Oberlandesgericht Braunschweig
Urt. v. 11.04.2014, Az.: 6 SchH 1/13

Ansprüche auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer bei Geltendmachung einer Vielzahl gleichgerichteter Schadensersatzforderungen

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
11.04.2014
Aktenzeichen
6 SchH 1/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 16261
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2014:0411.6SCHH1.13.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BGH - 12.02.2015 - AZ: III ZR 141/14

Amtlicher Leitsatz

1. § 198 Abs. 4 S 3 GVG, wonach Wiedergutmachung neben der Entschädigung durch die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer erfolgen kann, räumt dem Betroffenen kein subjektives Recht ein, das er im Klageweg durchsetzen kann.

2. Das Gericht ist in Grenzen befugt, einzelne Verfahren aus einem größeren Verfahrenskomplex vorzuziehen, um gemeinsame Rechtsfragen vorab zu klären; die Zustimmung der Parteien ist hierfür nicht erforderlich.

3. Wenn gegen einen überschuldeten Beklagten der Ausgangsverfahren und späteren Kläger der Entschädigungsverfahren eine Vielzahl gleichgerichteter Schadensersatzforderungen aus demselben Komplex sukzessive geltend gemacht werden, wird es oft unbillig sein, für die verzögerte Behandlung jedes einzelnen Ausgangsverfahrens den Regelentschädigungsbetrag (§ 198 Abs. 2 S. 3 GVG) zuzusprechen. Vielmehr kann die Tatsachenvermutung des § 198 Abs 2 S. 1 GVG im Einzelfall mangels messbarer Belastungszunahme beim Betroffenen widerlegt sein, wenn die Entschädigungsklagen Ausgangsverfahren betreffen, die rechtshängig geworden sind, als schon eine Vielzahl anderer Klagen aus demselben Komplex zugestellt waren.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist für das beklagte Land gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 47.900,- € festgesetzt.

Tatbestand

I.

Der Kläger begehrt von dem beklagten Land in 10 Fällen Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Rechtsstreits (§§ 198 ff. GVG). Dabei bezieht sich die Entschädigung in einem Fall auf die Zeit vom 1. September 2008 bis 1. August 2012 (47 Monate) und in den übrigen 9 Fällen auf den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2012 (48 Monate). Zusätzlich verlangt er die Feststellung, dass die Verfahrensdauer in diesem Zeitraum unangemessen lang gewesen sei.

Den im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 260 ZPO) verfolgten Entschädigungsanträgen liegen 10 Ausgangsverfahren zugrunde, bei denen es jeweils um Schadensersatzklagen von Anlegern gegen den Kläger geht. Sie betreffen die persönliche Haftung des Klägers als Verantwortlicher ("Konzeptant") des Unternehmensverbundes der sog. "G Gruppe" und waren Gegenstand der Medienberichterstattung.

Allein in den Jahren 2007 und 2008 sind beim Landgericht Göttingen 2.441 Verfahren gegen den Kläger eingegangen. Insgesamt sind einschließlich der in späteren Jahren (ab 2009) erhobenen Schadensersatzklagen sogar über 4.000 solcher Verfahren von Anlegern gegen den Kläger angebracht worden. Diese Klagen, die - ebenso wie die streitgegenständlichen Ausgangsverfahren - fast alle noch unerledigt sind, wurden ursprünglich von der allein zuständigen 2. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen bearbeitet. Ein Teil der Verfahren - hierzu gehören auch die vorliegenden - wurde Anfang 2012 von der 14. Zivilkammer übernommen.

Die Klagen in den streitgegenständlichen Ausgangsverfahren wurden dem Kläger am 17.01.2008 und am 18.01.2008 zugestellt. Schon bis Ende 2007 waren 386 Schadensersatzklagen rechtshängig. Durch diese 386 Schadensersatzklagen werden gegen den Kläger Forderungen in Höhe von insgesamt 10.777.752,53 € geltend gemacht. Wegen der Einzelheiten wird auf die Tabelle (Bd. IV Bl. 215 - 227 d.A.) verwiesen. Neben der Zahlung von Schadensersatz waren die Klagen der Anleger zudem von Anfang an auf die Feststellung gerichtet, dass der Anspruch auf einer unerlaubten Handlung beruhe.

Der Kläger verfügte bei Zustellung der Klagen nicht über nennenswertes Vermögen. Er schuldete vielmehr dem Land Berlin Steuern und steuerliche Nebenleistungen. Diese Steuerschuld, die bis zum 24.08.2007 bereits eine Höhe von 10.284.173,56 € erreicht hatte, konnte vom Kläger nicht bedient werden. Vollstreckungsversuche des Landes Berlin schlugen fehl. Die Vermögensverhältnisse des Klägers verbesserten sich im streitgegenständlichen Zeitraum nicht.

Die streitgegenständlichen Ausgangsverfahren sind dadurch gekennzeichnet, dass bis in das Jahr 2012 hinein nie eine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde; auch fand im maßgeblichen Zeitraum keine Beweisaufnahme statt. Die 2. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen veranlasste jeweils die Zustellung der ursprünglichen Zahlungsklagen, übermittelte die Klageerwiderungen sowohl des in den Ausgangsverfahren ebenfalls verklagten Zeugen S (Beklagter zu 1) als auch des Klägers (Beklagter zu 2) und entschied im Jahr 2008 nach Anhörung der Gegenseite über ein Prozesskostenhilfegesuch des Zeugen S.

