Sozialgericht Braunschweig
Beschl. v. 10.03.2004, Az.: S 6 KR 33/04 ER
Einstweilige Anordnung auf Kostentragung für täglich mehrfaches Blasenkatheterisieren; Vorliegen einer Querschnittslähmung mit völliger Darmlähmung und Blasenlähmung; Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund; Entscheidungsfindung nach Maßgabe einer Folgenabwägung; Umfang der Behandlungssicherungspflege; Differenzierung zwischen Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung; Interessenabwägung zwischen dem finanziellen Risiko der Versichertengemeinschaft und dem gesundheitlichen Risiko des Versicherten
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 10.03.2004
- Aktenzeichen
- S 6 KR 33/04 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 16574
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGBRAUN:2004:0310.S6KR33.04ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- NULL
Rechtsgrundlagen
- § 86 b Abs. 2 SGG
- § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V
- Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
Fundstelle
- NZS 2005, 99-101 (Volltext mit amtl. LS)
Redaktioneller Leitsatz
Die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch untunlich sein oder zumindest auf eine oberflächliche summarische Prüfung beschränkt bleiben, wenn es um überragende Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit geht. Die Gerichte müssen in solchen Fällen wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit Rechtsfragen nicht vertiefend behandeln und können ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Folgenabwägung treffen.
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache täglich mehrmaliges Blasenkatheterisieren im ärztlich verordneten Umfang als Sachleistung zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen Kosten dieses Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Kostentragung für täglich mehrfaches Blasenkatheterisieren.
Der 1952 geborene Antragsteller ist C ... Seit 3. April 2001 ist er querschnittsgelähmt ab C2 mit völliger Darm- und Blasenlähmung. Ein zivilrechtlicher Arzthaftpflichtprozess wegen der Ursache der Lähmung ist anhängig. Der Antragsteller bezieht Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegestufe III, Härtefallregelung. Dem liegen Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 14. April 2002 (D.) und vom 29. Juli 2003 (Pflegefachkraft Brigitte E.) zugrunde. Der Antragsteller ist ledig und hat keine Angehörigen, die ihn pflegen.
Unter Vorlage ärztlicher Verordnungen über häusliche Krankenpflege seiner Hausärztin F. (erstmalig vom 14. März 2002 in der Verwaltungsakte dokumentiert), beantragte der Antragsteller ab 4. März 2002 die Gewährung häuslicher Krankenpflege (täglich je einmal Injektionen, viermal Medikamentengabe, einmal Einlauf und vier bis fünfmal katheterisieren) durch einen ambulanten Krankenpflegedienst. Dies bewilligte die Antragsgegnerin jeweils, allerdings ohne das Katheterisieren. Der Antragsteller reichte daraufhin noch eine ärztliche Bescheinigung der Hausärztin F. vom 21. März 2002 ein, wonach das mehrmals tägliche Katheterisieren erforderlich sei, weil ein Dauerkatheter nicht in Frage komme.
Mit Bescheid vom 30. April 2002 lehnte die Antragsgegnerin die Kostenübernahme des Katheterisierens als häusliche Krankenpflege ab. Dagegen legte der Antragsteller Widerspruch ein und verwies auf ein Schreiben der Urologen Dres. G., BG-Unfallkrankenhaus Hamburg vom 17. September 2002, wonach der intermittierende Katheterismus zur Entleerung der neurogen gestörten Harnblase bei Querschnittslähmung nach überwiegender Meinung der Experten (Neurourologen) die günstigste, weil restharnarme und drucklose Entleerungsform sei. Die günstigste Katheterfrequenz pro Tag bestimme sich aus der individuellen funktionellen Blasenkapazität und der vom Neurourologen empfohlenen Ausscheidungsmenge, in der Regel vier- bis sechsmal täglich. Dauerkatheter jeder Art, ob suprapubisch oder transurethal eingelegt, führten bei Querschnittsgelähmten nachweislich zu deutlich schlechteren Ergebnissen aufgrund einer erhöhten Komplikationsrate mit entsprechend verkürzter Lebenserwartung. Sie seien daher nach Meinung aller in der Rehabilitation Querschnittsgelähmter erfahrener Ärzte abzulehnen bzw. nur kurzfristig in besonderen Situationen anzuwenden. Bei Querschnittsgelähmten, die aufgrund ihrer Behinderung den intermittierenden Katheterismus nicht selbst durchführen können, sei dieser von einer möglichst geringen Anzahl entsprechend geschulter Pflegekräfte durchzuführen (Behandlungspflege).
