Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 10.11.2011, Az.: 32 Ss 130/11
Entschuldigung des Ausbleibens des Angeklagten in der Hauptverhandlung auch bei mehrmonatigem Auslandsaufenthalt bei Fehlen der finanziellen Mittel für den Rückflug über große Distanz (Brasilien)
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 10.11.2011
- Aktenzeichen
- 32 Ss 130/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 35347
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2011:1110.32SS130.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Hannover - 02.12.2010
- LG Hannover - 06.07.2011
Rechtsgrundlagen
- § 329 Abs. 1 S. 1 StPO
- § 412 S. 1 StPO
Fundstelle
- NJW-Spezial 2012, 25 "kein Geld für Rückreise"
Amtlicher Leitsatz
Das Ausbleiben in der Hauptverhandlung ist auch bei einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt genügend entschuldigt, wenn dem Angeklagten die finanziellen Mittel fehlen, um einen Rückflug über große Distanz (Brasilien) bezahlen zu können.
In der Strafsache
gegen pp.
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht,
die Richterin am Oberlandesgericht und
den Richter am Oberlandesgericht
am 10. November 2011 einstimmig
beschlossen:
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten werden das Urteil der 5. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 6. Juli 2011 und das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 2. Dezember 2010 - Abt. 210 - mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über den Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 20. September 2010, auch über die Kosten der Berufung und der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Hannover zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Hannover erließ am 20. September 2010 gegen den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung einen Strafbefehl, mit dem eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10,- EUR festgesetzt wurde. Dem Angeklagten wird danach zur Last gelegt, am 17. Juli 2010 im alkoholisierten Zustand (2,89 g Promille) bei einer Auseinandersetzung auf einem Spielplatz eine halbvolle Bierflasche in Richtung der Zeugin X2. geworfen und dabei in Kauf genommen zu haben, sie zu treffen.
Den gegen den Strafbefehl eingelegten Einspruch verwarf das Amtsgericht durch Urteil vom 2. Dezember 2011 nach § 412 StPO, weil der Angeklagte unentschuldigt nicht zum Termin erschienen sei.
Die gegen das Urteil des Amtsgerichts eingelegte Berufung verwarf das Landgericht durch das angefochtene Urteil vom 6. Juli 2011 als unbegründet.
Nach den Feststellungen des Landgerichts befand sich der Angeklagte von August 2010 bis Februar 2011 dauerhaft in Brasilien. Er hatte vom Strafbefehl und nach seinem Einspruch von der Terminsladung Kenntnis erlangt und per Fax vom 7. November 2010 um Verlegung des Termins gebeten. Nachdem das Amtsgericht sich bei dem Angeklagten nach seinem derzeitigen Aufenthalt erkundigt hatte, teilte der Angeklagte durch Fax vom 26. November 2011 mit, dass er sich in Brasilien aufhalte und bat um Verschiebung des Termins auf den Zeitraum Juni bis August 2011.
Das Landgericht hat das Ausbleiben vom amtsgerichtlichen Termin am 2. Dezember 2010 als unentschuldigt gewertet, weil dem Angeklagten ein Erscheinen möglich und zumutbar gewesen sei. Ein langer Auslandsaufenthalt müsste gegebenenfalls unterbrochen werden.
Gegen das Urteil des Landgerichts wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er weiterhin geltend macht, sein Fernbleiben vom Termin vor dem Amtsgericht sei entschuldigt gewesen.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt,
die Revision als unzulässig,
hilfsweise
als unbegründet zu verwerfen.
II.
Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils des Landgerichts und des Verwerfungsurteils des Amtsgerichts.
1. Die Revision ist zulässig.
Zwar ist die Verletzung der Voraussetzungen der §§ 412, 329 Abs. 1 StPO auch dann in der Form einer Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) auszuführen, wenn sich das angefochtene Urteil in der Sache nur mit Rechtsnormen über das Verfahren befasst (vgl. nur Senat, Beschl. v. 13.09.2011, 32 Ss 119/11; OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.10.2009, 1 Ss 126/08 - [...]; OLG München, NStZ-RR 2006, 20).