Die Kammer traf die Entscheidung, die streitgegenständlichen Ausgangsverfahren zunächst nicht weiter zu betreiben. Sie bestimmte vielmehr im April 2008 nur in den exemplarisch ausgewählten Verfahren LG Göttingen 2 O 583/07 (= OLG Braunschweig, Urteil vom 02.05.2012, 3 U 120/08, juris), LG Göttingen 2 O 655/07 (= OLG Braunschweig 3 U 121/08), LG Göttingen 2 O 407/07 (= OLG Braunschweig 3 U 123/08), LG Göttingen 2 O 616/07 (= OLG Braunschweig 3 U 124/08), LG Göttingen 2 O 798/07 (= OLG Braunschweig 3 U 125/08), LG Göttingen 2 O 427/07 (= OLG Braunschweig 3 U 126/08), LG Göttingen 2 O 1651/07 sowie LG Göttingen 2 O 1878/07 Termin zur mündlichen Verhandlung. Im Anschluss an den Verhandlungstermin vom 7. August 2008 verkündete die Kammer am 08. August 2008 klageabweisende Versäumnisurteile, weil die Kläger der Ausgangsverfahren (Anleger) keine Anträge gestellt hatten.

In den sechs erstgenannten Verfahren erging ein Versäumnisurteil jedoch nur, soweit es den Rechtsstreit gegen den hiesigen Kläger betraf. Die sechs gegen den Zeugen S (Beklagter zu 1) gerichteten Klagen wies die Kammer durch Teilurteil vom 21. August 2008, das nach Lage der Akten (§ 331 a ZPO) erging, ab, soweit sich die Ansprüche nicht auf die Gesellschafterhaftung des Zeugen S nach §§ 278 Abs. 2 AktG, 161 Abs. 2, 128 HGB stützen. Obgleich sich die Teilurteile lediglich gegen den Zeugen S richteten, wartete die Kammer den Ausgang der Berufungsverfahren ab, weil sie sich hiervon auch Erkenntnisse für die gegen den Kläger gerichteten Ansprüche versprach.

Die Kammer wählte diese Verfahrensweise, weil sowohl dem Kläger als auch dem Zeugen S "in allen Verfahren und im wesentlichen gleichlautend - ohne Unterscheidung von Zeichnungszeiträumen - der Vorwurf gemacht (wurde), als Verantwortliche in den jeweiligen Prospekten eine falsche Emissionskostenquote ausgewiesen zu haben, gegen Investitionsgrundsätze verstoßen zu haben und dass das gesamte Geschäftsmodell von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei" (so die Dienstliche Äußerung des Vorsitzenden zu Ablehnungsgesuchen der Kläger des Ausgangsverfahrens in den genannten 8 Verfahren vom 8./9.10.2008: Anlage K 4 Bd. IV Bl. 62 ff.). Die Kammer unterließ es jedoch, die Parteien des Ausgangsverfahrens ausdrücklich darüber zu unterrichten, dass sie beabsichtige, den Ausgang der genannten Verfahren abzuwarten.

In der Folgezeit (April 2009) erlitt der Kläger einen Herzinfarkt. Der 3. Senat des Oberlandesgerichts Braunschweig wies die Kläger des Ausgangsverfahrens LG Göttingen 2 O 583/07 (= OLG Braunschweig 3 U 120/08, Urteil vom 02.05.2012, juris) am 20. August 2009 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hin, dass das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg biete. Nachdem dieser Hinweisbeschluss des 3. Senats zur 2. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen gelangt war, gab der Kammervorsitzende in den streitgegenständlichen Verfahren am 11. November 2009 "zur Vorbereitung weiterer durchzuführender mündlicher Verhandlungen und auch im Hinblick auf weitere Schriftsätze" seinerseits einen Hinweis auf die Unschlüssigkeit der Klage. In diesem Hinweis machte sich die Kammer u.a. die Auffassung des Oberlandesgerichts zu eigen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Hinweises, in dem erstmals ausdrücklich von "Pilotverfahren" die Rede ist, wird auf Bd. IV Bl. 10 f. verwiesen.

Im September 2011 gingen sodann bei der Kammer in sämtlichen Ausgangsverfahren Prozesskostenhilfegesuche des Klägers ein. Außerdem erweiterten die einzelnen Kläger der Ausgangsverfahren die Klagen jeweils mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2011. Sie begehren seither die weitere Feststellung, dass der Kläger und der Zeuge S verpflichtet seien, ihnen zukünftig noch entstehende Schäden zu ersetzen.

Mit Beschlüssen vom 09. Februar 2012 (Verfahren Landgericht Göttingen 14 (2) O 389/07) und vom 02. Februar 2012 (übrige Verfahren) lehnte die Kammer die Prozesskostenhilfe - jeweils nach Anhörung des Gegners - ab. Hiergegen legte der Kläger Beschwerde ein. Der 3. Senat des Oberlandesgerichts bewilligte daraufhin in sämtlichen Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe, und zwar in den vorliegenden Verfahren am 15.05.2012 (14 (2) O 1607/07), am 21.05.2012 (14 (2) O 1601/07, 14 (2) O 1641/07, 14 (2) O 1633/07 und 14 (2) O 1643/07), am 08.06.2012 (14 (2) O 1637/07, 14 (2) O 1639/07, 14 (2) O 1635/07, 14 (2) O 1649/07) sowie am 11.06.2012 (14 (2) O 389/07).

