Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 19.08.2002, Az.: 1 Ws 203/02
Zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Verurteilter; Dauer des Verbleibens in Organisationshaft; Beschleunigungsgebot; Frist für die Organisationshaft; Maßregelvollzug; Zulässigkeit trotz prozessualer Überholung; Grundrechtseingriff
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 19.08.2002
- Aktenzeichen
- 1 Ws 203/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 16307
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2002:0819.1WS203.02.0A
Rechtsgrundlagen
- § 458 Abs. 1 StPO
- § 63 StGB
- § 67 Abs. 1 StGB
Fundstellen
- NStZ-RR 2002, 349-351 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 2003, 32-33
Amtlicher Leitsatz
Der rechtskräftig zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Verurteilte darf nur so lange in sogenannter Organisationshaft in einer Justizvollzugsanstalt verbleiben, wie die Vollstreckungsbehörde unter Berücksichtigung des in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebotes benötigt, um einen Platz in einer Maßregelvollzugsanstalt zu finden und den Verurteilten dorthin zu überstellen.
Nach Ablauf dieser Frist ist die Organisationshaft unzulässig, und der
Verurteilte ist aus ihr zu entlassen.
Tenor:
Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer 2 des Landgerichts ####### vom 7. Juni 2002 wird aufgehoben.
Der Vollzug der Organisationshaft vom 1. September 2001 bis zum 12. März 2002 in der Justizvollzugsanstalt ####### war unzulässig.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Das Landgericht ####### hat den Verurteilten durch Urteil vom 13. Juni 2001 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub und mit schwerer räuberischer Erpressung in fünf Fällen, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub und mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung, wegen erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit schwerem Raub und mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung, wegen versuchter Vergewaltigung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von dreizehn Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das Urteil ist seit dem 21. Juni 2001 rechtskräftig.
Der Verurteilte ist indes nicht umgehend nach Eintritt der Rechtskraft, sondern erst am 12. März 2002 zum Vollzug der Unterbringung in das Landeskrankenhaus Klinikum ####### in ####### aufgenommen worden. Bis dahin hat er sich acht Monate und drei Wochen in sogenannter Organisationshaft in der Justizvollzugsanstalt ####### befunden.
Der Aufnahme in den Maßregelvollzug ist folgender Verfahrensablauf vorausgegangen:
Am 8. Juli 2001 richtete die Staatsanwaltschaft ####### ein Aufnahmeersuchen an das Landeskrankenhaus Klinikum ####### in #######, das aufgrund des letzten Wohnsitzes des Verurteilten in ####### nach §§ 53, 24 StVollstrO für den Vollzug der Unterbringung örtlich zuständig war. Das Landeskrankenhaus teilte am 11. Juli 2001 mit, der Maßregelvollzug dort verzeichne derzeit eine Belegungsquote von 140 %, die Kapazitäten seien völlig ausgeschöpft. Es sei zu hoffen, das die Klinikleitung dem Maßregelvollzug "in wenigen Wochen" weitere Betten zur Verfügung stelle, so dass die Einrichtung wieder aufnahmefähig sei.
Erst zwei Monate später, nämlich am 10. September 2001, berichtete die Staatsanwaltschaft ####### auf eine entsprechende Anfrage der Justizvollzugsanstalt ####### dem Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales und bat um Mitteilung, wie weiter verfahren werden solle. Dieses teilte am 12. September 2001 mit, dass aufgrund der Überbelastung der niedersächsischen Maßregelvollzugsanstalten auch in Niedersachsen kein Behandlungsplatz zur Verfügung stehe, verwies auf die Zuständigkeit ####### und regte - auch im Hinblick auf die Kostentragung - die "Abgabe der Vollstreckung" nach § 9 StrVollstr an die Staatsanwaltschaft ####### an. Das entsprechende Übernahmeersuchen fertigte die Staatsanwaltschaft ####### am 20. September 2001. Unter dem 22. Oktober 2001 bat die Staatsanwaltschaft ####### um Übersendung der Akten, die am 4. November 2001 veranlasst wurde. Am 12. November 2001 erklärte sich die Staatsanwaltschaft ####### zur Übernahme der Vollstreckungshilfe bereit und richtete ein entsprechendes Aufnahmeersuchen an das Klinikum #######.
Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 14. Januar 2002 hat der Verurteilte, der zwischenzeitlich erklärt hatte, er wolle - wenn möglich - in Niedersachsen untergebracht werden, Einwendungen gegen die Zulässigkeit der weiteren Vollstreckung erhoben und beantragt, die gegenwärtige Form der Freiheitsentziehung für unzulässig zu erklären.
Nachdem der Verurteilte am 12. März 2002 schließlich in die Maßregelvollzugsanstalt in ####### aufgenommen worden war, hat er sein Anliegen für erledigt erklärt und beantragt, die Unzulässigkeit der bis zur Überstellung vollzogenen Organisationshaft festzustellen.
Die Strafvollstreckungskammer hat den Feststellungsantrag mit Beschluss vom 7. Juni 2002 zurückgewiesen, weil angesichts der langen Haftstrafe noch ein ausreichender Therapiezeitraum zur Verfügung stünde.
Dagegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde, die er auch gegen die Kostenentscheidung verstanden wissen will.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet.
1.
Mit seinem Rechtsmittel wendet sich der Verurteilte nicht gegen eine Einzelmaßnahme auf dem Gebiet des Justizvollzuges, sondern gegen die angewandete Vollzugsart im allgemeinen, so dass die sofortige Beschwerde nach §§ 463 Abs. 1, 462 Abs. 1 und 3, 458 Abs. 1 StPO statthaft ist (vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1981, 366).
Trotz prozessualer Überholung durch die zwischenzeitlich erfolgte Aufnahme des Verurteilten in den Maßregelvollzug ist die Beschwerde zulässig.
Nach der neueren Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Rechtsschutzinteresse bei tiefgreifenden Grundrechtsverletzungen nicht nur in den Fällen einer gegenwärtigen Beschwer, einer Wiederholungsgefahr oder einer fortwirkenden Beeinträchtigung, sondern auch dann zu bejahen, wenn sich der direkte Grundrechtseingriff nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung im Beschwerdeverfahren kaum erlangen kann, z. B. bei Durchsuchungen (BVerfG NJW 1999, 273 [BVerfG 15.07.1998 - 2 BvR 446/98]).
Derartige Voraussetzungen liegen hier vor.
Der Verbleib des rechtskräftig zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verurteilten Beschwerdeführers in einer Justizvollzugsanstalt stellt sich als Grundrechtseingriff dar.
Wird gegen einen Verurteilten neben einer Freiheitsstrafe die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, ist diese grundsätzlich vor der Strafe zu vollstrecken (§ 67 Abs. 1 StGB), wenn der Richter - wie hier - keine andere Regelungen zur Reihenfolge der Vollstreckung (§ 67 Abs. 2 StGB) trifft. Freiheitsbeschränkungen sind nach Art. 104 Abs. 1 GG nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen möglich. Der Verstoß gegen die gesetzlich vorgegebene Vollstreckungsreihenfolge bei Unterbringung und Strafe ist mithin grundrechtsrelevant.
Dass in diesem Fall nach dem typischen Verfahrensablauf eine gerichtliche Entscheidung vor der Verlegung des Verurteilten in den Maßregelvollzug hätte ergehen können, steht der Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde nicht entgegen. Es kann nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen, dass das Gericht auf seinen Antrag nicht innerhalb der zwei Monate bis zu seiner Aufnahme in den Maßregelvollzug, sondern erst fast fünf Monate später über die Zulässigkeit der Vollzugsart entschieden hat. Auch in diesen Fällen hat der Betroffene ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Grundrechtseingriffs (vgl. OLG Brandenburg NStZ 2000, 504 [OLG Brandenburg 02.03.2000 - 2 Ws 24/00]).
2.
Der Verbleib des Verurteilten in der Justizvollzugsanstalt ####### war seit dem 1. September 2001 unzulässig.
Es ist gesetzlich nicht vorgesehen, dass ein Verurteilter, für den nicht sofort ein Unterbringungsplatz im Maßregelvollzug zur Verfügung steht, die Zwischenzeit in sog. Organisationshaft verbringt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Organisationshaft in seiner Entscheidung vom 18. Juni 1997 (NStZ 1998, 77 [BVerfG 18.06.1997 - 2 BvR 2422/96]) im Zusammenhang mit der Frage ihrer Anrechenbarkeit auf die Strafe als "Regelwidrigkeit" bezeichnet, die sich nicht zu Lasten des Betroffenen auswirken dürfe. Damit hat das Verfassungsgericht die Organisationshaft zwar als "regelwidrig", aber eben doch als existent anerkannt und damit die gängige Praxis der Rechtssprechung, den Vollstreckungsbehörden eine "Organisationsfrist" für die Beschaffung eines Unterbringungsplatzes von bis zu drei Monaten einzuräumen, jedenfalls indirekt bestätigt (OLG Hamm MDR 1980, 952 [OLG Hamm 24.04.1980 - 4 Ws 172/80]; vgl. OLG Celle NJW 1997, 2964 [OLG Celle 30.07.1997 - 2 Ws 157/97] und StV 1997, 477; OLG Düsseldorf NStZ 1981, 366; OLG Hamm NStZ 1989, 549).
Daran hält auch der Senat fest. Wegen der grundgesetzlich abgesicherten Rechte des Betroffenen bei einer Freiheitsentziehung kann und muss indes die zulässige Dauer der Organisationshaft im Einzelfall bestimmt werden; eine allgemein verbindliche noch zulässige Zeitspanne für die Organisation eines Maßregelvollzugsplatzes - z. B. von drei Monaten - kann nicht festgelegt werden.
Der zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Verurteilte darf nur so lange in sogenannter Organisationshaft in einer Justizvollzugsanstalt verbleiben, wie die Vollstreckungsbehörde unter Berücksichtung des in Haftsachen zu berücksichtigenden Beschleunigungsgebotes benötigt, um einen vorhandenen Vollzugsplatz zu finden und den Verurteilten dorthin zu überführen. Dabei hat die Vollstreckungsbehörde auch zu prüfen, ob eine Unterbringung in Abweichung von der örtlichen Zuständigkeit (§§ 53, 26 StrVOllstrO) oder vom Vollstreckungsplan (§ 5 Nds. MVollzG) in einem anderen psychiatrischen Krankenhaus möglich ist. Steht für den Verurteilten kein Platz im Maßregelvollzug zur Verfügung, muss er freigelassen werden (so auch für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: OLG Brandenburg NStZ 2000, 500 [OLG Brandenburg 08.02.2000 - 2 Ws 337/99] und 504). Die Organisationshaft ist von dem Zeitpunkt an unzulässig, bis zu dem die Vollstreckungsbehörde bei dem gebotenen beschleunigten Vorgehen hätte klären können, ob für den Verurteilten ein Unterbringungsplatz zur Verfügung steht oder nicht.
Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich hier:
Das örtlich zuständige Landeskrankenhaus in ####### hat auf die direkte Anfrage der Staatsanwaltschaft ####### am 11. Juli 2001 mitgeteilt, dass für den Verurteilten kein Unterbringungsplatz zur Verfügung stand. Daraufhin hätte die Staatsanwaltschaft ohne weiteres Zuwarten klären müssen, ob der Verurteilte in Abweichung von der örtlichen Zuständigkeit in anderen Maßregelvollzugseinrichtungen hätte untergebracht werden können. Ein Zuwarten bis zur Verbesserung der Belegungssituation in ####### war nicht zulässig, zumal die Aufnahme zu einem späteren Zeitpunkt nicht verbindlich zugesagt, sondern lediglich als vage Hoffnung in Aussicht gestellt war.
Ob in niedersächsischen Maßregelvollzugsanstalten - oder auch in anderen Bundesländern - ein Platz für den Verurteilten zur Verfügung stand, hätte durch entsprechende Anfragen bei den obersten niedersächsischen Landesbehörden (MJ, MFAS) nach Einschätzung des Senats jedenfalls bis spätestens zum 1. September 2001 geklärt werden können. Ab diesem Zeitpunkt war mithin der weitere Vollzug der Organisationshaft unzulässig.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO entsprechend.
Der Senat versteht den - nicht weiter konkretisierten - Antrag der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung ihres weiteren Vorbringens dahingehend, dass die Organisationshaft nicht von vornherein, sondern erst ab Überschreitung der "zulässigen Organisationsfrist" als unzulässig erklärt werden sollte und mithin die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg hat.
Die gegen die Kostenentscheidung erhobene sofortige Beschwerde ist gegenstandslos, weil der angefochtene Beschluss keine Kostenentscheidung, sondern lediglich eine - hier überflüssige - dahingehende Rechtsmittelbelehrung enthält.