Mit Schreiben vom 7. November 2002 wiederholte die Beklagte ihre ablehnende Haltung. Die Einmalkatheterisierung sei in den "Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege" als verordnungsfähige Leistung nicht vorgesehen. Der medizinischen Begründung des Unfallkrankenhauses Hamburg könne inhaltlich gefolgt werden. Die Versorgung mit einem Einmalkatheter sei sicher die medizinisch sinnvollste Versorgungsform dieser Personenkreise und die für die Durchführung benötigten Hilfsmittel würden von der Krankenkasse auch getragen. Durch die Richtlinien könnte sie aber die eigentliche Durchführung des Einmalkatheterismus nicht bewilligen, da sie nicht verordnungsfähig sei. Dagegen verwies der Antragsteller darauf, dass die Einmalkatheterisierung grundsätzlich ärztliche Leistung und damit Leistung der gesetzlichen Krankenkasse sei. Sie sei deshalb auch zu übernehmen, wenn sie vom Arzt auf Pflegepersonal delegiert werde. Zudem seien ihm von anderen Krankenkassen positiv entschiedene Einzelfälle bekannt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2003 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. In den Richtlinien des BUB-Ausschusses gemäß § 92 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch -SGB V - vom 16. Februar 2000 seien unter Nr. 23 nur Verrichtungen im Zusammenhang mit dem Legen eines Dauerkatheters aufgeführt.
Dagegen hat der Antragsteller am 23. Juni 2003 Klage erhoben (Aktenzeichen des SG Braunschweig S 6 KR 137/03).
Am 9. Februar 2004 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Braunschweig einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gestellt. Zur Erforderlichkeit der Mehrfachkatheterisierung bezieht er sich auf sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Bis zum Mai 2003 habe die Antragsgegnerin die Kosten des Katheterisierens jeweils beglichen. Seither erhalte er jeweils monatlich eine Privatrechnung des Deutschen Roten Kreuzes, Sozialstation H., über durchschnittlich ca. 800,00 EUR für die Katheterisierungen. Er sei finanziell nicht in der Lage, diese Rechnungen zu bezahlen. Bis Januar 2004 sei ein Betrag von 5.658,15 EUR aufgelaufen. Es gebe eine inhaltlich unbestimmte mündliche Stundungsvereinbarung. Er wisse jedoch nicht, wie lange das Deutsche Rote Kreuz sich hierauf noch einlasse. Er befürchte, der rückständige Betrag würde nunmehr fällig gestellt und das Deutsche Rote Kreuz stelle dann die Leistungen ein. Dann müsse er sich gezwungenermaßen einen Dauerkatheter legen lassen. Dies habe dann aber die geschilderten lebensverkürzenden Folgen. Zwar arbeite er derzeit wieder als C., allerdings im extrem eingeschränkten Umfang von lediglich wenigen Stunden pro Tag. Die monatlichen Umsätze lägen teilweise bei 1.000,00 bis 1.300,00 EUR. Hiervon könne er kaum leben, insbesondere nicht die behinderungsbedingten Mehraufwendungen finanzieren. Von der Pflegeversicherung erhalte er monatlich 1.918,00 EUR. Auch dieser Betrag liege unter den tatsächlichen Pflegekosten. Mittlerweile habe er alle Vermögenswerte aufgelöst (2 Lebensversicherungen und ein Aktienpaket) bzw. vollständig beliehen/abgetreten, (eine Lebensversicherung). Über weitere Vermögenswerte verfüge er nicht mehr.