Mit Ausnahme des Verfahrens 14 (2) O 389/07 bestimmte die 14. Zivilkammer zudem in sämtlichen streitgegenständlichen Sachen auf den 29. Februar 2012 Termin. Diesen hob sie allerdings - nach Eingang von Ablehnungsgesuchen der Kläger der Ausgangsverfahren - am 28. Februar 2012 wieder auf. Nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe bestimmte die 14. Zivilkammer dann in den 10 Ausgangsverfahren Termin zur mündlichen Verhandlung. Im Verfahren 14 (2) O 389/07 wurde der Termin am 15.08.2012 durchgeführt, in den übrigen neun Verfahren bereits am 11.07.2012. Im Anschluss verkündete die Kammer, die das Klagevorbringen nunmehr in Abkehr von der ursprünglichen Einschätzung der 2. Zivilkammer als schlüssig einordnete, jeweils einen Auflagen- und Beweisbeschluss (u.a. Einholung eines Sachverständigengutachtens).

In sämtlichen 10 Ausgangsverfahren erhob der Kläger gemäß Art. 23 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren jeweils am 8. Dezember 2011, also wenige Tage nach der Verkündung des Gesetzes am 3. Dezember 2011 (Art. 24), Verzögerungsrügen. Vor Inkrafttreten des genannten Gesetzes hatte sich der Kläger bereits in insgesamt 1.415 Ausgangsverfahren - hierzu rechnen auch die streitgegenständlichen - mit einer Beschwerde wegen Verstoßes gegen Art. 6, 13 EMRK an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt. Der Gerichtshof verwies ihn indes im Jahr 2012 auf die nunmehr gemäß §§ 198 ff. GVG gegebene Rechtsschutzmöglichkeit und erklärte die Beschwerden deshalb für unzulässig.

Der Kläger meint, ihm stehe für die Verzögerung jedes der 2.441 in den Jahren 2007 und 2008 eingegangenen Verfahren der Regelentschädigungsbetrag von 1.200,- € pro Jahr (§ 198 Abs. 2 S. 3 GVG) zu. Seine Existenz sei durch die Medienberichterstattung über die Ausgangsverfahren und die Tatsache, dass er wegen der Verfahren einer Gesamtschadensersatzforderung von rund 100.000.000,- € ausgesetzt sei, bedroht. Der Herzinfarkt, den er im Jahr 2009 erlitten habe, sei kausal auf die Belastung zurückzuführen, die mit den Ausgangsverfahren verbunden sei.

Die zögerliche Sachbehandlung betreffe nicht nur die Zeit, in der allein die 2. Zivilkammer zuständig gewesen sei. Die Verzögerungen hätten sich vielmehr auch in der Zeit nach dem 01. Januar 2012, in der die streitgegenständlichen Verfahren von der 14. Zivilkammer bearbeitet wurden, fortgesetzt. Denn die Kammer habe jeweils Auflagen- und Beweisbeschlüsse verkündet, die nicht mit der Rechtsprechung des 3. Senats des Oberlandesgerichts Braunschweig vereinbar und deshalb unnötig seien. Der 3. Senat habe im Verfahren 3 U 120/08 (Urteil vom 02.05.2012, juris) zutreffend entschieden, dass eine Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten zu unterbleiben habe.

Der Kläger begehrt wegen der Verzögerung des Ausgangsverfahrens Landgericht Göttingen 14 (2) O 389/07 Entschädigung für den Zeitraum vom 1. September 2008 bis 1. August 2012 (47 Monate) und wegen der Verzögerung der übrigen 9 Ausgangsverfahren Entschädigung für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2012 (48 Monate). Er beantragt,

das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 47.900,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 4.700,- € seit dem 09.09.2012 sowie auf 43.200,- € seit dem 15.02.2013 zu zahlen.

Zusätzlich beantragt er,

festzustellen, dass die Verfahrensdauer in den Ausgangsverfahren 14 (2) O 389/07, 14 (2) O 1601/07, 14 (2) O 1641/07, 14 (2) O 1633/07, 14 (2) O 1607/07, 14 (2) O 1643/07, 14 (2) O 1637/07, 14 (2) O 1639/07, 14 (2) O 1635/07 und 14 (2) O 1649/07 unangemessen lang gewesen sei.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

Bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer müsse gesehen werden, dass sich für das Landgericht Göttingen durch die ab 2007 eingegangene "Klageflut" von insgesamt 4.100 Verfahren eine unvorhergesehene Mehrbelastung ergeben habe, die im normalen Geschäftsablauf in keiner Weise aufzufangen gewesen sei. Eine Übergangszeit von zumindest 2 Jahren sei anzusetzen, weil die notwendigen personellen und sächlichen Voraussetzungen erst hätten geschaffen werden müssen.

Außerdem habe das Landgericht Göttingen zwar die vorliegenden Verfahren über eine längere Zeit nicht betrieben, dies sei jedoch nicht zu beanstanden, weil die Kammer Pilotprozesse ausgewählt und diese vorgezogen habe, um die Rechtslage zu klären. Das beklagte Land behauptet hierzu, der Auswahl der Pilotverfahren habe eine "stillschweigende Vereinbarung" aller Verfahrensbeteiligter zugrunde gelegen. Dies belege auch die Hinweisverfügung des Gerichts vom 11. November 2009, weil der Kammervorsitzende ausdrücklich ausgeführt habe, dass es sich bei den ausgewählten Verfahren um "Pilotverfahren" handele. Dass diese Pilotprozesse den Zeugen S und nicht den Kläger betroffen hätten, schade nicht.

