Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 29.04.2024, Az.: 4 B 368/24

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
29.04.2024
Aktenzeichen
4 B 368/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 14882
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2024:0429.4B368.24.00

Tenor:

Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, den Beigeladenen zu 2. bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren gemäß dem Zuweisungsbescheid des Beigeladenen zu 1. nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut zu nehmen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Umsetzung einer Zuweisungsentscheidung nach § 42b Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) des Beigeladenen zu 1. durch den Antragsgegner.

Am 15. September 2023 nahm das Jugendamt der Freien Hansestadt Bremen den Beigeladenen zu 2., einen unbegleitet eingereisten minderjährigen Ausländer (geb. I. 2008), vorläufig in Obhut. Er wurde am 22. September 2023 zunächst landesintern nach A-Stadt umverteilt. Am 15. November 2023 erfolgte die Feststellung der Minderjährigkeit.

Das Land Bremen meldete den Beigeladenen zu 2. zur bundesweiten Verteilung an und mit E-Mail vom 21. November 2023 bestimmte das Bundesverwaltungsamt den Beigeladenen zu 1. als die zur Aufnahme verpflichtete zuständige Landesstelle für den Beigeladenen zu 2. Mit Bescheid vom 24. November 2023 wies der Beigeladene zu 1. den Beigeladenen zu 2. dem Antragsgegner zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zu.

Der Antragsgegner nahm nach Erhalt der Zuweisungsentscheidung per E-Mail vom 7. Dezember 2023 Kontakt zur Antragstellerin auf und bat zur weiteren Planung um Kontaktaufnahme. Am 22. Januar 2024 fand ein telefonischer Austausch wegen des möglichen Fristablaufs nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII sowie einer eventuellen freiwilligen Übernahme zwischen dem Antragsgegner und der Antragstellerin statt.

Mit E-Mail vom 23. Januar 2024 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner mit, dass ein Fristablauf aus ihrer Sicht nicht gegeben sei. Daher werde der Beigeladene zu 2. am 26. Januar 2024 in die Räumlichkeiten des Jugendamtes des Antragsgegners umverteilt. Am 26. Januar 2024 versuchte die Antragstellerin erfolglos den Beigeladenen zu 2. an das Jugendamt des Antragsgegners zu übergeben. Dieses verweigerte die Übernahme mit der Begründung, die Monatsfrist nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII sei bereits abgelaufen. Zudem seien keine freien Plätze vorhanden.

Am 23. Februar 2024 hat die Antragstellerin Klage erhoben (Az.: J.), mit der sie eine Verpflichtung des Antragsgegners, den Beigeladenen zu 2. gemäß dem Zuweisungsbescheid des Beigeladenen zu 1. zu übernehmen, sowie hilfsweise die Feststellung, dass sich jener Zuweisungsbescheid nicht erledigt hat, begehrt. Zugleich hat die Antragstellerin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt.

Zur Begründung trägt sie vor, dass die Auffassung des Antragsgegners, dass die tatsächliche Übergabe des Beigeladenen zu 2. innerhalb der Monatsfrist erfolgen müsse, unzutreffend sei. Die Zuweisungsentscheidung müsse binnen der Monatsfrist getroffen werden. Die Durchführung des Verteilungsverfahrens ende bereits mit dem Erlass der Verteilungsentscheidung. Die Durchführung des Verteilungsverfahrens sei hier binnen der Monatsfrist erfolgt. Mit der tatsächlichen Übernahme ende die vorläufige Inobhutnahme. Die Ablehnung der Übernahme des Beigeladenen zu 2. habe zur Folge, dass innerhalb des bundesweiten Verteilungsverfahrens örtlich und temporär Überbelegungen und damit die Gefahr einer nicht umfassenden Versorgung entstünden. Dies wiederum führe u.a. zu einer Verzögerung der Errichtung einer Vormundschaft/gesetzlichen Vertretung, des Schulbesuchs, der Förderung der persönlichen Entwicklung, der Integration und dem Zugang zu langfristiger medizinischer und psychologischer Behandlung. Dem Beigeladenen zu 2. sei auch schon mitgeteilt worden, dass er in die Obhut des Antragsgegners überführt werde. Eine anderslautende Mitteilung wäre nunmehr schwer vermittelbar. Zudem sei sie - die Antragstellerin - darauf angewiesen, dass der derzeit belegte Unterbringungsplatz kurzfristig wieder zur Verfügung stehe. Im Bundesland Bremen liege die Aufnahmequote derzeit bei über 200 %. Die hierdurch entstehenden zusätzlichen Kosten gelte es zu reduzieren. Zudem müsse die Qualität der Betreuung gesichert werden, was bei einer dauerhaften Überbelegung nicht möglich sei.

