Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 19.07.2005, Az.: 1 Ws 361/05
Notwendigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren; Bedeutung der Länge des noch zu verbüßenden Strafrestes für eine Pflichtverteidigerbestellung im Strafvollstreckungsverfahren; Folgen einer bedingten Entlassung während des Verfahrens über die Beschwerde gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung für das Vollstreckungsverfahren; Bedeutung der "Schwere der Tat" für eine Entscheidung über eine bedingte vorzeitige Strafentlassung; Pflicht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers bei Entscheidungen über die Dauer der weiteren Strafverbüßung bei lebenslanger Freiheitsstrafe
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 19.07.2005
- Aktenzeichen
- 1 Ws 361/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 25516
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2005:0719.1WS361.05.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 140 Abs. 2 StGB
- § 463 Abs. 3 S. 5 StPO
Fundstelle
- BewHi 2006, 88-90
Amtlicher Leitsatz
Zu der Bedeutung der Länge des noch zu verbüßenden Strafrestes für eine Pflichtverteidigerbestellung im Strafvollstreckungsverfahren.
Redaktioneller Leitsatz
Die Dauer einer restlichen Strafverbüßung von über einem Jahr rechtfertigt nicht bereits als solche eine Pflichtverteidigerbestellung. Für eine Pflichtverteidigerbestellung im Strafvollstreckungsverfahren ist entscheidend, ob diese erforderlich ist, um ein faires Verfahren sicherzustellen. Es ist zu prüfen, inwieweit ein Verurteilter in der Lage ist, seine Rechte im Strafvollstreckungsverfahren selbst ausreichend zu wahren.
In dem Strafvollstreckungsverfahren hat
der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
durch
die unterzeichnenden Richter
am 19. Juli 2005
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Oldenburg - Strafvollstreckungskammer bei dem Amtsgericht Vechta - vom 4. Juli 2005 durch den ihr Antrag auf Beiordnung ihres Verteidigers als Pflichtverteidiger abgelehnt worden ist, wird für erledigt erklärt.
Gründe
Die Verurteilte war wegen eines Betäubungsmitteldeliktes zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 5 Monaten verurteilt worden. Aus dem Strafvollzug heraus hatte sie persönlich ihre bedingte Haftentlassung nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe beantragt. Die Justizvollzugsanstalt befürwortete dies, ebenso die Staatsanwaltschaft. Das Landgericht holte ein Sachverständigengutachten nach § 454 Abs. 2 StPO ein, in dem der Verurteilten eine günstige Sozialprognose attestiert wurde. Der Verteidiger nahm hierzu zustimmend Stellung und beantragte zugleich seine Bestellung als Pflichtverteidiger wegen der Schwere der Tat und der Unfähigkeit der Verurteilten, ihre Befugnisse ausreichend selbst wahrzunehmen.
Das Landgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 4. Juli 2005 abgelehnt, weil die Sach und Rechtslage nicht schwierig und sich die Verurteilte nach ihren persönlichen Fähigkeiten selbst verteidigen könne. Die Verurteilte ist am 5. Juli 2005 unter Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung aus der Strafhaft entlassen worden.
Gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung wendet sich der Verteidiger mit der im Namen der Verurteilten eingelegten Beschwerde.
Das Rechtsmittel war ohne Kostenentscheidung für erledigt zu erklären, weil die Verurteilte während des Verfahrens über die Beschwerde gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung für das Vollstreckungsverfahren zur Strafrestaussetzung bedingt entlassen worden ist und das Vollstreckungsverfahren dadurch seinen Abschluss gefunden hat, vgl. OLG Schleswig, SchlHA 2002, 171.
Die Beschwerde war aber auch sachlich nicht begründet. Es lag keine notwendige Verteidigung entsprechend § 140 Abs. 2 StPO vor.
Entgegen der Ansicht des Verteidigers gebot nicht schon die Dauer der restlichen Strafverbüßung von über einem Jahr als solche eine Pflichtverteidigerbestellung. Im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren ist in der Regel eine Pflichtverteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der Tat erforderlich, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr in Betracht kommt, vgl. MeyerGoßner, StPO, 48. Aufl., § 140 Rdn. 23 m.w.Nachw.. Dies kann aber nicht dergestalt auf das Strafvollstreckungsverfahren übertragen werden, dass bei einer restlichen Verbüßungszeit von über einem Jahr regelmäßig ein Pflichtverteidiger zu bestellen wäre. Die Lage eines - vor der Verurteilung vermutet unschuldigen - Angeklagten ist insoweit nicht mit der eines rechtskräftig zu Freiheitsstrafe Verurteilten zu vergleichen. Im Strafvollstreckungsverfahren ist die Bestellung eines Verteidigers auch nur für den Sonderfall des § 463 Abs. 3 Satz 5 StPO gesetzlich ausdrücklich angeordnet. Im Übrigen ist § 140 Abs. 2 StPO entsprechend anzuwenden. Dies ist verfassungsrechtlich geboten, um in Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ein faires Verfahren sicherzustellen, vgl. BVerfGE 70, 297.