Der Antragsteller beantragt,
Die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn von den Ansprüchen des Pflegedienstes wegen Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Form von Einmalkatheterisierungen ab dem 4. März 2002 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens freizustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, es bestehe weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch. Der Anordnungsanspruch bestehe bereits deshalb nicht, weil das Bundessozialgericht das Einmalkatheterisieren als Leistung der gesetzlichen Pflegeversicherung eingestuft habe. Entsprechend werde das Katheterisieren als Pflegezeit beim Wasser-lassen ausweislich des MDKN-Pflegegutachtens für die Einstufung in die Pflegestufe nach dem SGB XI (Gesetzliche Pflegeversicherung) berücksichtigt. Da sich dadurch der zu berücksichtigende Pflegebedarf erhöht habe, sei die begehrte Leistung bereits bei den Leistungen der Pflegeversicherung berücksichtigt. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei unzulässig, da ansonsten die Hauptsache vorweggenommen werde. Im Übrigen würden bei Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung öffentliche Interessen gefährdet, da die Antragsgegnerin Gefahr liefe, verauslagte Kosten im Falle des Obsiegens in der Hauptsache vom Antragsteller nicht mehr wieder zurückerlangen zu können. Dem Antragsteller sei es zuzumuten, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, bzw. die begehrte Leistung beim Sozialhilfeträger zu beantragen.
Hierzu hat der Antragstellersteller erwidert, im Falle des Bezuges von Soziahilfe drohe der Entzug der Notarzulassung.
Das Gericht hat den Beteiligten Gelegenheit zur wechselseitigen schriftlichen Stellungnahme gegeben. Im Rahmen des anhängigen Hauptsacheverfahrens hat am 16. Dezember 2003 ein gerichtlicher Termin stattgefunden bei dem mit den Beteiligten der Sachverhalt ausführlich erörtert wurde.
Wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Akten des Hauptsacheverfahrens S 6 KR 137/03 und die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren, verwiesen.
II.
Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Der Antrag ist auch begründet.
Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus. Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Prüfung zu unterziehen. Die einstweilige Anordnung darf grundsätzlich die endgültige Entscheidung nicht vorweg nehmen. Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, d. h. es müssen erhebliche belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns (hier: der ablehnenden Entscheidung der Antragsgegnerin) schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden.
Die getroffene Regelung erscheint zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den Antragsteller nötig.
Das Ergebnis beruht auf einer Abwägung der Interessen des Antragstellers (wobei insbesondere die ohne die vorläufige Regelung zu erwartenden Nachteile zu berücksichtigen sind) mit den Interessen der Antragsgegnerin, also der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung. Hierbei kommt es im Regelfall entscheidend auf die Aussichten im Hauptsacheverfahren an. Einer Interessenabwägung bedarf es normalerweise nicht, wenn die Hauptsacheklage entweder offensichtlich begründet oder offensichtlich unbegründet ist. Weder der eine noch der andere Fall liegt hier vor. Die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allerdings auch untunlich sein oder zumindest auf eine oberflächliche summarische Prüfung beschränkt bleiben, wenn es um überragende Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit geht (vgl. Bundesverfassungsgericht 1 BvR 165/01, Beschluss vom 04. Juli 2001 und Beschluss vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02 sowie vom 14. Mai 1996, 2 BvR 1516/93, BVerfGE 94,166, 216 und vom 19. Oktober 1977, 2 BvR 42/76, BVerfGE 46, 166 ff). Aus dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz folgt, dass die Gerichte in solchen Fällen wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit Rechtsfragen nicht vertiefend behandeln müssen und ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Folgenabwägung treffen können.