Ohnehin habe sich eine etwa unangemessene Verfahrensdauer nicht ausgewirkt, weil die Kläger der Ausgangsverfahren eine frühere Terminierung/Verfahrensförderung durch zahlreiche prozessuale Verzögerungsmaßnahmen (Ablehnungsgesuche etc.) sowieso verhindert hätten. Mit dieser "Blockadehaltung" hätten die Kläger der Ausgangsverfahren nach dem Hinweis auf die Unschlüssigkeit der Klage erkennbar Zeit gewinnen wollen, um ihren Vortrag zu ergänzen. Zu solchen prozessualen Maßnahmen der Anleger sei es zwar - dies ist unstreitig - in den vorliegenden Ausgangsverfahren nicht gekommen. Das beklagte Land behauptet aber, dass es hierzu gekommen wäre, wenn die Kammer die streitgegenständlichen Ausgangsverfahren gefördert hätte. Dass die Kläger der Ausgangsverfahren bis zum Sommer 2012 jede Verfahrensförderung "torpediert" hätten, zeige sich daran, dass das Landgericht Göttingen in 229 anderen Verfahren den Versuch einer Terminierung unternommen habe, was jeweils von den Klägern vereitelt worden sei.

Das beklagte Land ist des Weiteren der Auffassung, dass bei Massenentschädigungsverfahren wie dem vorliegenden eine "Gesamtbetrachtung" geboten sei. Die Auffassung des Klägers, der für jedes einzelne Verfahren die Regelentschädigung von 1.200,- € pro Jahr fordert, führe zu einem Wertungswiderspruch. Denn die Entschädigung, die der Kläger insgesamt verlange, übersteige den Entschädigungsbetrag, der von Gerichten bei schwersten Beeinträchtigungen körperlicher und seelischer Art zugesprochen werde, erheblich.

Das beklagte Land bestreitet, dass der Kläger wegen der beim Landgericht Göttingen anhängigen Verfahren einen Herzinfarkt erlitten habe. Insoweit habe sich vielmehr sein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht.

Die Akten Landgericht Göttingen 14 (2) O 389/07, 14 (2) O 1601/07, 14 (2) O 1641/07, 14 (2) O 1633/07, 14 (2) O 1607/07, 14 (2) O 1643/07, 14 (2) O 1637/07, 14(2) O 1639/07, 14 (2) O 1635/07 und 14 (2) O 1649/07 waren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

II.

Die Klage ist teilweise (Feststellungsantrag) unzulässig und im übrigen unbegründet.

1. Feststellungsantrag

Soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Verfahrensdauer in den Verfahren 14 (2) O 389/07, 14 (2) O 1601/07, 14 (2) O 1641/07, 14 (2) O 1633/07, 14 (2) O 1607/07, 14 (2) O 1643/07, 14 (2) O 1637/07, 14 (2) O 1639/07, 14 (2) O 1635/07 und 14 (2) O 1649/07 unangemessen lang gewesen sei, ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen. § 198 Abs. 4 S. 3 GVG ermächtigt das Gericht zwar, in schwerwiegenden Fällen zusätzlich zur Entschädigung die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festzustellen. Weil eine solche Feststellung aber im Ermessen des Gerichts steht, räumt die Vorschrift dem Betroffenen kein subjektives Recht ein, das er im Klageweg durchsetzen kann (BGH, Urteil vom 05.12.2013, III ZR 73/13, juris, Rn. 35; BGH, Urteil vom 23.01.2014, III ZR 37/13, juris, Rn. 65 f.; Ott in Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 262). Für einen solchen Antrag besteht kein Rechtsschutzbedürfnis, weil das Gericht ohnehin in jedem Verfahren von Amts wegen (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 11.07.2013, 5 C 23/12 D, juris, Rn. 63) nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen hat, ob die Unangemessenheit der Verfahrensdauer - wie hier beantragt - neben oder eventuell auch anstelle (§ 198 Abs. 4 S. 1 GVG) einer etwaigen Entschädigungszahlung auszusprechen ist.

2. Leistungsklage

Die auf Zahlung einer Entschädigung von insgesamt 47.900,- € nebst Zinsen gerichtete Leistungsklage ist demgegenüber zulässig. Dass die Ausgangsverfahren noch nicht rechtskräftig sind, steht der Klage nicht entgegen (BGH, Urteil vom 23.01.2014, III ZR 37/13, juris, Rn. 28; Lückemann in Zöller, ZPO, 30. Aufl., § 198 GVG Rn. 11). Deren Rechtskraft wird von § 198 Abs. 5 S. 1 GVG nicht vorausgesetzt. § 201 Abs. 3 S. 1 GVG gibt lediglich die Möglichkeit, das Entschädigungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen bis zur Rechtskraft des Ausgangsverfahrens auszusetzen. Die Leistungsklage ist jedoch unbegründet.

a. unangemessene Verfahrensdauer

Soweit es den Zeitraum vom 1. September 2008 bis Februar 2010 sowie jenen von September 2011 bis Dezember 2012 betrifft, ist die Klage bereits deshalb abzuweisen, weil es an der Anspruchsvoraussetzung einer unangemessenen Verfahrensdauer (§ 198 Abs. 1 S. 1 GVG) fehlt.

aa. So spricht bereits einiges dafür, dem beklagten Land eine erhebliche Übergangsfrist zuzubilligen, um der in den Jahren 2007 und 2008 beim Landgericht Göttingen eingegangenen "Klageflut" von zumindest 2.441 Verfahren zu begegnen. Es ist zwar anerkannt, dass Personalmangel regelmäßig nicht entschuldigt, weil die Justizverwaltung grundsätzlich verpflichtet ist, die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen (BVerfG NJW 2000, 797; BVerfG, Beschluss vom 13.08.2012, 1 BvR 1098/11, juris, Rn. 19; BFH, Urteil vom 17.04.2013, X K 3/12, juris, Rn. 43). Allerdings kann außergewöhnlichen Umständen ausnahmsweise Rechnung getragen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.08.2012, 1 BvR 1098/11, juris, Rn. 19). Eine solche Ausnahmesituation dürfte hier gegeben sein, weil der schnellen personellen Aufstockung eines kleinen Gerichts - um ein solches handelt es sich bei dem Landgericht Göttingen - Grenzen gesetzt sind. Denn die Justizverwaltung muss Berufsanfänger in einem justizförmigen Verfahren einstellen, auch sind Versetzungen oder Abordnungen von Planrichtern nur eingeschränkt möglich (§§ 30 ff., 37 DRiG).

