Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 15.10.2003, Az.: 1 B 982/03

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
15.10.2003
Aktenzeichen
1 B 982/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 40812
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2003:1015.1B982.03.0A

Amtlicher Leitsatz

Die Absicht der Gemeinde, ein Mietverhältnis gemäß § 182 Abs. 1 BauGB aufzuheben, setzt zwingend den akutellen Nachweis angemessenen Ersatzwohnraumes für den Zeitpunkt des vorgesehenen Umzuges voraus. Eine Zusage von Bemühungen, nach der Mietaufhebungsverfügung solchen Ersatzwohnraum zu beschaffen, genügt nicht dem Schutzanspruch des Mieters.

Tatbestand:

1

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen einen für sofort vollziehbar erklärten Mietaufhebungsbescheid der Antragsgegnerin.

2

Der Antragsteller lebt als Mieter in der Wohnung Nr. 56 des Gebäudes C. in D.. Eigentümer der Wohnanlage E. ist der Beigeladene. Die Belegenheit ist Bestandteil des förmlich festgelegten Sanierungsgebietes "F." im Stadtgebiet der Beklagten. Für das betreffende Teilgebiet hat die Antragsgegnerin den rechtsgültigen Bebauungsplan Nr. ALV I erlassen. Dessen Festsetzungen sehen den Rückbau der Wohnanlage G. 12 - 22 vor.

3

Am 30. April 2003 beantragte der Beigeladene bei der Antragsgegnerin, bestehende Mietverhältnisse an dem genannten Gebäude nach § 182 BauGB aufzuheben. Hierzu hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller an und hob mit Bescheid vom 22. Mai 2003 das Mietverhältnis zwischen dem Antragsteller und dem Beigeladenen mit Wirkung zum Ablauf des 30. November 2003 auf, zugleich ordnete sie die sofortige Vollziehung der Verfügung an. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid aus, die Wohnung liege in dem seit dem 13. Januar 2000 förmlich festgelegten Sanierungsgebiet "F.", im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. ALV I. Wesentliches Ziel des Planes sei u. a. der Abriss der Gebäude E. und die Neuordnung dieser Grundstücke für Einzel-, Doppel- und Reihenhäuser. Eine Modernisierung und Umstrukturierung der Gebäude sei sowohl aus wirtschaftlicher als auch sozialer Sicht nicht zumutbar. Die Voraussetzungen des Mietaufhebungsbegehrens seien erfüllt. Die Antragsgegnerin werde dafür sorgen, dass dem Antragsteller spätestens zum 30. November 2003 angemessener Ersatzwohnraum zur Verfügung stehe, und ihn in jeder Hinsicht beraten und unterstützen. Auf Antrag würden finanzielle Hilfen gewährt. Als angemessenen Ersatzwohnraum schlug die Antragsgegnerin in dem Bescheid dem Antragsteller vor, die ihm gehörende Zwei-Zimmer-Wohnung in der benachbarten H. zu beziehen. Die sofortige Vollziehung liege im überwiegenden öffentlichen Interesse an einer zeitnahen Umsetzung der städtebaulichen Ziele und Zwecke der Sanierung. Das persönliche Interesse des Antragstellers, das Mietvertragsverhältnis bis zum Eintritt der Bestandskraft dieser Aufhebungsverfügung fortzusetzen, trete insbesondere deshalb zurück, weil dem Antragsteller angemessener Ersatzwohnraum und finanzielle Entschädigung im Rahmen der Umzugskostenrichtlinie der Stadt Stade auf Antrag gewährt würden. Das öffentliche Interesse beruhe außerdem auf einer zeitlich eingeschränkten Verfügbarkeit von Haushalts- und Städtebauförderungsmitteln. Zudem seien in dem Gebäudekomplex 118 von 144 Wohnungen leer stehend. Es bestehe ein weiteres öffentliches Interesse daran, durch die umgehende Vollziehung des Mietaufhebungsbescheides willkürlichen und rechtswidrigen Manipulationen technischer Einrichtungen in leer stehenden Abschnitten des Gebäudes entgegenzuwirken.

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Gegen diese am 27. Mai 2003 zugestellte Entscheidung der Antragsgegnerin erhob der Antragsteller am 25. Juni 2003 Widerspruch und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, wegen der mit dem Verlust seiner Wohnung verbundenen erheblichen persönlichen Konsequenzen strebe er eine rechtliche Klärung in der Hauptsache an. Das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung sei nicht ausreichend begründet worden. Es sei beispielsweise nicht zu erkennen, dass umgehend der beabsichtigte Gebäudeabriss eingeleitet werde. Was die Sicherung des leer stehenden Gebäudeteils angehe, falle dies in die alleinige Verantwortung des Beigeladenen. Es handele sich nicht um eine öffentliche Angelegenheit.

5

Das Widerspruchsverfahren schwebt.