Es werde eine Regelungsanordnung begehrt, die die Umsetzung des Zuweisungsbescheids in Form der tatsächlichen Leistung (Übernahme des Betroffenen durch den Antragsgegner) zum Gegenstand habe. Eine Vorwegnahme der Hauptsache sei hier hinzunehmen. Der Zuweisungsbescheid des Beigeladenen zu 1. stelle für sie keinen vollstreckbaren Titel dar. Eine zwangsweise Durchsetzung des Zuweisungsbescheids scheide somit aus. Da der Antragsgegner die Übernahme des Beigeladenen zu 2. mit E-Mail vom 23. Januar 2024 mit Verweis auf die abgelaufene Monatsfrist abgelehnt und die Übernahme am 26. Januar 2024 tatsächlich verweigert habe, bedürfe es zur Vollstreckung der Zuweisungsentscheidung einer gerichtlichen Entscheidung. Eine Verwehrung des Rechtsschutzes im vorliegenden Fall würde bedeuten, dass die bloße Nichtannahme eines zu verteilenden unbegleiteten minderjährigen Ausländers - unabhängig vom Grund und Zeitpunkt - das gesamte Verteilungsverfahrens ins Leere laufen ließe.

Allein ein bestimmter Zeitablauf rechtfertige auch nicht die Annahme einer Kindeswohlgefährdung. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die den Beginn des Verteilungsverfahrens erst ab der Altersfeststellung annehme und damit eine Verzögerung des Verteilungsverfahrens dulde. Nach der Punktuation zur Sicherstellung des Kinderschutzes bei der Unterbringung, Betreuung und Versorgung unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher in Krisenzeiten der obersten Landesbehörden vom 19. Januar 2024 (nachfolgend: Punktuation) "soll" die Zuweisungsentscheidung innerhalb von drei bis fünf Werktagen umgesetzt werden. Dass nach dem Ablauf dieser Frist die Übernahme des Kindes verweigert werden dürfe, finde im Gesetz keinerlei Stütze. Vielmehr könne bei der Überschreitung der Frist lediglich in jedem Einzelfall individuell von dem für die vorläufige Inobhutnahme zuständigen Jugendamt nach § 42a Abs. 3 i.V.m. § 88a Abs. 2 Satz 3 SGB VIII geprüft werden, ob aus Gründen des Kindeswohls die örtliche Zuständigkeit von dem zuständigen Träger übernommen werde. Vorliegend seien keine Maßnahmen ergriffen worden, die zu einer Verwurzelung führen würden. Die Umstände seien dem Beigeladenen zu 2. zu Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erläutert worden. Ihm sei bekannt, dass er grundsätzlich keinen Anspruch auf den Verbleib an einem bestimmten Ort habe. Im Rahmen eines Gesprächs des Jugendamtes mit dem Beigeladenen zu 2. am 17. April 2024 habe dieser geäußert, dass ein längerer Verbleib in A-Stadt nicht gewünscht werde und er umgehend nach Stade verteilt werden möchte. Er könne nicht verstehen, warum er nicht nach Stade komme und eine reguläre Schule besuche sowie Freundschaften schließen könne. Er wolle zur Ruhe kommen und in seinem Leben weiterkommen. In Deutschland bzw. Europa habe er keine Familie. Letztlich stehe einer einstweiligen Anordnung auch nicht der Einwand entgegen, dass der Beigeladene zu 2. nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens möglicherweise wieder zurück verteilt werden müsse, da durch die Übernahme des Antragsgegners die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a Abs. 6 SGB VIII ende und sich die Hauptsache damit erledige.