Darauf kommt es jedoch letztlich nicht entscheidend an, weil die Übergangszeit, wie das beklagte Land selbst einräumt, zeitlich begrenzt ist, so dass sich das beklagte Land jedenfalls ab Ende 2009 hierauf nicht mehr berufen kann. Bis zum Jahresende 2009 ist die Verfahrensdauer aber ohnehin nicht unangemessen, weil sich das beklagte Land bis zu diesem Zeitpunkt mit Recht auf den Umstand beruft, dass das Landgericht Göttingen unechte Musterverfahren geführt hat und deshalb die streitgegenständlichen Ausgangsverfahren zurückstellen durfte. Der Bundesgerichtshof hat in den Urteilen vom 14. November 2013 (BGH, III ZR 376/12, juris, Rn. 44) und vom 23. Januar 2014 (BGH, III ZR 37/13, juris, Rn. 39) die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG) betont und einen Gestaltungsspielraum anerkannt, der die Gerichte in Grenzen berechtigt, einzelne Verfahren vorzuziehen. Es ist deshalb hinzunehmen, dass die 2. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen die Verfahren 2 O 583/07, 2 O 655/07, 2 O 407/07, 2 O 616/07, 2 O 798/07 und 2 O 427/07 vorzog, um die Rechtsauffassung des Berufungsverfahrens zu berücksichtigen.

Weil das Gericht die Entscheidung, bestimmte Verfahren vorzuziehen, aus eigenem Recht treffen kann, kommt es nicht darauf an, ob das Abwarten in den streitgegenständlichen Ausgangsverfahren - wie vom beklagten Land behauptet - auf einer "konkludenten" Einigung mit den Parteien des Ausgangsverfahrens beruhte. Dass die Berufungsverfahren den Zeugen S betrafen, weil nur gegen ihn nach Lage der Akten entschieden wurde, hält der Senat ebenfalls nicht für bedeutsam, denn es gab - dies ergibt sich beispielsweise deutlich aus der Anlage K 4 (Bd. IV Bl. 62), gemeinsame Rechtsfragen, die aus der maßgeblichen Ex-ante-Sicht der 2. Zivilkammer (dazu: BGH, Urteil vom 14.11.2013, III ZR 376/12, juris, Rn. 43) sowohl den Kläger als auch den Zeugen S betrafen.

Dass die Kammer die genannten Verfahren vorzog, rechtfertigt ein Zuwarten allerdings nur bis einschließlich Februar 2010. Denn der Senat entnimmt der Hinweisverfügung der 2. Zivilkammer vom 11. November 2009 (Bd. IV Bl. 10 ff.), dass die Kammer die Rechtsfragen nun für geklärt erachtete. Dann gab es keinen Anlass mehr, den weiteren Verlauf der 6 Berufungsverfahren abzuwarten. Diese Bewertung des Senats beruht darauf, dass der Kammervorsitzende den genannten Hinweis "zur Vorbereitung weiterer durchzuführender mündlicher Verhandlungen und auch im Hinblick auf weitere Schriftsätze" erteilte (vgl. Bd. IV Bl. 10 f.). Dabei bezog sich der Kammervorsitzende auf den vorangegangenen Hinweisbeschluss des 3. Senats (§ 522 Abs. 2 ZPO) in der Sache 3 U 120/08, den sich die Kammer zu eigen machte, und erteilte weitere eigene Hinweise zur Sach- und Rechtslage. Deshalb kann sich das beklagte Land nach dem Hinweis nicht mehr damit verteidigen, dass der Ausgang von Musterverfahren abgewartet werden sollte. Vielmehr verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer - hier waren die Verfahren im Zeitpunkt der Hinweisverfügung bereits seit mehr als 2 Jahren anhängig und knapp 2 Jahre rechtshängig - die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung zu bemühen (BFH, Urteil vom 20.11.2013, X K 2/12, juris, Rn. 40, 44). Der Senat geht davon aus, dass die streitgegenständlichen Verfahren bis spätestens Ende Februar 2010 hätten gefördert werden müssen. Die Zeit zwischen November 2009 und Februar 2010 ist dem Gericht wegen der Vielzahl der Verfahren zuzubilligen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die gleichzeitige Förderung aller 2.441 Ausgangsverfahren einen erheblichen logistischen Aufwand erfordert und kein Anlass bestand, gerade die 10 streitgegenständlichen Verfahren vorzuziehen.