6

Ebenfalls am 25. Juni 2003 beantragte der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruches wiederherzustellen. Er wiederholt und ergänzt das Widerspruchsvorbringen.

7

Die Antragsgegnerin setzt sich mit dem Begehren des Antragstellers streitig auseinander. Sie weist in tatsächlicher Hinsicht darauf hin, dass während des ersten Halbjahres 2003 acht Brände im I. ausgebrochen seien. Diese hingen damit zusammen, dass die Gebäude teilweise leer stehen, die elektrischen Anlagen nicht mehr in Ordnung seien, dadurch eine erhöhte Kurzschlussgefahr und auch eine erhöhte Brandgefahr gegeben seien. Was den Fortgang der Sanierungstätigkeit im F., insbesondere den geplanten Gebäudeabriss betrifft, geht die Antragsgegnerin auf die vom Antragsteller vorgebrachten Einwände im Einzelnen ein und erläutert die nach ihrer Ansicht vorliegenden Gründe, die sofortige Vollziehung des angefochtenen Bescheides anzuordnen. Sie rügt dabei, dass der Antragsteller nichts zu der Frage vorgetragen habe, ob ihm angemessener Ersatzwohnraum zur Verfügung stehe. Er selbst sei Eigentümer einer leer stehenden Wohnung in der J.. Warum er nicht in seine eigene Wohnung einziehen möchte, habe er bislang nicht schlüssig dargetan. Unabhängig davon sei die Antragsgegnerin bereit, ihm auch eine andere Wohnung mit Hilfe der Stadtteilmoderatorin oder mit Hilfe von Maklern auf dem Wohnungsmarkt nachzuweisen. Nach dem Gesetz müsse der angemessene Ersatzwohnraum im Zeitpunkt der Beendigung des Mietverhältnisses, also zum 30. November 2003 zur Verfügung stehen, nicht aber zum Zeitpunkt, in dem der Aufhebungsbescheid erlassen wird.

8

Der Beigeladene hat sich zu dem Antrag nicht geäußert.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.

Gründe

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II.

Der Antrag hat Erfolg.

11

Der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 22. Mai 2003 ist nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich möglichen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten. Der Bescheid wird im Verfahren der Hauptsache voraussichtlich keinen Bestand haben.

12

Ermächtigungsgrundlage für die streitige Entscheidung der Antragsgegnerin ist § 182 Abs. 1 BauGB. Nach dieser Bestimmung kann die Gemeinde ein Miet- oder Pachtverhältnis auf Antrag des Eigentümers oder im Hinblick auf ein städtebauliches Gebot mit einer Frist von grundsätzlich mindestens sechs Monaten aufheben, wenn die Verwirklichung der Ziele und Zwecke der Sanierung im förmlich festgelegten Sanierungsgebiet, der Entwicklung im städtebaulichen Entwicklungsbereich oder einer Maßnahme nach den §§ 176 bis 179 BauGB dies erfordern. Ein Mietverhältnis über Wohnraum darf die Gemeinde nach Absatz 2 Satz 1 der Vorschrift jedoch nur aufheben, wenn im Zeitpunkt der Beendigung des Mietverhältnisses angemessener Ersatzwohnraum für den Mieter und die zu seinem Hausstand gehörenden Personen zu zumutbaren Bedingungen zur Verfügung steht. Diese Einschränkung knüpft inhaltlich an dem Schutzgedanken an, der auch der Bestimmung des § 179 Abs. 2 Satz 1 BauGB zugrunde liegt. Nach jener Bestimmung darf ein gemeindliches Abrissgebot bei Wohnraum nur vollzogen werden, wenn im Zeitpunkt der Beseitigung der baulichen Anlage angemessener Ersatzwohnraum für die Bewohner unter zumutbaren Bedingungen zur Verfügung steht. Während die eben genannte Vorschrift nur als ein Vollziehungshindernis für den Fall fehlenden zumutbaren Wohnraumes ausgestaltet ist, hat der Gesetzgeber diese Voraussetzung im § 182 Abs. 2 Satz 1 BauGB zum Tatbestandsmerkmal der Norm erhoben. Dies wird aus dem klaren Wortlaut "darf nur ....., wenn ....." deutlich. Hieraus folgt zugleich, dass die Gemeinde die Aufhebung eines Mietverhältnisses nicht verfügen darf, solange der im Gesetz geforderte angemessene Wohnraum für den Zeitpunkt des Wohnungswechsels noch nicht zur Verfügung steht (vgl. z.B. Hess. VGH, Beschluss vom 15.12.97, BRS 60 Nr. 230). Offenbar meint die Antragsgegnerin, es genüge, wenn beim Erlass der Mietaufhebungsverfügung eine hinreichend sichere Erwartung bestehe, dass für die Mieter bei der verfügten Beendigung des Mietverhältnisses eine angemessene Ersatzwohnung zu beschaffen sein werde. Dementsprechend hat die Antragsgegnerin den Antragsteller in ihrem Mietaufhebungsbescheid darauf verwiesen, sich wegen einer Beschaffung von Ersatzwohnraum an städtische Dienste zu wenden oder im Zeitraum bis zur Beendigung des Mietverhältnisses die Dienste von Immobilienmaklern in Anspruch zu nehmen. In diesem Sinne vertritt die Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren ausdrücklich die Auffassung, der Ersatzwohnraum brauche bei Erlass der Mietaufhebungsverfügung nicht vorhanden zu sein, sondern erst im Zeitpunkt des notwendigen Umzuges. Dieser Auffassung vermag die Kammer nicht zu folgen. Die gesetzliche Konzeption des § 182 BauGB lässt nach seiner Ausgestaltung und seiner Formulierung erkennen, dass die Frage ausreichenden und angemessenen Ersatzwohnraumes in demselben Verfahren zu prüfen und zu entscheiden ist, dessen Ziel die Aufhebung des ursprünglichen Mietverhältnisses ist. Die konkrete und rechtlich abgesicherte Verfügbarkeit des erforderlichen Ersatzwohnraumes muss also feststehen, sobald die Gemeinde das ursprüngliche Mietverhältnis nach § 182 Abs. 1 BauGB aufheben will. Der erkennbare Wille des Gesetzgebers lässt es nicht zu, die Frage des Ersatzwohnraumes einem nachgeschalteten, gesonderten Verfahren zu überlassen. Dies würde den Schutz der zum Auszug verpflichteten Mieter in einer nicht hinnehmbaren Weise verkürzen. Es kann den Mietern nicht zugemutet werden, eine unter den isolierten Voraussetzungen des § 182 Abs. 1 BauGB verfügte Mietaufhebung hinzunehmen und in den anschließend verbleibenden sechs Monaten der gesetzlichen Mindestfrist mit der Gemeinde einen belastenden Verpflichtungsstreit um den Nachweis angemessenen Wohnraums zu führen. Gerade der mit einer solchen Verfahrensaufspaltung verbundene Zeitdruck muss von den auszugspflichtigen Mietern, die selber nicht den Anlass für die hoheitlich angeordnete Mietaufhebung herbeiführen, unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten ferngehalten werden (vgl. Ernst-Zinkahn-Bielenberg, BauGB, § 182 Rdnr. 12, § 179 Rdnr. 58 ff.).

