
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 29.06.2004
- Aktenzeichen
- S 6 KR 117/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 17045
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGBRAUN:2004:0629.S6KR117.04.0A
Rechtsgrundlagen
- § 175 Abs. 4 S. 5 SGB V
- § 144 Abs. 4 S. 2 SGB V
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
§ 175 Absatz 4 SGB V (Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch) regelt Rechte und Pflichten des Versicherten. Er muss deshalb auch aus Sicht des Versicherten gelesen werden. Aus Sicht des Versicherten bleibt eine Krankenkasse auch dann "seine" Krankenkasse, wenn sie sich rechtlich ändert, z.B. den Zuständigkeitsbereich ausdehnt oder sich mit einer anderen Krankenkasse vereinigt.
- 2.
Fusionen von Krankenkassen dürfen keinesfalls zu Lasten der Versicherten gehen und diesen Gestaltungsmöglichkeiten nehmen.
Tenor:
- 1.
Der Bescheid der Beklagten vom 28. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2004 wird aufgehoben.
- 2.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Kündigungsbestätigung auszustellen.
- 3.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
- 4.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um das Bestehen eines Sonderkündigungsrechts gemäß § 175 Absatz 4 Satz 5 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V).
Der Kläger ist seit 01. März 2004 bei der Beklagten freiwillig gesetzlich krankenversichert. Davor war er Mitglied der BKK Mobil Oil. Die Antragsgegnerin war aus der BKK Passavant hervorgegangen. Ihren Namen Taunus BKK behielt sie sowohl nach der Fusion mit der Forum-BKK zum 01. Oktober 2003 als auch mit der BKK Hamburg-Mannheimer zum 01. Januar 2004 bei. Bis zum 31. März 2004 betrug der Beitragssatz (nach zuvor 11,9 %) 12,8 %. Zum 01. April 2004 fusionierte die Antragsgegnerin mit der BKK der Stadt Braunschweig und behielt weiter ihren Namen bei. Ab 01. April 2004 beträgt der Beitragssatz 13,8 %.
Mit Schreiben vom 15. April 2004 kündigte der Kläger die Mitgliedschaft bei der Beklagten, um zu einer anderen Krankenkasse wechseln zu können. Mit Bescheid vom 28. April 2004 wies die Beklagte die Kündigung zurück. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2004 zurück. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, dass ein Sonderkündigungsrecht gemäß § 175 SGB V aufgrund einer Beitragserhöhung für den Kläger nicht vorliege, da durch die Fusion der Taunus BKK mit der BKK der Stadt Braunschweig eine neue Krankenkasse entstanden sei und ein neuer Beitragssatz festgelegt worden sei. Der Kläger sei deshalb an die in § 175 Absatz 1 Satz 1 SGB V festgelegte 18-Monats-Frist gebunden.
Dagegen hat der Kläger am 1. Juni 2004 Klage beim Sozialgericht Braunschweig erhoben. Er habe ein Sonderkündigungsrecht, weil unstreitig eine Beitragssteigerung im Sinne von § 175 Absatz 4 Satz 5 SGB V vorgenommen worden sei. Dies gelte auch, wenn eine Fusion zweier Krankenkassen erfolgt und eine neue Krankenkasse entstanden sei.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 28. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2004 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Kündigungsbestätigung auszustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Ausstellung einer Kündigungsbestätigung nach § 175 Absatz 4 Satz 3 SGB V, da die Voraussetzungen für das Ausstellen einer solchen Kündigungsbestätigung nicht vorlägen. Er berufe sich zu Unrecht auf das Sonderkündigungsrecht nach § 175 Absatz 4 Satz 5 SGB V. Durch die Vereinigung/Fusion der ursprünglichen Taunus-BKK mit der BKK der Stadt Braunschweig zum 01. April 2004 seien diese Krankenkassen mit dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Vereinigung geschlossen (§ 150 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit § 144 Absatz 4 Satz 1 SGB V). Gleichzeitig würden die bisherigen Satzungsbestimmungen - und somit auch die bis dahin geltendenden Beitragssätze - außer Kraft treten. Eine Erhöhung der Beitragssätze könne nicht mehr stattfinden. Für die rechtlich aus der Fusion am 01. April 2004 aus den beiden Vorgängerkrankenkassen neu entstandene Taunus BKK (die Beklagte) sei originär und erstmalig ein Beitragssatz festgesetzt und vom Bundesversicherungsamt genehmigt worden, ohne dass ein Bezug zu den ehemaligen Beitragssätzen der früheren Krankenkassen bestehe. Hieran ändere auch der Umstand nichts, dass es nicht zu einer Namensänderung der neuen Taunus BKK gekommen sei. In rechtlicher Hinsicht sei eine neue Krankenkasse entstanden, die am 01. April 2004 erstmalig einen Beitragssatz festgesetzt habe. Dieser Umstand stehe dem eindeutigen Wortlaut des § 175 Absatz 4 Satz 5 SGB V entgegen, wonach die Geltendmachung des Sonderkündigungsrechts eine Erhöhung des Beitragssatzes voraus setze. Zwar sei es richtig, dass bei einer Kassenvereinigung die Rechte und Pflichten der bisherigen Krankenkasse auf den neuen Versicherungsträger übergingen. Das gelte aber nur für solche Rechte und Pflichten, die bereits bei der vorherigen Krankenkasse bestanden hätten. Ein Sonderkündigungs-recht habe jedoch gerade nicht bestanden, da die bis zum 31. März 2004 existierende ursprüngliche Taunus BKK ihren Beitragssatz nicht angehoben habe. Auch gebe es weder ein Recht auf Übergang des alten Beitragssatzes in die durch die Fusion entstehende neue Krankenkasse noch eine zeitliche Beitragssatzgarantie. Hinzu komme, dass der Gesetzgeber mit Absicht kein Sonderkündigungsrecht von Versicherten bei einer gleichzeitigen Fusion von Krankenkassen vorgesehen habe. Fusionen unter Krankenkassen seien politisch erwünscht. Trotz Kenntnis der hier strittigen Problematik habe der Gesetzgeber bei mehreren Gesetzesänderungen (zuletzt mit dem Gesundheitsreformgesetz zum 01. Januar 2004) ein Sonderkündigungsrecht bei Fusionen nicht explizit eingeführt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie der näheren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen. Verwaltungsakten der Beklagten haben trotz Anforderung durch das Gericht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch zu.
