Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 12.06.1997, Az.: 22 Ss 110/97
Nötigung im Straßenverkehr; Umfang der Kognitionspflicht des Gerichts; Der prozessuale Tatbegriff
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 12.06.1997
- Aktenzeichen
- 22 Ss 110/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 24157
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1997:0612.22SS110.97.0A
Rechtsgrundlage
- § 264 StPO
Fundstellen
- DAR 1998, 241-242 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1998, 468 (amtl. Leitsatz)
- NStZ-RR 1997, 367 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Nötigung
In der Strafsache
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts ... vom
25. Februar 1997
in der Sitzung vom 12. Juni 1997,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht ... als Vorsitzender,
Richter am Oberlandesgericht ... Richter am Oberlandesgericht ... als beisitzende
Richter,
Oberstaatsanwalt ... als Beamter der Generalstaatsanwaltschaft,
Rechtsanwalt ... als Verteidiger,
Justizamtsinspektorin ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an einen anderen Strafrichter des Amtsgerichts ... zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf freigesprochen, den Zeugen ... im Straßenverkehr genötigt zu habe. Die Staatsanwaltschaft hatte den Angeklagten angeklagt, am 29.07.1996 gegen 9.00 Uhr auf dem linken. Fahrstreifen der Bundesautobahn A 27 in der Gemarkung ... in Richtung ... mit ca. 160 km/h den vor ihm fahrenden Zeugen durch dichtes stoßweises Auffahren sowie mehrfache Betätigung der Lichthupe genötigt zu haben, den Überholstreifen zu verlassen und sich in eine Lücke auf dem rechten Fahrstreifen zu zwängen. Das Amtsgericht hatte diese Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen.
In der Hauptverhandlung hat die Zeugin ..., die zur Tatzeit im Pkw ihres Mannes, des Zeugen ..., fuhr, ausgesagt, die von ihr angezeigte Tat habe sich am 07.07.1996, einem Sonntag, gegen 12.45 Uhr ereignet. Das Amtsgericht hat den Angeklagten als Folge dieser Aussage von dem Vorwurf der angeklagten Tat freigesprochen, da sich der Vorfall nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme an einem anderen Tag zu einer anderen Uhrzeit als in der Anklage zugrunde gelegt, abgespielt habe.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Revision. Das Rechtsmittel hat mit der zulässig ausgeführten Verfahrensrüge Erfolg, so daß es auf die gleichzeitig erhobene Sachrüge, die allerdings auch durchdringen würde, nicht mehr ankommt.
Das Amtsgericht hat entgegen seiner aus § 264 StPO folgenden Verpflichtung die angeklagte Tat nicht in vollem Umfang abgeurteilt. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts handelt es sich bei der angeklagten und bei der Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, um denselben geschichtlichen Vorgang, der demnach der Kognitionspflicht des Gerichts unterlag. Die prozessuale Tat wird als einheitlich zu bewertender geschichtlicher Vorgang verstanden, der durch einzelne Merkmale hinreichend individualisiert erscheint und sich dadurch von gleichartigen Vorgängen unterscheidet (zur allgemeinen Bestimmung BGHSt. 32, 215, 216) [BGH 21.12.1983 - 2 StR 578/83].
Die bei der angeklagten und der nach dem Ergebnis der Verhandlung ermittelten Tat übereinstimmenden Merkmale erscheinen im vorliegenden Fall geeignet, die Identität zwischen beiden Vorgängen zu begründen. Unverändert sind der Tatort an der beschriebenen Stelle auf der Bundesautobahn, der Tathergang - das wiederholte dichte Auffahren bei einer Geschwindigkeit von 160 km/h und die wiederholte Betätigung der Lichthupe - die Wirkung -, daß der Zeuge veranlaßt wurde, den eigenen Überholvorgang abzubrechen und sich mit seinem Pkw in eine Lücke auf dem rechten Fahrbahnstreifen zu zwängen - sowie die namentlich genannten Tatopfer - die Zeugen ... -.
Unterschiedlich sind der Tattag und die Uhrzeit. Unabhängig von der plausiblen Erklärung in der Rechtsmittelschrift der Staatsanwaltschaft, der Dezernent habe aus Versehen Tag und Uhrzeit der polizeilichen Anzeigenaufnahme als Tag und Uhrzeit der Tat genommen, charakterisieren beide Merkmale den Vorgang nicht derart, daß sie trotz der unveränderten anderen Merkmale ausschlaggebend über die Identifizierung entschieden. Zwar wird eine konkrete Tat wesentlich durch ihren Zeitpunkt bestimmt, doch kann ihre Identität im Ergebnis auch durch andere Merkmale gewährleistet sein (RGRspr. 3, 493, 494; BGHSt. 22, 90, 92 [BGH 21.02.1968 - 2 StR 719/67]; 32, 215, 218 f. [BGH 21.12.1983 - 2 StR 578/83]; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 79, 80 [OLG Hamm 02.10.1996 - 4 Ss 159/96]; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 264 Rz. 26).
Insbesondere die Individualisierung der beiden vom Angeklagten nach dem erhobenen Vorwurf genötigten Verkehrsteilnehmer prägt wesentlich die Identifizierung des historischen Vorgangs. Wenn auch Nötigungen im Straßenverkehr keine Einzelvorkommnisse bilden, ist doch ausgeschlossen, daß der Angeklagte dieselben Verkehrsteilnehmer bei anderer Gelegenheit wiederum durch seine Fahrweise zu einem bestimmten Verhalten im Straßenverkehr genötigt haben sollte. So hat die Rechtsprechung auch in vergleichbaren Fällen bei offensichtlichen Versehen hinsichtlich der Tatzeit die Identität des historischen Vorgangs im Ergebnis nicht in Frage gestellt (OLG Köln VRS 62, 57; OLG Hamm GA 1972, 60; OLG Karlsruhe MDR 1982, 248 [OLG Karlsruhe 01.10.1981 - 1 Ss 209/81]).
Da es sich demnach bei der angeklagten und der in der Verhandlung ermittelten Tat um denselben historischen Vorgang gehandelt hat, hätte das Amtsgericht nach entsprechendem Hinweis an den Angeklagten gemäß § 265 StPO den Vorgang weiter aufklären und aburteilen müssen, und mußte im Revisionsverfahren die den Angeklagten freisprechende Entscheidung aufgehoben werden.