bb. In den folgenden 18 Monaten von Anfang März 2010 bis Ende August 2011 ist die Verfahrensdauer der streitgegenständlichen Verfahren hingegen unangemessen. Die Kammer durfte in dieser Zeit nicht untätig bleiben. Dass sie in insgesamt 229 anderen Ausgangsverfahren Verhandlungstermine bestimmte, die sie jeweils wegen Ablehnungsgesuchen der Kläger des Ausgangsverfahrens aufhob, ändert in den streitgegenständlichen Verfahren nichts an der Unangemessenheit der Verfahrensdauer. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind hypothetischen Kausalverläufe bei Ansprüchen nach § 198 GVG unbeachtlich (BFH, Urteil vom 20.11.2013, X K 2/12, juris, Rn. 38). Hier kommt noch hinzu, dass offen ist, ob und ggf. welche prozessualen Maßnahmen die Kläger der Ausgangsverfahren ergriffen hätten, wenn das Gericht die Verfahren gefördert hätte. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Kläger der Ausgangsverfahren auch in den streitgegenständlichen Verfahren Befangenheitsanträge gestellt hätten, bleibt weiterhin unklar, ob deren Behandlung zu einer Verzögerung geführt hätte oder ob hierauf kurzfristig - beispielsweise durch zügige Ablehnung des Gesuchs - hätte reagiert werden können.

cc. Eine unangemessene Verfahrensdauer liegt ab September 2011 allerdings nicht mehr vor. Die Kammer hat in dieser Zeit Prozesskostenhilfegesuche des Klägers bearbeitet, die ab Mitte September 2011 beim Gericht eingegangen sind. Wird ein Prozesskostenhilfegesuch während des rechtshängigen Hauptsacheverfahrens gestellt, führt eine etwa verzögerte Bearbeitung des Prozesskostenhilfegesuchs zwar zur Verzögerung der Hauptsache, so dass der Entschädigungskläger eine Verzögerung des Prozesskostenhilfeverfahrens nicht gesondert geltend machen muss (OLG Frankfurt, Urteil vom 08.05.2013, 4 EntV 18/12, juris, 35). Die Entscheidung über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist hier aber nicht als i.S.d. § 198 GVG verzögert anzusehen. Dass die Kammer über die Gesuche erst am 02. Februar 2012 und am 09. Februar 2012 (LG Gö 14 (2) O 389/07) entschieden hat, ist angesichts des Umfangs der Verfahren noch hinnehmbar. In diesem Zusammenhang kann der Senat wiederum nicht außer acht lassen, dass die Prozesskostenhilfegesuche in sämtlichen Ausgangsverfahren gestellt worden sind und ihre Bearbeitung wegen der Vielzahl der gleichzeitig zu bewältigenden Gesuche einen erheblichen logistischen Aufwand erforderte.

Außerdem erhöhte sich der Bearbeitungsaufwand der Kammer zusätzlich, als die jeweiligen Kläger der Ausgangsverfahren ihre Klagen mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2011 erweiterten und ergänzend die Feststellung beantragten, dass der Kläger und der Zeuge S verpflichtet seien, ihnen zukünftig noch entstehende Schäden zu ersetzen. Die Kammer musste sich nun parallel zum Prozesskostenhilfegesuch in den Streitstoff der Klageerweiterung einarbeiten, diese zustellen und die Klageerwiderungen der Gegenseite zur Kenntnis nehmen.

Mit Ausnahme des Verfahrens 14 (2) O 389/07 hat die Kammer zudem in sämtlichen verfahrensgegenständlichen Sachen auf den 29. Februar 2012 Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt. Dass sie diesen - nach Eingang eines Ablehnungsgesuchs am 28.02.2012 - dann aufgehoben hat (vgl. z.B. BA 14 (2) O 1635/07, Bl. 448, 458), ist nicht zu beanstanden, weil das Entschädigungsgericht grundsätzlich nicht prüft, ob die Richter im Ausgangsverfahren richtig entschieden haben (OLG Stuttgart, Beschluss vom 14.08.2012, 4 SchH 4/12, juris, Rn. 16) und Anhaltspunkte für eine schlechterdings unvertretbare Verfahrensweise der Kammer nicht vorliegen.

Zügig hat dann das Oberlandesgericht gearbeitet, indem es auf die Beschwerde des Klägers die prozesskostenhilfebewilligenden Entscheidungen in den vorliegenden Verfahren am 15.05.2012 (1607/07), am 21.05.2012 (1601/07, 1641/07, 1633/07 und 1643/07), am 08.06.2012 (1637/07, 1639/07, 1635/07, 1649/07) sowie am 11.06.2012 (389/07) getroffen hat. Dass die Kammer die Prozesskostenhilfe zuvor abgelehnt hatte, ist ihr nicht vorzuwerfen, weil auch insoweit der Grundsatz gilt, dass das Entschädigungsgericht nicht prüft, ob die Ausgangsverfahren richtig bearbeitet wurden (OLG Stuttgart, aaO.). Es entspricht weiterhin straffer Verfahrensführung, dass die Kammer nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Prozesskostenhilfebewilligung terminiert und am 11.07.2012 sowie am 15.08.2012 mündlich verhandelt hat.

Schließlich ist auch keine Entschädigung für den Zeitraum nach den Verhandlungsterminen vom 11.07.2012 und 15.08.2012 zuzusprechen. Es ist für Zwecke des § 198 GVG nicht zu beanstanden, dass das Landgericht Göttingen in den Ausgangsverfahren nach der mündlichen Verhandlung vom 11.07.2012 einen Auflagen- und Beweisbeschluss verkündet hat. Der Senat hat nicht zu untersuchen, ob dem Landgericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist, als es sich gegen den Willen der Parteien des Ausgangsverfahrens entschieden hat, ein Sachverständigengutachten einzuholen, um das Konzept der Gesellschaften der "Göttinger Gruppe" zu untersuchen (vgl. OLG Stuttgart, aaO.). Soweit es die Sache 14 (2) O 389/07 betrifft, liegt der Verhandlungstermin (15.08.2012) ohnehin nicht mehr im streitgegenständlichen Verzögerungszeitraum, der bei diesem Verfahren vom 01.09.2008 bis 01.08.2012 reicht.