Gemäß § 175 Absatz 4 SGB V sind Versicherungspflichtige und Versicherungsberechtigte an die Wahl der Krankenkasse mindestens 18 Monate gebunden, wenn sie das Wahlrecht ab dem 01. Januar 2002 ausüben (Satz 1). Eine Kündigung der Mitgliedschaft ist zum Ablauf des übernächsten Kalendermonats möglich, gerechnet von dem Monat, in dem das Mitglied die Kündigung erklärt (Satz 2). Die Krankenkasse hat dem Mitglied unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von zwei Wochen nach Eingang der Kündigung eine Kündigungsbestätigung auszustellen (Satz 3). Erhöht eine Krankenkasse ihren Beitragssatz, kann die Mitgliedschaft abweichend von Satz 1 bis zum Ablauf des auf das Inkrafttreten des der Beitragserhöhung folgenden Kalendermonats gekündigt werden (Satz 5).
§ 175 Absatz 4 SGB V regelt Rechte und Pflichten des Versicherten. Er muss deshalb auch aus Sicht des Versicherten gelesen werden. Aus Sicht des Versicherten bleibt eine Krankenkasse auch dann "seine" Krankenkasse, wenn sie sich rechtlich ändert, z.B. den Zuständigkeitsbereich ausdehnt oder sich mit einer anderen Krankenkasse vereinigt. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie dabei den Namen (und wie hier die Beklagte sogar Sitz und Vorstand) beibehält. Zwar sind durch die Vereinigung mit Ablauf des 31. März 2004 die bisherige Taunus BKK und die BKK der Stadt Braunschweig geschlossen (§ 150 Absatz 2 Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 144 Absatz 4 Satz 1 SGB V). Nach § 144 Absatz 4 Satz 2 SGB V tritt aber die neue Krankenkasse (die Beklagte) in die Rechte und Pflichten der bisherigen Krankenkassen ein. Dabei korrespondieren die Rechte und Pflichten von Krankenkasse und Versichertem. Im wechselseitigen Verhältnis sind Rechte des Versicherten Pflichten der Krankenkasse und Pflichten des Versicherten Rechte der Krankenkasse.
Nur unter Beachtung der dargestellten Grundsätze lässt sich erklären, warum ein Versicherter wegen § 175 Absatz 4 Satz 1 18 Monate an die Wahl "seiner" Krankenkasse gebunden ist, auch wenn diese durch Vereinigung untergegangen ist. Nach der Vereinigung verbleibt ihm nicht nur das Recht aus § 144 Absatz 4 Satz 2 SGB V, weiter Mitglied der Nachfolgekrankenkasse zu bleiben, sondern auch die Pflicht aus § 175 Absatz 4 Satz 1 SGB V, dieser weiter angehören zu müssen. Da der Gesetzgeber bewusst das Sonderkündigungsrecht des § 175 Absatz 4 Satz 5 SGB V geschaffen hat, um die Verpflichtung aus § 175 Absatz 4 Satz 1 SGB V nicht zum freiheitseinschränkenden Zwang werden zu lassen, kann es nicht durch eine Krankenkassenvereinigung außer Kraft gesetzt werden.
Zwar dürfte die Beklagte mit der Behauptung, Fusionen zwischen Krankenkassen seien politisch gewollt, Recht haben. Fusionen dürfen aber keinesfalls zu Lasten der Versicherten gehen und diesen Gestaltungsmöglichkeiten nehmen.
Im Übrigen kann das Bestehen eines Sonderkündigungsrechts nicht von dem Zufall abhängen, ob eine (aus Sicht des Versicherten gesehen) Beitragssatzerhöhung mit einer Vereinigung verbunden ist oder nicht. Im Falle der Beklagten wird das besonders deutlich. Selbst die Beklagte wird nicht ernsthaft behaupten können, dass ohne die Fusion der ursprünglichen Taunus BKK (über 600.000 Mitglieder) mit der BKK der Stadt Braunschweig (unter 15.000 Mitglieder) keine Beitragssatzanhebung erforderlich gewesen wäre.
Nach alledem steht dem Kläger das Sonderkündigungsrecht zu und die Beklagte hat ihm unverzüglich eine Kündigungsbestätigung auszustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Die Sprungrevision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Wegen der hier streitigen Rechtsfrage sind bisher bei der Beklagten weit über 20.000 Widersprüche anhängig.