Der Antragsteller beantragt,

dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, den Beigeladenen zu 2., geb. 1. April 2008, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren, gemäß Zuweisungsbescheid des Beigeladenen zu 1. vom 24. November 2023, 2JH 1.1 - LVST, zu übernehmen;

hilfsweise, die aufschiebende Wirkung der Klage (Hilfsantrag zu 4 A 277/24) wiederherzustellen sowie den Beigeladenen zu 1. einstweilen zu verpflichten, den Antragsgegner anzuweisen, den Beigeladenen zu 2. gemäß Zuweisungsbescheid des Beigeladenen zu 1. vom 24. November 2023, 2JH 1. 1 - LVST, zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er trägt zur Begründung vor, dass der Antrag wegen des widersprüchlichen Verhaltens der Antragstellerin bereits unzulässig sei. Zum einen werde die Ablehnung der Aufnahme als Nachteil für den Minderjährigen dargestellt und zum anderen sei die Antragstellerin nach der Zuweisungsentscheidung acht Wochen untätig geblieben, obwohl - nach beiderseitiger Rechtsauffassung vor Ablauf der Monatsfrist - seitens des Antragsgegners bei der Antragstellerin nachgefragt worden sei. Der Antrag sei jedenfalls unbegründet. Die Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII sei abgelaufen und der Zuweisungsbescheid habe sich i.S.d. § 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) durch Zeitablauf erledigt. Soweit das Oberverwaltungsgericht Sachsen (Urt. v. 19.12.2019 - 3 A 719/19 -, juris) u.a. wegen des hohen Interesses der erstaufnehmenden Körperschaft an einer zügigen Umsetzung der Zuweisungsentscheidung anderes angenommen habe, widerspreche dies dem hier zögerlichen Handeln der Antragstellerin. Zudem widerspreche der Wortlaut des § 42b Abs. 4 Satz 4 SGB VII ("Durchführung des Verteilungsverfahrens") sowie die Zielsetzung der Norm (zeitnahe Übergabe an das aufzunehmende Jugendamt) dieser Rechtsauffassung. Die Antragstellerin habe außerdem die Tatsache der Überbelegung nicht glaubhaft gemacht. Letztlich diene es nicht dem Wohl des Minderjährigen, ihn im Wege der einstweiligen Anordnung an einen Ort zu verteilen, den er nach Abschluss des Hauptsachverfahrens eventuell wieder verlassen müsse.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 18. März 2024 die Behörde, die den Zuweisungsbescheid erlassen hat (Beigeladener zu 1.) und mit Beschluss vom 8. April 2024 den unbegleiteten ausländischen Jugendlichen (Beigeladener zu 2.) beigeladen.