b. Nachteil

Soweit die Verfahrensdauer als unangemessen lang anzusehen ist, scheidet ein Anspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG dennoch aus, weil dem Kläger hierdurch in den streitgegenständlichen zehn Ausgangsverfahren jedenfalls kein Nachteil entstanden ist. Ein immaterieller Nachteil wird zwar gemäß § 198 Abs. 2 S. 1 GVG vermutet, wenn die Verfahrensdauer unangemessen lange gedauert hat. Die Tatsachenvermutung des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG ist jedoch widerleglich (BFH, Urteil vom 20.11.2013, X K 2/12, juris, Rn. 24; Ott in Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 152). Sie ist hier widerlegt, weil die Klagen in den 10 streitgegenständlichen Ausgangsverfahren erst am 17. und 18. Januar 2008 zugestellt wurden und zu diesem Zeitpunkt bereits Schadensersatzforderungen im Gesamtumfang von 10.777.752,53 € geltend gemacht waren. Die Zustellung der Klagen in den 10 Ausgangsverfahren, die den streitgegenständlichen Entschädigungsverfahren zugrunde liegen, führte deshalb zu keiner spürbaren Mehrbelastung mehr.

Wird für die unangemessene Dauer einer Vielzahl gleichgerichteter Ausgangsverfahren Entschädigung verlangt, ist nach Auffassung des Senats für den Beginn des Verfahrens auf den Zeitpunkt der Zustellung der Klage (§ 261 ZPO) abzustellen, wenn der Beklagte des Ausgangsverfahrens später nach § 198 GVG vorgeht. Es ist anerkannt, dass der für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu berücksichtigende Zeitraum unterschiedlich sein kann und davon abhängt, welcher Verfahrensbeteiligte Ansprüche geltend macht (Ott in Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 60). Verfolgt ein Beklagter eines Zivilverfahrens als Entschädigungskläger Ansprüche nach § 198 GVG, ist maßgeblich auf die Zustellung der Klage des Ausgangsverfahrens abzustellen, weil er erst dadurch Kenntnis von dem Gerichtsverfahren erlangt.

Sieht sich ein Betroffener einer Vielzahl gleichgerichteter Schadensersatzforderungen aus demselben Komplex ausgesetzt, kann er nicht für jedes etwa verzögert betriebene Ausgangsverfahren den Regelentschädigungsbetrag des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG verlangen. Werden die Ansprüche sukzessive geltend gemacht, kann der Regelentschädigungsbetrag nur bei dem ersten Ausgangsverfahren angesetzt werden. Bei Folgeverfahren aus demselben Komplex, die später rechtshängig werden, ist es zunächst geboten, den für das erste Verfahren angesetzten Betrag nach § 198 Abs. 2 S. 4 GVG zu reduzieren, wobei allerdings eine Reduktion auf null unzulässig ist (hierzu: Ott in Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 227).Die Ausgangsverfahren sind zwar einzeln zu betrachten und die Belastung des Entschädigungsklägers erhöht sich auch mit der Zustellung weiterer Klagen, die Belastungserhöhung wird jedoch mit jedem weiteren Ausgangsverfahren geringer, bis sie ab einem bestimmten Zeitpunkt, der hier Ende 2007 erreicht ist, nicht mehr messbar ist.

Für die Annahme einer mit jedem Folgeverfahren degressiv abnehmenden Belastung streitet insbesondere ein Vergleich der Entschädigungssummen, die vorliegend im Raum stehen, mit jenen, die von den Gerichten bei schwersten Beeinträchtigungen körperlicher und seelischer Art zugesprochen werden. Würde man eine rein isolierte Betrachtung auf der Grundlage des Regelentschädigungsbetrags (§ 198 Abs. 2 S. 3 GVG) vornehmen, errechnet sich bei allen 2.441 in den Jahren 2007 und 2008 eingegangenen Ausgangsverfahren, für die der Kläger das Mandat zur Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen erteilt hat, ein Jahresentschädigungsbetrag von 2.929.200,- € (2.441 x 1.200,- €). Schon dieser Jahresbetrag übersteigt die Entschädigungssummen erheblich, die die Gerichte bei schwersten Beeinträchtigungen körperlicher und seelischer Art nach § 253 BGB zusprechen. Soll ein angemessenes Verhältnis zu diesen Entschädigungsbeträgen gewahrt bleiben, darf der Gesamtbetrag der Entschädigung, der nach § 198 GVG zuzusprechen ist, auch bei schwersten Verfahrensverzögerungen nach Auffassung des Senats jedenfalls keine sechsstellige Summe erreichen.

Zum Zeitpunkt der Zustellung der Klagen der Anleger in den streitgegenständlichen Ausgangsverfahren hat sich die mit der Geltendmachung weiterer Schadensersatzforderungen verbundene Beeinträchtigung des Klägers schon so stark reduziert, dass durch diese Verfahren kein messbarer immaterieller Nachteil mehr herbeigeführt wird. Der Nachteil erschöpft sich bei den vorliegenden Ausgangsverfahren vielmehr in der bloßen Ungewissheit über den Verfahrensausgang. Diese Ungewissheit mit der ihr eigenen Belastung für den rechtsschutzsuchenden Bürger führt allein indes nicht dazu, dass stets ein Nachteil anzunehmen ist. Dies wäre mit der gesetzlichen Konzeption als widerlegliche Vermutung nicht zu vereinbaren (BFH, Urteil vom 20.11.2013, X K 2/12, juris, Rn. 28). Ein weiterer Nachteil ist nicht erkennbar: Bei Zustellung der Klagen am 17. und 18. Januar 2008 waren bereits 386 Schadensersatzklagen im Gesamtumfang von 10.777.752,53 € rechtshängig. Ob sich dieser Betrag durch weitere Verfahren noch erhöhen würde, spielte für den Kläger keine signifikante Rolle mehr. Denn seine Vermögensverhältnisse erlaubten es ihm schon nicht, diesen Betrag zu begleichen. Er schuldete dem Land Berlin sowohl Steuern als auch steuerliche Nebenleistungen und verfügte demgegenüber über kein nennenswertes Vermögen. Die Steuerschuld, die bis zum 24.08.2007 bereits eine Höhe von 10.284.173,56 € erreicht hatte, konnte von dem Kläger nicht bedient werden. Vollstreckungsversuche des Landes Berlin schlugen fehl. Weil gegen ihn Ansprüche auf eine unerlaubte Handlung gestützt werden, kann der Kläger nicht einmal vorbringen, dass er bei einer schnelleren Entscheidung zügiger das Restschuldbefreiungsverfahren hätte durchführen können (§ 302 Nr. 1 InsO).