Bei der entsprechenden Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO vor einer im Vollstreckungsverfahren anstehenden Entscheidung über eine bedingte vorzeitige Strafentlassung ist die "Schwere der Tat" im Sinne dieser Vorschrift als solche nicht von Belang, weil es nach rechtskräftiger Verurteilung nicht mehr um eine solche vorausschauende Einstufung der Tat zur Abschätzung der Verteidigungsnotwendigkeit geht. Für ein Abstellen auf eine bestimmte Straferwartung als regelmäßiger Indikator der Tatschwere ist damit gleichfalls kein Raum mehr, vgl. OLG Schleswig, SchlHA 2002, 150. Auch verringert sich im Vollzugsverlauf die restliche Vollstreckungszeit kontinuierlich. Dass dabei ein "Schwellenwert" von einem Jahr entscheidend für die Notwendigkeit einer Verteidigung sein soll, ist nicht einsehbar und sachgerecht, vgl. OLG Hamm, NStZRR 1999, 319.
Für eine Pflichtverteidigerbestellung im Strafvollstreckungsverfahren ist es vielmehr entscheidend, ob diese erforderlich ist, um ein faires Verfahren sicherzustellen, vgl. KG StraFo 2002, 244; MeyerGoßner, a.a.O., § 140 Rdn. 33, 33a m.w.Nachw.. Es kommt deshalb darauf an, inwieweit ein Verurteilter in der Lage ist, seine Rechte im Strafvollstreckungsverfahren selbst ausreichend zu wahren. Dabei ist auf seine Person, auf die Schwierigkeit der Sach und Rechtslage und auf alle sonst bedeutsamen Umstände des Falles abzustellen. Zu letzteren gehört bei Entscheidungen über eine bedingte Strafentlassung auch die Dauer des noch zu verbüßenden Strafrestes, die das Gewicht des Strafvollstreckungsfalles bestimmt. Denn dies ist nicht ohne Einfluss auf die Bedeutung der Entscheidung für den Verurteilten und die Verantwortbarkeit einer eigenen Verteidigung ohne rechtskundigen Beistand.
Dabei ist aber nicht schematisch oder regelmäßig auf eine bestimmte Reststrafendauer abzustellen. Diese ist vielmehr bei der Prüfung, ob ein faires Verfahren die Hinzuziehung eines Verteidigers gebietet, mit allen anderen Umständen des Falles und der Person des Verurteilten zusammenfassend zu würdigen. Mit steigender Dauer der Reststrafe wird diese dabei allerdings mehr und mehr Gewicht erhalten. So ist nach Auffassung des OLG Karlsruhe (Strafverteidiger 1994, 552) ein Pflichtverteidiger zwingend beizuordnen, wenn eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren zu vollstrecken ist. Vor Entscheidungen über die Dauer der weiteren Strafverbüßung bei lebenslanger Freiheitsstrafe schließlich ist grundsätzlich ein Verteidiger zu bestellen, vgl. BVerfGE 70, 297; Thüringer Oberlandesgericht NStZRR 2003, 284.
Etwas anderes ergibt sich entgegen der Ansicht des Verteidigers nicht aus der Entscheidung OLG Hamm, StV 2002, 320. Auch in dem dort entschiedenen Fall war ein Verteidiger nicht wegen einer ein Jahr übersteigenden Reststrafe bestellt worden, sondern wegen der Unfähigkeit des Verurteilten, sich selbst zu verteidigen.
Im vorliegenden Verfahren stand nach den überzeugenden Ausführungen des Landgerichts, auf die Bezug genommen wird, die hinreichende Verteidigungsfähigkeit der Verurteilten außer Zweifel. Hinzu kommt, dass die vorzeitige Entlassung der Verurteilten bereits allseits befürwortet worden und vom Gericht - wie der erteilte Gutachtenauftrag zeigt - auch erwogen worden war, also nicht erst mit Verteidigerhilfe erstritten werden musste.