Der Beigeladene zu 1. teilt die Rechtsauffassung des Antragsgegners und führt ergänzend aus, dass das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen (Urt. v. 19.12.2019 - 3 A 719/19 -, juris) keine normative Bindungswirkung über den Einzelfall hinaus entfalte. Bis zum 24. Januar 2024 sei das Verwaltungshandeln und die Verwaltungspraxis im Hinblick auf die Übergabe eines unbegleiteten ausländischen Minderjährigen innerhalb der Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII an der herrschenden Meinung in der Literatur sowie der Gesetzesbegründung und nicht an den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Sachsen ausgerichtet worden. Hiernach habe die Übergabe innerhalb der Monatsfrist zu erfolgen. Erst mit der Übergab sei das Verteilungsverfahren abgeschlossen und nicht bereits mit dem Erlass des Zuweisungsbescheids. Nach dem Sinn und Zweck des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII sei grundsätzlich anzunehmen, dass die Verteilung binnen eines Monat beendet sei, damit der junge Mensch möglichst schnell Kenntnis über seinen künftigen Aufenthaltsort erlange. Sowohl der Wortlaut des § 42d Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ("Durchführung des Verteilungsverfahrens (...) innerhalb dieser Frist erfolgen kann.") als auch des § 42a Abs. 5 Satz 1 SGB VIII sprächen dafür, dass die Übergabe an das für die Inobhutnahme zuständige Jugendamt noch zum Verteilungsverfahren gehöre. Dies entspreche auch der Intention des Gesetzgebers, wonach dem Kindeswohl eine besondere Bedeutung zukomme. Zwischenzeitlich sei die Punktuation erarbeitet und abgestimmt worden. Mit E-Mail vom 24. Januar 2024 habe das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung eine Anweisung zur Umsetzung und Beachtung der Punktuation erteilt. Mit E-Mail vom 30. Januar 2024 sei die Punktuation an die niedersächsischen Kommunen - u.a. den Antragsgegner - zur Kenntnisnahme und weiteren Verwendung übersandt und hierin ausdrücklich auf die Ausführungen zur Monatsfrist hingewiesen worden. Die Punktuation lege nunmehr fest, dass es für die fristgerechte Durchführung des Verteilungsverfahrens auf den Erlass des Zuweisungsbescheids und nicht auf den Zeitpunkt der Übernahme ankomme. Allerdings sei ebenfalls festgeschrieben worden, dass die Übernahme durch das Aufnahmejugendamt innerhalb von drei bis fünf Werktagen umzusetzen sei. Anknüpfungspunkt für die drei bis fünf Werktage könne nur der Erlass des Zuweisungsbescheids sein. Im Falle des erfolglosen Verstreichens dieser Frist sei die Durchführung des Verteilungsverfahrens aufgrund eines Verteilungshindernisses im Sinne des § 42b Abs. 4 SGB VIII ausgeschlossen. Diese Auslegung der Punktuation sei im Sinne des Kindeswohles geboten. Eine zeitlich unbegrenzte Möglichkeit zur Übergabe durch das vorläufig in Obhut nehmende Jugendamt an das Zuweisungsjugendamt würde die Übergabe bzw. Übernahme zulasten des unbegleiteten ausländischen Minderjährigen ins Unendliche ausdehnen. Mangels Übergabe durch die Antragstellerin an den Antragsgegner innerhalb der Monatsfrist habe sich der Zuweisungsbescheid erledigt. Einer Aufhebungsentscheidung bedürfe es nicht. Die eingetretene Erledigung habe die Wirksamkeit des Zuweisungsbescheids beendet (§ 39 Abs. 2 SGB X). Für eine etwaige Anweisung des Antragsgegners zur Übernahme des minderjährigen Ausländers fehle es an einer Weisungsbefugnis. Der Antragsgegner handele im eigenen Wirkungskreis nach §§ 1 Abs. 1, 2 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum SGB VIII, § 5 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes.

Der Beigeladene zu 2. ist im Rahmen eines Gesprächs mit dem Jugendamt der Antragstellerin am 17. April 2024 zu seiner Situation befragt worden. Zu dem Inhalt des Gesprächs hat die Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 19. April 2024 Ausführungen gemacht, auf die Bezug genommen wird.

Die Beigeladenen haben keine eigenen Anträge gestellt.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat Erfolg.