Soweit der Kläger dagegen vorbringt, er werde bei einer solchen Betrachtungsweise wegen seiner Vermögenslosigkeit rechtlos gestellt, trifft das nicht zu. Es ist anerkannt, dass die Vermögensverhältnisse bei der Entscheidung nach § 198 GVG eine Rolle spielen können (vgl. Ott in Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 162). Außerdem wird der Kläger schon deshalb nicht rechtlos gestellt, weil er wegen der zeitlich vorangehenden Verfahren Entschädigung verlangen kann, nur die Gesamthöhe der Entschädigung wird durch die Berücksichtigung der chronologisch abnehmenden Belastung auf ein angemessenes Maß reduziert. Weil der Kläger bereits bei Zustellung der ersten Klagen in den Ausgangsverfahren überschuldet war, kann vorliegend auch nicht argumentiert werden, dass erst die Forderungen aus den streitgegenständlichen Ausgangsverfahren die finanzielle Leistungsfähigkeit des Klägers überstiegen und ihn deshalb besonders belastet hätten.

Eine andere Entscheidung (Fortbestehen der tatsächlichen Vermutung und Annahme eines Nachteils) ist auch nicht deshalb zu treffen, weil der Kläger im April 2009 unstreitig einen Herzinfarkt erlitten hat. Zwar kann ein solcher Herzinfarkt seine Ursache in einer Gesamtbelastung haben, die wiederum - nicht ausschließbar - durch anhängige Rechtsstreitigkeiten hervorgerufen sein kann. Hierfür war die unangemessene Verfahrensdauer jedoch nicht kausal, weil das Verfahren jedenfalls bis Ende Februar 2010 angemessen betrieben wurde, der Herzinfarkt aber bereits im April 2009 aufgetreten ist. Außerdem kommt es für die psychische Beeinträchtigung des Klägers jedenfalls nicht mehr auf die streitgegenständlichen Verfahren an, weil die Belastung, die den Herzinfarkt ausgelöst haben mag, möglicherweise auf chronologisch vorangehenden Verfahren, nicht aber auf den im aktuellen Rechtsstreit relevanten zehn Ausgangsverfahren beruhte. Weil die streitgegenständlichen Verfahren den Kläger - wie ausgeführt - von Anfang an nicht belastet haben, konnte durch sie im späteren Zeitpunkt, in dem die Verfahrensdauer unangemessen wurde, keine Belastung mehr eintreten.

c. Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer

Hat ein Verfahrensbeteiligter - wie hier - infolge der Dauer eines Gerichtsverfahrens keinen Nachteil erlitten, findet keine Wiedergutmachung durch Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 4 S. 1 GVG statt (BFH, Urteil vom 20.11.2013, X K 2/12, juris, Rn. 42). Der Senat bemerkt deshalb lediglich ergänzend, dass eine solche Feststellung bei Annahme eines Nachteils in den streitgegenständlichen Fällen jedenfalls ausreichend wäre, weil den konkreten 10 Ausgangsverfahren keine besondere Bedeutung zukommt (vgl. BFH, Urteil vom 17.04.2013, X K 3/12, juris, Rn. 59; Ott in Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 162).

3. prozessuale Nebenentscheidungen

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Der Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit liegt § 709 S. 1 und S. 2 ZPO zugrunde. § 708 Nr. 11 ZPO kommt nicht zur Anwendung, weil bei einem Streitwert von 47.900,- € bereits die 1,6 fache Verfahrensgebühr des Prozessbevollmächtigten nach Nr. 3300 Ziffer 3 der Anlage zum RVG eine Vollstreckung des beklagten Landes im Wert von mehr als 1.500,-. € ermöglicht. Hinzu kommt u.a. die Terminsgebühr gemäß Nr. 3104 der Anlage zum RVG i.V.m. der Vorbemerkung 3.3.1..

4. Zulassung der Revision

Der Senat lässt die Revision im Hinblick auf die Bewertung der unangemessenen Verfahrensdauer und die Widerlegung der Tatsachenvermutung des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG bei Massenverfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung zu (§§ 201 Abs. 2 S. 3 GVG, 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO).

5. Streitwert

Der Streitwert für die Leistungsklage beträgt 47.900,- € (9 x 4.800,- € = 43.200,- € + 4.700,- €). Er wird nach Auffassung des Senats durch die zusätzlich erhobene Klage auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer nicht erhöht, weil das Gericht unabhängig von dem unzulässigen Antrag ohnehin in jedem Entschädigungsverfahrens von Amts wegen prüfen muss, ob es des Feststellungsausspruchs bedarf.