Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 30.07.1997, Az.: 2 Ws 157/97

Übermittlung von behördlichen Sozialdaten im Strafverfahren; Durchsuchung der Räumlichkeiten des Sozialamtes bei Ermittlungen zur Finanzlage eines Angeklagten; Verstoß gegen das Sozialgeheimnis durch eine Durchsuchungsanordnung und Beschlagnahmeanordnung hinsichtlich einer Durchsuchung beim Sozialamt; Verstoß gegen das Verbot der Willkür im gerichtlichen Beschluss über die Durchsuchung und Beschlagnahme von Beweismitteln in Gebäuden des Sozialamtes; Pflicht einer Behörde zur Erteilung der gerichtlich geforderten Auskunft

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
30.07.1997
Aktenzeichen
2 Ws 157/97
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1997, 24716
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1997:0730.2WS157.97.0A

Fundstellen

  • NJW 1997, 2964-2965 (Volltext mit amtl. LS)
  • NVwZ 1998, 105 (amtl. Leitsatz)
  • StV 1997, 625-626

Verfahrensgegenstand

Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz

In der Strafsache
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Beschwerde der Stadt ... vertreten
durch
den Stadtdirektor,
gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluß der 2. großen Strafkammer des Landgerichts ... vom 3. Juni 1997
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... sowie
die. Richter am Oberlandesgericht ... und ...
am 30. Juli 1997
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Es wird festgestellt, daß der angefochtene Beschluß rechtswidrig ist.

  2. 2.

    Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin trägt die Landeskasse.

Gründe

1

I.

Die Staatsanwaltschaft hatte die frühere Angeklagte vor der 2. großen Strafkammer des Landgerichts ... angeklagt, im Februar und März 1997 in 5 Fällen als Mitglied einer Bande mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gewerbsmäßig Handel getrieben zu haben; Verbrechen gemäß §§ 30 a Abs. 1, 30 Abs. 1 Nr. 2, 29 a Abs. 1 Nr. 1 und 2, 33 BtMG, 25, 52, 53 StGB.

2

Im Rahmen der Ermittlungen ergaben sich Hinweise, die frühere Angeklagte und der gesondert verfolgte ... hätten ein Haus gebaut oder seien damit befaßt. Offenbar zur Prüfung der Voraussetzungen des erweiterten Verfalls gemäß §§ 33 Abs. 1 BtMG,73 d StGB sollten deshalb Ermittlungen zur Finanzlage dieser beiden Personen, insbesondere beim Sozialamt ihres Wohnortes in ... angestellt werden. Da das Sozialamt der insoweit ermittelnden Polizeiinspektion ... Auskunft erteilte, ob und ggf. in welcher Höhe die frühere Angeklagte Leistungen nach dem BSHG erhalten hatte oder noch erhielt, erging der angefochtene Beschluß. Darin wurde "gemäß §§ 202, 94, 103 StPO die Durchsuchung der Räumlichkeiten des Sozialamtes der Stadt ... und die Beschlagnahme sämtlicher auf den Namen ... geboren am ... in ... lautende Unterlagen über Sozialhilfeleistungen ab 01. Januar 1995 angeordnet". Die Beschlagnahme sollte durch die Herausgabe entsprechender Fotokopien abgewendet werden können. Zur Begründung der getroffenen Anordnung heißt es u.a.: "Das Sozialamt hat ausweislich des Berichts der Polizeiinspektion ... vom 21. Mai 1997 eine Auskunftserteilung - ohne entsprechenden Beschluß - gegenüber der Polizei abgelehnt."

3

Gegen diesen Beschluß richtet sich die Beschwerde der Stadt ... vertreten durch den Stadtdirektor. Sie beruft sich darauf, die Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung verstoße gegen das Sozialgeheimnis aus § 35 SGB I. Nur im Rahmen einer richterlichen Anordnung nach § 73 Abs. 3 SGB X sei die Übermittlung von Sozialdaten zulässig.

4

Da am 30. Juni 1997 Polizeibeamte im Sozialamt erschienen waren und aus dem angefochtenen Beschluß vollstrecken wollten, erteilte das Sozialamt die geforderte Auskunft. Eine Aufstellung über die vom Januar 1995 bis Januar 1996 geleisteten Zahlungen an die frühere Angeklagte befindet sich in den Akten.

5

Die Strafkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen und dies u.a.; damit begründet, das Verfahren bedürfe schon deshalb besonderer Beschleunigung, weil sich die Angeklagte in Untersuchungshaft befinde.

6

Inzwischen ist sie durch Urteil der Strafkammer vom 9. Juli 1997 rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden.

7

II.

Das Rechtsmittel der Stadt ... hat Erfolg. Der angefochtene Beschluß ist rechtswidrig.

8

1.

Die Beschwerde der Stadt ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft.