Der (Haupt-)Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zunächst zulässig. Es fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Die Antragstellerin kann ihr Rechtsschutzziel nicht auf andere, einfachere und schnellere bzw. wirksamere Weise erreichen (vgl. zum Maßstab: Schoch, in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 44. EL März 2023, § 123 VwGO Rn. 121), indem sie den bestandskräftigen Zuweisungsbescheid vom 24. November 2023 vollzieht. Der Bescheid, den der Beigeladene zu 1. entsprechend der Verfahrensvorgaben des § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erlassen hat, legt fest, dass der Beigeladene zu 2. dem Antragsgegner zur (endgültigen) Inobhutnahme zugewiesen wird. Für den etwaigen Vollzug einer hieraus resultierenden Handlungspflicht des Antragsgegners (Übernahme) wäre grundsätzlich die Erlassbehörde, also der Beigeladene zu 2. zuständig (vgl. § 70 Abs. 2, 1 des Niedersächsischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes) und nicht die Antragstellerin. Letztlich hat die Antragstellerin den Beigeladenen zu 2. bereits zum Zwecke der Übergabe an den Antragsgegner am 26. Januar 2024 nach Stade bringen lassen. Das Jugendamt des Antragsgegners hat die Übernahme aber verweigert, so dass auch hierin, also im tatsächlichen Angebot der Übergabe, kein anderer, einfacherer und schnellerer bzw. wirksamerer Weg zu sehen ist.

Der Antrag ist auch begründet.

Gemäß § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der antragstellenden Person vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) hat die antragstellende Person sowohl die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.

Die Antragstellerin hat sowohl das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs als auch eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht.

Der Antragsgegner ist aufgrund der bestandskräftigen Zuweisungsentscheidung des Beigeladenen zu 1. vom 24. November 2023 zur Übernahme - als Teil der tatsächlichen Umsetzung der Zuweisungsentscheidung - des Beigeladenen zu 2. verpflichtet. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners und des Beigeladenen zu 1. liegt kein Ausschlussgrund nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII vor.

Nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII ist die Durchführung eines Verteilungsverfahrens bei einem unbegleiteten ausländischen Kind oder Jugendlichen ausgeschlossen, wenn die Durchführung des Verteilungsverfahrens nicht innerhalb von einem Monat nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt.

Die Frist beginnt (erst) mit der Feststellung der Minderjährigkeit (§ 42f SGB VIII; hier am 15. November 2023) und nicht bereits mit der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BVerwG, Urt. v. 26. April 2018 - 5 C 11.17 -, juris).

Das Verteilungsverfahren ist zur Überzeugung der Kammer bereits mit dem Erlass der Zuweisungsentscheidung - am 24. November 2023 - "durchgeführt" und nicht erst mit der tatsächlichen Übergabe des unbegleiteten minderjährigen Ausländers. Somit ist die Frist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII hier eingehalten worden. Die Kammer verweist zur Begründung auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts Regensburg (Beschl. v. 30.10.2023 - RN 4 S 23.1896 -, juris Rn 31 ff.; vgl. auch: OVG Sachsen, Urt. v. 19.12.2019 - 3 A 719/18 -, juris Rn. 16 ff.; VG Schwerin, Beschl. v. 27.03.2024 - 6 B 289/24 SN -, juris Rn. 27 ff.; Winkler, in: BeckOK, Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, 72. Edition, Stand: 01.03.2024, § 42b SGB VIII Rn. 10) und macht sich diese zu eigen (a. A.: Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 42b Rn 42, 44; Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42b Rn 9; Steinbüchel, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 6. Aufl. 2022, § 42b Rn. 9):

"a) Vom Wortlaut ausgehend ist das Gericht der Ansicht, dass der Begriff "Verteilungsverfahren" nach allgemein üblichem Sprachgebrauch nahelegt, dass damit ein Verwaltungsverfahren und nicht auch der sich an dieses Verwaltungsverfahren anschließende Vollzug der in diesem Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidung gemeint ist. Als Verwaltungsverfahren wird in § 8 SGB X "die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist" legal definiert. Dem entspricht es, dass für die Beendigung eines solchen Verfahrens an den Erlass, die Bekanntgabe oder den Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts aber jedenfalls nicht an die Vollziehung angeknüpft wird (vgl. zu § 9 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 9 Rn. 34 ff.).