13

Die Antragsgegnerin hat im Falle des Antragstellers die Frage eines Nachweises angemessenen Ersatzwohnraumes bei ihrer Entscheidung ausdrücklich ausgeklammert und damit rechtswidrig gehandelt. Dadurch ist der Antragsteller in seinen Rechten verletzt. Den ihm zustehenden Anspruch, zugleich mit der ihn belastenden Mietaufhebungsverfügung für den Zeitpunkt der Beendigung des Mietverhältnisses die gesicherte Möglichkeit zu erhalten, eine Ersatzwohnung zu beziehen, hat die Antragsgegnerin bei Erlass des angefochtenen Bescheides und auch später nicht erfüllt. Ob es dem Antragsteller im Übrigen zugemutet werden kann, seine Eigentumswohnung in der K. als Ersatzwohnung im Sinne des § 182 Abs. 2 Satz 1 BauGB zu beziehen, ist eine Frage, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden kann. Hierzu trägt der Antragsteller vor, dass er jene Wohnung nicht erworben habe, um sie selber zu bewohnen, sondern anderweitig zu nutzen. Es sprechen zunächst keine rechtlichen Gesichtspunkte dafür, dass der Antragsteller als Adressat eines Mietaufhebungsbescheides vorrangig aus eigener Kraft dafür zu sorgen hätte, anderen Wohnraum zu beschaffen. Wenn der Antragsteller geltend macht, er verfolge mit seinem Wohneigentum von Anfang an andere Pläne, so kann die Antragsgegnerin die ihr obliegenden Nachweis- und Beschaffungsverpflichtungen für angemessenen Ersatzwohnraum nicht auf den Antragsteller mit dem Hinweis abwälzen, dass ihm schon eine beziehbare Wohnung gehöre und er schlüssig darzulegen habe, warum er den Umzug dorthin nicht beabsichtige. Ob und inwieweit ein Mieter als Beteiligter eines Mietaufhebungsverfahrens nach § 182 BauGB verpflichtet sein kann, bei der Beschaffung des Ersatzwohnraumes durch den Einsatz eigener Mittel und Möglichkeiten mitzuwirken, kann erst im Hauptsacheverfahren beantwortet werden.

14

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Billigkeitsgründe nach § 162 Abs. 3 VwGO, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen der Antragsgegnerin oder der Staatskasse aufzuerlegen, bestehen nicht.