Die Verfahrensrüge ist hier aber noch formgerecht erhoben. An die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge gegen ein Verwerfungsurteil sind grundsätzlich keine strengen Anforderungen zu stellen. Wird in der Revisionsbegründung unter Angabe bestimmter Tatsachen ausgeführt, das Gericht habe das Fernbleiben nicht als unentschuldigt ansehen dürfen, bezieht bereits dieser Vortrag den Inhalt des angefochtenen Urteils unmittelbar in die Argumentation mit ein (OLG München, a.a.O.; OLG Brandenburg NStZ 1996, 249/250 [OLG Brandenburg 10.01.1996 - 2 Ss 4/96]; OLG Düsseldorf VRS 78, 129; OLG Köln VRS 75, 113/115). Danach genügt das Vorbringen des Angeklagten, er sei wegen seines Aufenthalts in Brasilien, seines Vertrauens auf eine Terminverlegung und wegen der fehlenden finanziellen Mittel für einen vorzeitigen Rückflug nach X1. ausreichend entschuldigt gewesen, um die Feststellungen im Urteil des Landgerichts, die sich ausführlich zum Verfahrensablauf verhalten, zum Gegenstand der Verfahrensrüge zu machen.
2. Die Revision ist begründet.
Das Landgericht hat einen zu strengen Maßstab an die Voraussetzungen der genügenden Entschuldigung i.S.d. §§ 412 S. 1, 329 Abs. 1 S. 1 StPO gelegt.
Nach den Feststellungen des Landgerichts, die für den Senat bindend sind (vgl. Meyer-Goßner, 54. Aufl., StPO, § 329 Rn. 48), befand sich der Angeklagte bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls und auch noch zum Zeitpunkt des anberaumten Termins in Brasilien. Für die Frage der Zumutbarkeit des Erscheinens in der Hauptverhandlung am 2. Dezember 2010 kam es damit nicht primär darauf an, ob ihm eine Verlegung der Reise nach Brasilien trotz finanzieller Verluste möglich gewesen wäre (hierzu z.B. OLG Karlsruhe, VRS 89, 130; OLG Düsseldorf, NJW 1973, 109). Entscheidend war vielmehr, ob der Angeklagte überhaupt die Möglichkeit zur Rückkehr gehabt hätte. Insoweit kann einem Angeklagten zwar bei mehrmonatiger Dauer eines Auslandsaufenthalts gegebenenfalls - unter Abwägung der Bedeutung des Verfahrens - zugemutet werden, für den Hauptverhandlungstermin zurückzukehren (BayObLG, NJW 1994, 1748). Dies setzt jedoch die Feststellung voraus, dass die konkrete Möglichkeit der Rückkehr besteht. Daran fehlt es hier. Der Angeklagte verfügt nach der Bemessung der Tagessatzhöhe von 10,- EUR im Strafbefehl über nur bescheidene finanzielle Mittel, die die zusätzliche Buchung eines Fluges über eine derart große Distanz ohne erhebliche anderweitige Einschränkungen kaum erlaubten. Andere Reisemittel dürften hier außer Betracht bleiben.
Angesichts des überschaubaren, vermutlich in einem Hauptverhandlungstag aufklärbaren Tatgeschehens, dessen Ahndung im Strafbefehlswege der Staatsanwaltschaft und dem Amtsgericht ausreichend erschien, war es unverhältnismäßig, von dem Angeklagten ein Erscheinen zur Hauptverhandlung zu verlangen, zumal es sich um den ersten vom Amtsgericht anberaumten Termin handelte, ohne dass bereits ein früherer Termin wegen Abwesenheit des Angeklagten hätte verlegt werden müssen und der Angeklagte seine Rückkehr im Sommer angekündigt hatte.
Hinzu kommt dass bei dem Angeklagten ein gewisses Vertrauen in die Aufhebung des Termins geweckt wurde. Denn die Anfrage des Amtsgerichts vom 15. November 2010, wo sich der Angeklagte zur Zeit aufhalte, konnte vom Empfängerhorizont des Angeklagten nur dann Bedeutung haben, wenn das Amtsgericht von der Antwort des Angeklagten die Durchführung des Termins abhängig machen würde. Insoweit durfte der Angeklagte zumindest erwarten, dass das Amtsgericht ihm eine Rückmeldung zukommen lassen würde, wenn es die Mitteilung vom Aufenthalt in Brasilien als nicht glaubhaft oder als nicht ausreichende Entschuldigung ansehen würde.
3. Auf die Revision war neben dem Urteil des Landgerichts auch das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 2. Dezember 2010 aufzuheben.
Zwar kommt eine Zurückverweisung an das Landgericht in Betracht, wenn weitere Feststellungen zur Frage der "nicht genügenden Entschuldigung" i.S.d. §§ 412, 329 Abs. 1 StPO möglich sind (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 412 Rn. 11). Dies kann der Senat nach den vorstehenden Ausführungen jedoch ausschließen.