b) Für ein solches Verständnis spricht auch die Gesetzessystematik. § 42b Abs. 4 SGB VIII ist nämlich im Kontext des voranstehenden § 42b Abs. 3 SGB VIII zu lesen. Dort wird im Einzelnen beschrieben, nach welchen Regeln die "Zuweisung" erfolgt und dass für die "Verteilung" das Landesjugendamts bzw. die nach Landesrecht bestimmte Stelle zuständig ist. Da im Gegensatz hierzu die körperliche Übergabe des Flüchtlings aber gerade nicht in den Händen dieser Stelle, sondern in denen des abgebenden Jugendamts liegt, wird deutlich, dass auch § 42b Abs. 3 SGB VIII mit "Verteilung" die Zuweisungsentscheidung meint. § 42b Abs. 4 SGB VIII knüpft ersichtlich hieran an.

Gegen diese Auslegung spricht auch nicht § 42a Abs. 5 SGB VIII. Diese Norm regelt, dass bei einer Unterbringung eines Minderjährigen im Rahmen des Verteilungsverfahrens die vorläufige Inobhutnahme die Pflicht zur Begleitung und Übergabe umfasst, sie bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Übergabe auch Teil dieses Verteilungsverfahrens ist. Vielmehr deutet die unterschiedliche Terminologie in § 42a Abs. 4 SGB VIII, der von "Verteilung" spricht und in § 42a Abs. 5 SGB VIII, der den Begriff "Übergabe" verwendet, darauf hin, dass diese Begriffe im Gesetz gerade nicht deckungsgleich verwendet werden.

Damit greift auch der Einwand nicht durch, dass aus der Übergangsregelung in § 42d Abs. 3 SGB VIII ein anderes Ergebnis folgen würde, weil auch hier an den Begriff des Verteilungsverfahrens und nicht an den der Übergabe angeknüpft wird.

c) Gegen dieses Ergebnis spricht - entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers - auch nicht die Entstehungsgeschichte der Norm. In der Gesetzesbegründung ist hierzu ausgeführt:

"Zur Ausrichtung der Verwaltungsabläufe am kindlichen Zeitempfinden und an der spezifischen Belastungssituation von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen wird durch die Regelung von Fristen für die Abwicklung der einzelnen Verfahrensschritte durch die beteiligten Behörden auf einen Abschluss des Verteilungsverfahrens innerhalb von insgesamt 14 Werktagen hingewirkt. Nach Ablauf von einem Monat nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme darf keine Verteilung mehr erfolgen."

Damit ist aber gerade noch nicht gesagt, was mit Verteilungsverfahren bzw. Verteilung gemeint ist. Vielmehr spricht nach Überzeugung der Kammer eine am Wortlaut orientierte Auslegung der Gesetzesbegründung aus den oben genannten Gründen ebenfalls dafür, dass mit "Verteilung" auch hier die "Zuweisungsentscheidung" und nicht die "Übergabe" gemeint ist.

d) Entscheidend gestützt wird dieses Ergebnis durch eine teleologische Auslegung. Zwar ist es zweifelsfrei Ziel der gesetzlichen Regelung, zum Schutz der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Verfahrensbeschleunigung zu erreichen. Dem wird allerdings bereits dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass die Zuweisungsentscheidung innerhalb der Monatsfrist erfolgen muss. Die dieser Zuweisungsentscheidung nachfolgende Übergabe des Flüchtlings, also der Vollzug der Verteilung, wird sich nämlich in aller Regel ohne große zeitliche Verzögerung anschließen. Denn auf Seiten des in Obhut nehmenden Jugendamts werden regelmäßig Kosteninteresse und Kapazitätsgründe dafür sprechen, diesen Vollzug möglichst rasch herbeizuführen, zumal bereits vorher die kurzfristig zu treffende positive Entscheidung für die Teilnahme am länderübergreifenden Verteilungsverfahren ausdrücklich erfolgt sein muss, während umgekehrt für den Flüchtling ohne Belang sein dürfte, ob er innerhalb der Monatsfrist oder wenige Tage später an das neue Jugendamt übergeben wird (so bereits Sächs. OVG, U. v. 19.12.2019, a.a.O., Rn. 21).