9

Ob sie auch darüber hinaus zulässig und einer Sachentscheidung durch den Senat zugänglich ist, bedarf deshalb besonderer Prüfung, weil sie prozessual überholt ist. Ein nachwirkendes Bedürfnis für eine gerichtliche Prüfung besteht jedoch entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft.

10

Neben dem hier nicht in Betracht kommenden tiefgreifenden Grundrechtseingriff aus u.a. Art. 13 Abs. 2 GG bejaht die Rechtsprechung ein Rechtsschutzinteresse bei Wiederholungsgefahr, bei Fortwirkung des Eingriffs sowie bei Maßnahmen, die auf Willkür beruhen ( BVerfG, Beschluß vom 30. April 1997 - 2 BvR 217/90 u.a.; BGHSt 33, 196, 207 f. [BGH 25.04.1985 - 4 ARs 1/85]; 36, 30 [BGH 01.12.1988 - I BGs 1113/88]; BGHR, StPO § 98 Abs. 2, Feststellungsinteresse 3; KK-Ruß, StPO, 3. Aufl., § 296 Rnr. 7). Jedenfalls letztere beide Voraussetzungen sind gegeben.

11

a)

Der angefochtene Beschluß wirkt weiter fort, denn die unter dem Druck der angedrohten polizeilichen Durchsuchung vom Sozialamt erteilte Auskunft über Sozialleistungen an die frühere Angeklagte befindet sich weiter in den Akten. Dies verstößt gegen das Sozialgeheimnis aus § 35 SGB I.

12

b)

Die Prüfung des angefochtenen Beschlusses ergibt weiterhin, daß er - objektiv - willkürlich ergangen ist. Willkür liegt vor, wenn die Entscheidung unter, keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Dies ist im vorliegenden Fall zu bejahen.

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Die Begründung des angefochtenen Beschlusses belegt eindeutig, daß das Landgericht lediglich Auskunft vom Sozialamt erlangen wollte, es ihm nicht aber wirklich um Beweismittel wie Urkunden oder ähnliches ging. Dafür standen dem Landgericht die Vorschriften des 8. Abschnitts der StPO (§§ 94-111 p) nicht zur Verfügung. Erachtet das Gericht über das Ermittlungsergebnis hinausgehende behördliche Auskünfte für erforderlich, so steht ihm nur der Weg gemäß §§ 202, 161 StPO offen, soweit dieser nicht seinerseits Einschränkungen unterliegt (siehe unter 2). Die Behörden sind in solchen Fällen grundsätzlich verpflichtet, die geforderten Auskünfte zu erteilen. Daß sie dabei an Recht und Ordnung gebunden sind und nicht willkürlich Auskünfte verweigern dürfen, ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG. Das Landgericht hat danach sein Auskunftsbegehren auf einem prozessual nicht offenstehenden, auch nicht ernstlich in Betracht kommenden Weg durchsetzen wollen, um die Erteilung der Auskunft, die Schwierigkeiten zu bereiten schien, zu beschleunigen.

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2.

Der angefochtene Beschluß hätte sich auch nicht mit Erfolg auf § 161 StPO stützen lassen. Die Strafkammer hat übersehen, daß die Übermittlung von Sozialdaten im Strafverfahren in § 73 SGB X abschließend geregelt ist. Weder im Ermittlungs- noch im Hauptverfahren darf die Behörde Einzelangaben über persönliche Verhältnisse einer bestimmten natürlichen Person erteilen, wenn dies nicht auf der Anordnung eines Richters beruht; § 73 Abs. 3 SGB X. Die Vorschrift ist lex specialis zu der strafprozessualen Auskunftsvorschrift, im übrigen auch zu den dortigen Durchsuchungs- und Beschlagnahmevorschriften. Diese finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung (KK-Wache, a.a.O. § 161 Rnr. 9; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 161 Rnr. 6; Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/v. Wulffen, SGB X, 3. Aufl. 1996 § 73 Rnr. 14; Erbs/Kohlhaas/Wache Strafrechtliche Nebengesetze SGB X § 73 Rnr. 6; vgl. auch Pickel, SGB X § 73 Rnr. 2).

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Die Strafkammer kann sich demgegenüber nicht mit Erfolg auf das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen berufen. Eine den Erfordernissen von § 73 SGB X entsprechende, das Verhältnismäßigkeitsgebot beachtende richterliche Anordnung verpflichtet die ersuchte Sozialbehörde ohne weiteres, die Auskunft vollständig - § 73 Abs. 1 - oder eingeschränkt - § 73 Abs. 2 SGB X - zu erteilen. Zur Vollstreckung der Anordnung kann sich das Gericht moderner Übermittlungsmethoden wie Telefax ebenso bedienen wie der Staatsanwaltschaft oder ihrer Ermittlungsgehilfen; § 36 Abs. 2 StPO.

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3.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.