Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 07.10.2024, Az.: 3 A 4062/24

beschränkte Prozessfähigkeit; UMA; prozessrechtliche Vertretung; Verfahrenspfleger; Verteilungsentscheidung; Bestellung eines Verfahrenspflegers für einen UMA in verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen eine länderübergreifende Verteilungsentscheidung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
07.10.2024
Aktenzeichen
3 A 4062/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 23395
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:1007.3A4062.24.00

Amtlicher Leitsatz

Zumindest für einen UMA ohne hinreichende Unterstützung seitens erwachsener Personen ist in verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen Entscheidungen im Rahmen einer (vorläufigen) Inobhutnahme - hier: länderübergreifende Verteilungsentscheidung - gemäß § 173 VwGO i. V. m. einer entsprechenden Anwendung von § 57 ZPO ein hinreichend sachkundiger Verfahrenspfleger zu bestellen.

Tenor:

Für den Kläger und Antragsteller wird in beiden Verfahren jeweils Rechtsanwalt F., als Verfahrenspfleger bestellt.

Es wird die Berufsmäßigkeit der Führung der Verfahrenspflegschaften als berufsspezifische Tätigkeit des bestellten Verfahrenspflegers als Rechtsanwalt festgestellt.

Die Bestellungen enden, sobald für den Kläger und Antragsteller ein Vormund bestellt ist.

Gründe

1.

Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den als ausländischer Minderjähriger unbegleitet eingereisten (im Folgenden: UMA) Kläger und Antragsteller, für den ein Vormund noch nicht bestellt ist, beruht auf § 173 VwGO in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung des § 57 Abs. 1 ZPO.

a)

Zwar regelt § 57 ZPO unmittelbar nur die Bestellung eines Verfahrenspflegers für eine prozessunfähige Passivpartei. Es ist in der Rechtsprechung jedoch anerkannt, dass in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch für eine prozessunfähige Aktivpartei jedenfalls dann ein Verfahrenspfleger zu bestellen ist, wenn in dem Verfahren Rechtsschutz gegen einen belastenden Verwaltungsakt begehrt wird, weil der Kläger als Adressat des belastenden Verwaltungsaktes typischerweise in der Lage desjenigen ist, der nicht aus eigenem freien Entschluss eine Erweiterung seines Rechtskreises anstrebt, sondern sich gegen eine ihm aufgezwungene Beschränkung seiner Rechtsposition wehren will bzw. muss (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.12.1965, - VII C 90.61 -, BVerwGE 23, 15, 17; VGH BW, Urt. v. 20.09.1989, - 6 S 1545/89 -, VBl.BW 1990, 135).

Eine solche Konstellation ist vorliegend im Grundsatz gegeben. Der minderjährige Kläger und Antragsteller wendet sich gegen seine länderübergreifende Verteilung gemäß §§ 42a ff. SGB VIII aus dem Bereich der Beigeladenen zu 1. in den Bereich des Beigeladenen zu 2. In der Rechtsprechung des Gerichts ist geklärt, dass diesbezüglich die Zuweisungsentscheidung des Beklagten und Antragsgegners gemäß § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die im Außenverhältnis zum Kläger und Antragsteller Rechtswirksamkeit erlangende Entscheidung ist, gegen die verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz in Form einer Anfechtungsklage und ggf. eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gesucht werden kann (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 14.10.2019, - 3 B 4442/19 -, juris und Beschl. v. 08.07.2023, - 3 B 3714/23 -, juris, bestätigt vom Nds. OVG, Beschl. v. 26.09.2023, - 14 ME 84/23 -, bisher n. v.).

b)

Das Gericht hat eine solche Entscheidung in einer vergleichbaren Situation bereits getroffen (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 03.11.2023 - 3 B 5052/23 u.a., juris, dort fälschlich mit Beschlussdatum 04.12.2023). Zuvor war das erkennende Gericht zwar in seiner Entscheidung vom 08.07.2023 (3 B 3714/23, a.a.O.) davon ausgegangen, dass sich in einer Konstellation wie der vorliegenden für einen UMA eine Prozessfähigkeit aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. einer entsprechenden Anwendung von § 36 Abs. 1 SGB I ergeben kann.

Unabhängig von der Frage, ob an dieser Auffassung im Grundsatz festzuhalten wäre, ist sie jedoch zumindest weiter danach zu differenzieren, ob bei dem betroffenen UMA bereits eine hinreichende Einsichtsfähigkeit besteht, um ihm die grundsätzlich eigenständige Führung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zuzutrauen bzw. zuzumuten. Insoweit kann und muss ggf. auch in die Betrachtung einbezogen werden, ob der UMA jenseits einer formalisierten rechtlichen Vertretung in der Streitsache Unterstützung von Erwachsenen erhält, die ggf. für ihn sogar eine rechtsanwaltliche Vertretung organisieren, wie es in dem vom erkennenden Gericht am 08.07.2023 entschiedenen Verfahren der Fall war. Jedenfalls wenn einem UMA angesichts seines - behaupteten oder von den beteiligten Jugendhilfebehörden zu Grunde gelegten - Alters und mangels hinreichend sachkundiger Unterstützung von erwachsenen Personen die eigenständige Führung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht zuzutrauen bzw. zuzumuten ist, kommt eine Anwendung des § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO nicht in Betracht, sondern ist von einer Prozessunfähigkeit des UMA auszugehen. Zur Wahrung des Justizgewährungsanspruchs aus Art. 19 Abs. 4 GG bedarf es zumindest für einen solchen UMA der Bestellung eines Verfahrenspflegers. In dem gegen die Zuweisungsentscheidung nach § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII von dem UMA an das zur Entscheidung berufene Gericht gerichteten Rechtsschutzgesuch ist dabei in einem derartigen Fall zugleich ein Antrag auf Bestellung eines Verfahrenspflegers zu sehen.

c)

Ausgehend davon ist im vorliegenden Fall in Abgrenzung zu der Entscheidung des erkennenden Gerichts vom 08.07.2023 (s.o.) für den Kläger und Antragsteller ein Verfahrenspfleger zu bestellen, da er nicht als eigenständig prozessfähig anzusehen ist. Denn er ist nach dem Kenntnisstand des Gerichts erst 16 Jahre alt und kann auch nicht auf eine ausreichende Unterstützung seitens erwachsener Personen zurückgreifen, um die anhängigen Verfahren eigenständig zu führen. Insbesondere reicht dafür nicht aus, dass sich der nunmehr als Verfahrenspfleger bestellte Rechtsanwalt für ihn zuvor als Prozessbevollmächtigter legitimiert hat. Denn die entsprechende, mit Vollmachtsurkunde dargelegte Mandatierung des Rechtsanwalts seitens des Klägers und Antragstellers selbst ist rechtlich derzeit gemäß 3 108 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam, weil der Kläger und Antragsteller zivilrechtlich für eine derartige Mandatierung gemäß §§ 106 f. BGB nicht hinreichend geschäftsfähig ist. Es besteht für ihn zudem derzeit keine rechtliche Vertretung, die die Führung der Gerichtsverfahren für ihn mit umfasst. Die Bestellung eines Vormunds für ihn ist nicht im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme seitens der Beigeladenen zu 1. beantragt worden. Gleiches gilt im Ergebnis - nach Rücknahme eines entsprechenden Antrags beim Amtsgericht G. - für den Beigeladenen zu 2. Das Jugendamt der Beigeladenen zu 1. kann den Kläger und Antragsteller in den anhängigen Gerichtsverfahren auch nicht gemäß § 42a Abs. 3 Satz 1 oder § 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII (not-)vertreten. Denn die Beigeladene zu 1. ist als notwendig Beigeladene selbst eigenständige Beteiligte der Gerichtsverfahren, weshalb zumindest die Möglichkeit einer Interessenkollision besteht.

2.

In Fällen der vorliegenden Art bedarf es der Berufung einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwaltes als Verfahrenspflegerin bzw. -pflegers für den betroffenen UMA. Das gebietet der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit. Denn die Verfahren sind rechtlich und tatsächlich nicht einfach gelagert. Den beteiligten öffentlichen Rechtsträgern steht insoweit grundsätzlich spezifischer Sachverstand zur Verfügung, dem der betroffene UMA Gleichwertiges entgegensetzen können muss. Daraus folgt zugleich, dass die Berufsmäßigkeit der Führung der Verfahrenspflegschaft als berufsspezifische Tätigkeit als Rechtsanwältin oder als Rechtsanwalt festzustellen ist mit der Folge, dass die bestellte Verfahrenspflegerin bzw. der bestellte Verfahrenspfleger die Tätigkeit nach den für die Berufsausübung einschlägigen Regelungen von der Staatskasse vergütet erhält. Es ist nicht davon auszugehen, dass eine Rechtsanwältin oder ein Rechtsanwalt bereit wäre, diese Tätigkeit ohne Vergütung zu übernehmen. Das wäre ihr oder ihm auch nicht zuzumuten.

3.

Die Auswahl der zur Führung der Verfahrenspflegschaften zu bestellenden Person obliegt nach § 173 VwGO i. V. m. § 57 ZPO in entsprechender Anwendung dem Vorsitzenden des Prozessgerichts.

Der bestellte Rechtsanwalt H. hat sich auf telefonische Anfrage des Berichterstatters vom 24.09.2024 zur Übernahme der Verfahrenspflegschaften bereit erklärt. Er hat seinen Bürositz in der Nähe zum derzeitigen Aufenthaltsort des Klägers und Antragstellers im Bereich des Beigeladenen zu 2. und kann deshalb mit diesem mit angemessenem Zeitaufwand unmittelbar in persönlichen Kontakt treten. Er ist mit diesem und dem Sachverhalt über die bisherige - unwirksame - Mandatierung als Prozessbevollmächtigter der vorliegenden Verfahren auch schon vertraut.

Sobald für den Kläger und Antragsteller vom Familiengericht ein Vormund bestellt sein wird, wird das Bedürfnis für die Verfahrenspflegschaften entfallen, weshalb die Bestellungen dahingehend zeitlich zu begrenzen sind.