Eine Schutzlücke für die betroffenen Jugendlichen entsteht durch eine solche Auslegung schon deshalb nicht, weil neben dem Ausschlussgrund des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII die Gefährdung des Wohls des unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen in § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII als eigenständiger Ausschlussgrund normiert ist, wodurch atypische Fälle einer ausnahmsweise überlangen Verzögerung der der Zuweisungsentscheidung nachfolgenden Übergabe des Flüchtlings berücksichtigt werden können, wofür hier allerdings nichts ersichtlich ist.

Bestätigt wird das Ergebnis auch dadurch, dass das Bundesverwaltungsgericht beim Fristbeginn zu Recht auf die Altersfeststellung und nicht auf die Inobhutnahme abgestellt hat und dabei ausdrücklich als "unvermeidbare Folge" in Kauf genommen hat, dass mit dieser Rechtsprechung der Zweck einer Verteilung des betreffenden Personenkreises im Bundesgebiet innerhalb recht kurzer Zeiträume möglicherweise nicht vollständig erreicht werden könne, wenn gegebenenfalls zunächst die verwaltungsgerichtlich inzident überprüfbare Altersbestimmung abgewartet werden müsse. Vor diesem Hintergrund scheint die durch ein Abstellen auf die Zuweisungsentscheidung beim Fristende folgende Verzögerung von nur wenigen Tagen erst Recht hinzunehmen.

Entscheidend hinzu kommt schließlich, dass schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ein Abstellen auf die tatsächliche Übergabe kaum in Betracht kommt. Insoweit hat der Antragsgegner zu Recht darauf hingewiesen, dass aufnehmende Jugendämter die Übergabe hinauszögern könnten, während abgebende Jugendämter zur Selbsthilfe greifen und Jugendliche ohne erforderliche Absprache einfach beim aufnehmenden Jugendamt vorbeibringen könnten, um einen Fristablauf zu verhindern. Dass ein solch ungeordnetes Verfahren jedenfalls weniger im Interesse der schutzbedürftigen Kinder und Jugendlichen läge als eine (geringfügige) zeitliche Verzögerung liegt nach Auffassung der Kammer auf der Hand.

Letztlich wird eine Auslegung, die "Verteilung" als "Übergabe" und nicht als "Zuweisungsentscheidung" versteht, auch dadurch ad absurdum geführt, dass die aufnehmenden Jugendämter die Frist bereits durch Einlegung eines Rechtsbehelfs im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aushebeln könnten."

Etwas anders folgt auch nicht aus der Punktuation. Soweit hierin geregelt ist, dass eine fristgerechte Durchführung des Verteilungsverfahrens binnen der Monatsfrist (§ 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII) vorliegt, wenn die Zuweisungsentscheidung nach § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII durch die zuständige Landesverteilstelle innerhalb der Monatsfrist getroffen wurde und es auf den Zeitpunkt der Übernahme durch das Aufnahmejugendamt nicht ankommt, deckt sich dies mit der Rechtsauffassung der Kammer. Darüber hinaus regelt die Punktuation, dass die Übernahme durch das Aufnahmejugendamt mit Blick auf das Kindeswohl innerhalb von drei bis fünf Werktagen umgesetzt werden soll. Entgegen der Auffassung des Beigeladenen zu 1. folgt aus dem Ablauf dieser Frist kein Verteilungshindernis. Zum einen "soll" die Umsetzung lediglich binnen drei bis fünf Werktagen erfolgen und zum anderen dient die Punktation der einheitlichen Anwendung bundesrechtlicher Normen, die die Unterbringung, Betreuung und Versorgung unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher in Krisenzeiten betreffen und entfaltet allenfalls durch eine einheitliche Verwaltungspraxis (Art. 3 Grundgesetz) Bindungswirkung. Letztere ist hier (noch) nicht ersichtlich.