Ob der mit der Hauptsacheklage geltend gemachte materiellrechtliche Anspruch besteht oder nicht, lässt sich bei summarischer Prüfung nicht abschließend feststellen. Es sprechen nicht unerhebliche Gründe sowohl dafür als auch dagegen. Nach den vom Antragsteller eingereichten fachmedizinischen Aufsätzen und Stellungnahmen (insbesondere der Dres. I. vom BG-Unfallkrankenhaus Hamburg) ist davon auszugehen, dass die täglich mehrfache Einmalkatheterisierung notwendig ist und vom Antragsteller selbst nicht durchgeführt werden kann, so dass die Einschaltung von Hilfskräften erforderlich ist. Dies ist zwischen den Beteiligten auch völlig unstreitig. Als Bezieher von Pflegeleistungen nach dem SGB XI ist es für den Antragsteller bei der rechtlichen Beurteilung dieser Leistung von ausschlaggebender Bedeutung, ob es sich bei der Einmalkatheterisierung um eine Maßnahme der Grundpflege oder der Behandlungspflege handelt. Letzteres hat die verordnende Hausärztin F. angenommen, da sie die Einmalkatheterisierung als Maßnahme zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung angesehen hat (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Die Antragsgegnerin sieht die Einmalkatheterisierung als Grundpflege an und beruft sich dabei auf Urteile des Bundessozialgerichts vom 22. August 2001 (B 3 P 23/00 R) und vom 30. Oktober 2001 (B 2 KR 2/01 R). Dort hat das Bundessozialgericht im Rechtsstreit gegen die Pflegeversicherung entschieden, dass eine Berücksichtigung krankheitsspezifischer Hilfeleistungen als Hilfen bei Verrichtungen der Grundpflege nur in Betracht komme, wenn und soweit sie Bestandteil der Hilfe für die so genannten Katalogverrichtungen der Pflegeversicherung sind oder im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Das Bundessozialgericht hat dabei explizit ausgeführt, die Katheterisierung zähle zu den krankheitsspezifischen Hilfeleistungen, sie sei mit der Verrichtung Blasenentleerung untrennbar verbunden (BSG vom 22. August 2001). Allerdings hat das BSG die Katheterisierung nicht von vornherein der Grundpflege zugeordnet, sondern immer betont, es handele sich um Behandlungspflege, die nur deshalb als Leistung der häuslichen Krankenpflege (durch die Krankenkasse) ausgeschlossen sei, weil sie bereits bei den Leistungen der Pflegeversicherung berücksichtigt werde. Insoweit scheide ein dieselbe Maßnahme betreffender Anspruch auf häusliche Krankenpflege als Sachleistung der Krankenversicherung aus, weil es an der Notwendigkeit einer gesonderten Leistung der Krankenversicherung im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB V fehle (BSG vom 30. Oktober 2001). Der Anspruch auf Gewährung häuslicher Krankenpflege ist danach grundsätzlich nicht schon dann ausgeschlossen, wenn der Betroffene im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI pflegebedürftig ist und Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung erhält. Die Behandlungssicherungspflege wird durch die gleichzeitige Gewährung von Grundpflege als Leistung der sozialen Pflegeversicherung nicht ausgeschlossen. Das BSG lässt aber offen, ob der Leistungsausschluss der gesetzlichen Krankenversicherung bereits dann besteht, wenn die strittigen Maßnahmen bereits dem Grunde nach in der Pflegeversicherung berücksichtigt werden oder erst dann, wenn sich die zeitliche Berücksichtigung auch tatsächlich auf die Leistungen der Pflegeversicherung auswirkt. Wenn letzteres der Fall ist, was durchaus möglich erscheint, führt dies zu einem Anspruch des Antragstellers. Nach den vorliegenden Pflegegutachten ist zwar das Einmalkatheterisieren mit täglich 24 Minuten berücksichtigt. Wegen des erheblichen auch sonstigen Pflegeaufwandes würde sich allerdings an der Pflegestufe auch ohne Berücksichtigung dieser 24 Minuten pro Tag nichts ändern. Als Leistung der gesetzlichen Pflegeversicherung ist danach das Katheterisieren beim Antragsteller nicht berücksichtigt.
Somit sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zumindest offen.
Hinsichtlich des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit, hat der Antragsteller glaubhaft vorgetragen, nach Verwertung aller vorhandener Vermögenswerte nunmehr nicht mehr in der Lage zu sein, die Behandlungspflegeleistungen des mehrmals täglichen Katheterisierens selbst bezahlen zu können. Deshalb droht unmittelbar die Einstellung der bisher noch vom Deutschen Roten Kreuz kulanterweise mit stillschweigender Stundung erbrachten Leistungen. Unter Beachtung der o. g. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht dürfen im Übrigen hier an das Vorliegen des Anordnungsgrundes keine überzogenen Ansprüche gestellt werden, da es um Leistungen geht, die sich unmittelbar auf den Gesundheitszustand des Antragstellers auswirken und möglicherweise sogar Einfluss auf die Lebensdauer haben.
Die demnach hier unter besonderer Beachtung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt allgemein die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen (BVerfG vom 22. November 2002 m.w.N.).
Durch die hier getroffene Regelung wird die Antragsgegnerin mit ca. 800,00 EUR monatlich belastet. Dies ist ein Betrag, der im Gesamthaushalt der Antragsgegnerin nahezu verschwindet, hingegen den Haushalt des Antragsteller nahezu sprengt. Sollte sich nach Abschluss des Rechtsstreites in der Hauptsache herausstellen, dass die Rechtsauffassung der Antragsgegnerin richtig ist, hätte die Versichertengemeinschaft (deren Interessen die Antragsgegnerin einzig wahrzunehmen hat; eigene Interessen der Antragsgegnerin, die in die Güterabwägung einzubeziehen wären, gibt es nicht) nur dann einen - finanziellen - Schaden, wenn der Antragsteller überhaupt nie mehr in der Lage wäre, die verauslagten Beträge zurückzuzahlen. Das steht aber keinesfalls fest. Insbesondere könnte sich die derzeitige finanzielle Situation des Antragstellers dann grundlegend ändern, wenn der Arzthaftpflichtprozess für ihn positiv endet.
Diesem - ungewissen - finanziellen Risiko der Versichertengemeinschaft steht das erhebliche gesundheitliche Risiko des Antragsteller entgegen. Wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, müsste sich der Antragsteller einen Dauerkatheter legen lassen. Dies ist nach den vorliegenden fachärztlichen Darstellungen ein erhebliches gesundheitliches Risiko. Eingetretene gesundheitliche Schäden ließen sich dann bei Obsiegen in der Hauptsache nicht wieder rückgängig machen.
Bei Gegenüberstellung der wechselseitigen Risiken liegt auf der Hand, dass es der Versichertengemeinschaft wesentlich leichter fällt, mit dem dargestellten Risiko umzugehen als dem Antragsteller.
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin kann der Antragsteller nicht auf die Inanspruchnahme des Sozialhilfeträgers verwiesen werden. Wegen der Nachrangigkeit der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz) ist grundsätzlich gegenüber dem (vorrangigen) Leistungsträger zu prüfen, ob ggf. ein Anspruch besteht. Soweit - wie in diesem Fall für den Antragsteller - unmittelbar eine Gefahr für Gesundheit und Leben droht, müssen negative Kompetenzkonflikte zwischen Sozial- und Verwaltungsgerichten zu Lasten eines hilfesuchenden Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung vermieden werden (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 5. Dezember 2002, L 4 KR 172/02 ER m.w.N.).
Durch die getroffene Anordnung wird die Hauptsache nicht vorweg genommen. Die Anordnung gilt nur für die Zeit ab Zustellung der Entscheidung (Verpflichtung zur Sachleistung) bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsacheklage. Die finanziellen Folgen der Anordnung lassen sich auch erforderlichenfalls rückabwickeln. Das Gericht hielt es für ausreichend, die Anordnung auf die Zukunft zu beschränken. Die dringende Notwendigkeit, die Antraggegnerin auch zur Freistellung des Antragstellers von den bisher aufgelaufenen Forderungen des Deutschen Roten Kreuzes freizustellen, erscheint nicht gegeben. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller die erforderlichen Behandlungspflegeleistungen zumindest dann auf jeden Fall erhält, wenn die laufende Finanzierung gesichert ist. Wegen der bisher angefallen rückständigen Forderungen des Deutschen Roten Kreuzes sind konkret drohende Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.