Soweit der Beigeladene zu 1. zutreffend ausführt, dass die Übernahme bzw. Übergabe zum Schutz des Kindeswohls nicht bis ins Unendliche hinausgezögert werden dürfe, sind die betroffenen Minderjährigen nicht schutzlos gestellt

Anders als das VG Regensburg (Beschl. v. 30.10.2023 - RN 4 S 23.1896 -, juris Rn. 39) es angenommen hat, dürfte § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII in einer solchen Situation wie der hier gegebenen jedenfalls keine direkte Anwendung (mehr) finden. Hiernach ist die Durchführung eines Verteilungsverfahrens ausgeschlossen, wenn dadurch das Wohl des unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen gefährdet würde. Nach dem oben dargelegten Gesetzesverständnis endet die Durchführung des Verteilungsverfahrens mit der Zuweisungsentscheidung, die hier bereits erlassen worden ist.

In dem Zeitraum zwischen dem Erlass der Zuweisungsentscheidung und der tatsächlichen Übergabe des Minderjährigen könnte Kindeswohlbelangen entweder durch eine entsprechende Anwendung des § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII oder durch die Anwendung des § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (vgl. hierzu: VG Schwerin, Beschl. v. 27. März 2024 - 6 B 289/24 -, juris Rn. 34) Rechnung getragen werden. Nach § 42a Abs. 3 SGB VIII ist das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen notwendig sind. Dabei ist das Kind oder der Jugendliche zu beteiligen und der mutmaßliche Wille der Personen- oder der Erziehungsberechtigten angemessen zu berücksichtigen. Auf dieser Grundlage könnte das abgebende Jugendamt bei einer Gefährdung des Wohles des Kindes oder Jugendlichen beispielsweise die Anmeldung zur Verteilung zurücknehmen.

Hierauf kommt es vorliegend aber nicht an. Entgegenstehende Kindeswohlbelange - insbesondere eine Verwurzelung des Beigeladenen zu 2. in K. - sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Vielmehr hat der Beigeladene zu 2. offenbar ausdrücklich den Wunsch geäußert, dass er nach Stade möchte. Auch wenn dieser Wunsch nach dem Eindruck des Gerichts maßgeblich auf die von der Antragstellerin (mit) zu verantwortende überlange Zeit der vorläufigen Inobhutnahme und die daraus folgenden negativen Konsequenzen (er besucht nach wie vor keine Regelschule und konnte keine Freundschaften schließen u.a.), zurückzuführen sein dürfte, ist zu erwarten, dass die tatsächliche Umsetzung der Zuweisungsentscheidung die Situation des Beigeladenen zu 2. maßgeblich verbessern wird, so dass jedenfalls "dadurch" nicht sein Wohl gefährdet wird.

Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Die Dringlichkeit der Entscheidung folgt hier aus der dargelegten aktuellen Situation des Beigeladenen zu 2. Der Zugang des Beigeladenen zu 2. zu regulärer Bildung, umfassender medizinischer Versorgung, Förderung etc. ist im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (offenbar) nicht bzw. nur eingeschränkt möglich. Dieser Zustand dauert nunmehr schon mehr als ein halbes Jahr an und ein Fortdauern ist nicht weiter hinnehmbar. Dies rechtfertigt zugleich die Vorwegnahme der Hauptsache.

Da der Hauptantrag erfolgreich ist, war über den Hilfsantrag nicht mehr zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO.