Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 09.08.2021, Az.: 2 A 77/18
Bisexualität; Homophobie; Homosexualität; soziale Gruppe
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 09.08.2021
- Aktenzeichen
- 2 A 77/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 70938
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 3b Abs 1 Nr 4 AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Bisexuelle und schwule Männer bilden im Iran eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
2. Eine Verfolgungsgefahr aufgrund der sexuellen Orientierung darf nicht allein deswegen abgelehnt werden, weil der Betroffene auch in Deutschland seine sexuellen Neigungen im Hinblick auf Männer lediglich diskret bzw. im Verborgenen auslebt.
Tatbestand:
Der Kläger ist iranischer Staatsangehöriger, kurdischer Volkszugehörigkeit und nach eigenen Angaben atheistisch.
Im Iran schloss er die Schule mit dem Abitur ab und studierte zwei Jahre lang Architektur, brach das Studium jedoch ab. Danach arbeitete er als selbstständiger Schweißer im Bau von Häusern. Er lebte zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern im Haus seines Vaters. Im D. verließ er sein Heimatland und reiste auf dem Landweg am E. nach Deutschland ein. Die Kosten der Reise von 5.500,00 Euro finanzierte er von seinen Einkünften. Im Iran lebt außerdem noch seine Großfamilie.
In seiner grenzpolizeilichen Befragung zum Anlass der Einreise nach Deutschland am E. gab er an, er habe den Iran wegen seiner Homosexualität und wegen seiner Ungläubigkeit verlassen.
Am F. stellte er einen förmlichen Asylantrag bei der Beklagten. Seine persönliche Anhörung erfolgte am G..
Er berichtete, er habe den Iran verlassen müssen, weil er bisexuell sei. Darüber bewusst geworden sei er sich mit 22 oder 23 Jahren. Es sei in seinem Heimatland sehr schwierig, einen Partner zu finden, und er habe seine Sexualität im Bekanntenkreis wie auch in der Familie verheimlichen müssen. Wenn dies herauskäme, drohe seine ganze Familie von der Gesellschaft stigmatisiert zu werden. Außerdem befürchte er staatliche Verfolgung und Haft. Er habe zwar zwischen H. und I. über zweieinhalb Jahre einen festen Freund gehabt, den er über einen Chat kennen gelernt habe. Sie hätten sich in seinem Büro getroffen oder in den Häusern, in denen er beruflich zu tun gehabt hätte. Offen mit ihm zusammen zu sein oder gemeinsam eine Wohnung zu mieten, sei aber unmöglich gewesen. Außerdem würden die sozialen Medien teilweise staatlich überwacht. Die Beziehung geheim zu halten sei ihm sehr schwer gefallen. Schließlich hätten sie sich getrennt. Danach habe er keinen anderen Mann mehr kennen gelernt. Seine Onlinekontakte hätten sich nicht getraut, sich mit ihm zu treffen. Etwa vier Monate vor seiner Ausreise sei er mit einer Frau zusammen gewesen. Über seine Bisexualität habe er mit niemandem sprechen können, weil dies ein absolutes Tabu sei. Die Menschen in seinem Bekanntenkreis hätten sich sehr abfällig über Menschen mit abweichenden sexuellen Orientierungen geäußert.
Zudem sei er konfessionslos. Angefangen, sich mit den verschiedenen Glaubensrichtungen näher zu beschäftigen, habe er mit 18 oder 19 Jahren. Er habe viele Widersprüche erkannt und dadurch seinen zuvor starken Glauben an Gott verloren. Mittlerweile glaube er, dass die Welt durch einen Zufall entstanden sei, denn er könne nicht verstehen, warum Gott so viel Leid und Gewalt in der Welt zulassen sollte. Er tue Gutes nun nicht mehr zum eigenen Vorteil, um ins Paradies zu kommen, oder vermeide schlechtes Verhalten, um nicht in die Hölle zu kommen. Stattdessen verhalte sich allein den anderen Menschen zuliebe entsprechend. Er meine, der Glaube solle Privatangelegenheit bleiben, und lehne Missionierung ab, da er überzeugt sei, dass dies nur zu Problemen zwischen den Menschen führe. Mit dem Verlust des Glaubens habe auch sein Leben für ihn an Bedeutung verloren und er habe unter Schlafstörungen, Depressionen und Suizidgedanken gelitten und kein Ziel mehr im Leben gehabt. Darüber, dass er gar keinen Glauben habe, habe er nur mit einigen Freunden, einem Onkel und einigen Cousins gesprochen. Diese hätten sehr tolerant darauf reagiert. Seine anderen Familienmitglieder hätten nur gewusst, dass er nicht so gläubig sei, aber sie hätten wohl weiteres geahnt. Außerhalb von Diskussionen sei seine Konfessionslosigkeit aber nicht zu erkennen gewesen, aber er habe seine wahre Überzeugung im Alltag immer verleugnen müssen. Beispielsweise habe er vor seiner selbstständigen Tätigkeit auch beten müssen, um einen Job zu behalten, und bei Fragen nach seiner Religion habe er entweder lügen oder sich herausreden müssen.
Persönlich bedroht oder verfolgt worden sei er bisher aber weder wegen seiner Bisexualität noch wegen seiner Konfessionslosigkeit.
Mit Bescheid vom 15.01.2018 lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 4), drohte die Abschiebung in den Iran an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Ziffer 6). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass der Kläger sein Verfolgungsschicksal, insbesondere seine bisexuelle Neigung, nicht glaubhaft gemacht habe. Bei der Schilderung seiner Beziehung habe es an realistischen und authentischen Details gefehlt. Zudem habe er die zur Verfügung stehenden Apps zur Partnersuche nicht genutzt. Über seine Sexualität offen zu sprechen, sei anscheinend kein besonderes Anliegen für ihn und bisher sei es ihm auch gelungen, seine Orientierung im Iran geheim zu halten. Zwischen seiner Abwendung vom Islam vor nunmehr 22 Jahren und seiner Ausreise sei kein Zusammenhang erkennbar, zudem habe sein soziales Umfeld seine Konfessionslosigkeit akzeptiert.
Der Kläger hat am 24.01.2018 Klage erhoben.
Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und führt aus, ihm drohe im Iran Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung. Diese sei wesentlicher Kern seiner Identität und es sei ihm nicht zuzumuten, sie dauerhaft zu unterdrücken. Lebe er sie im Iran aber aus, drohe ihm unmenschliche Behandlung bis hin zur Todesstrafe.
Er beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, ferner hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen, und den Bescheid vom 15.01.2018 aufzuheben, sofern er dem entgegensteht.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
Der Kläger berichtete in der mündlichen Verhandlung unter anderem, in Deutschland habe er schon sexuellen Kontakt mit Männern gehabt und stehe derzeit regelmäßig noch mit einigen von ihnen über Messenger in Kontakt, obwohl er nunmehr in einer festen Beziehung zu einer Frau sei. Aktuell verzichte er auf Affären mit Männern, um seine Freundin, die schwer krank sei, nicht durch eine mögliche Infektion mit dem Coronavirus zu gefährden. Er habe sich bis heute auch in Deutschland nicht zu seiner Bisexualität bekannt, nicht einmal gegenüber seiner Lebensgefährtin, weil das für ihn etwas Privates sei. Zudem befürchte er, dass die Information über in Deutschland wohnhafte Kurden und Iraner doch in seine Heimat gelangen und seine Familie deshalb aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden könnte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Tatbestandes wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 09.08.2021 teilgenommen hat, weil sie jeweils ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 15.01.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Dem Kläger steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.
Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk"), drohen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A -, juris Rn. 32). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -; Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris).
Es obliegt dabei dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es der Schilderung eines in sich stimmigen Sachverhaltes, aus dem sich bei unterstellter Wahrheit ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist.
Die Einzelrichterin ist nach eingehender Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung überzeugt davon, dass seine Schilderungen der Wahrheit entsprechen, insbesondere, dass der Kläger tatsächlich bisexuell ist. Dem steht nicht entgegen, dass er in Äußerem und Auftreten keine klassischen Klischees über homosexuelle Männer erfüllt, denn anhand solcher kann die sexuelle Orientierung eines Menschen jedenfalls nicht allein beurteilt werden (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 10.03.2020 - 9 A 294/18 -, juris Rn. 30). Der Kläger machte einen sehr authentischen und aufrichtigen Eindruck, seine Antworten stimmten mit den in seiner Anhörung bei der Beklagten getätigten Aussagen überein bzw. ergänzten diese logisch und wirkten zu keinem Zeitpunkt asyltaktisch motiviert. So gab er etwa offen zu, im Iran bisher nie Verfolgungsmaßnahmen erlitten zu haben, und räumte ein, seine Bisexualität in Deutschland noch immer nur heimlich zu praktizieren und sich ein „Outing“ oder eine feste Beziehung mit einem Mann derzeit nicht vorstellen zu können. Für die Glaubhaftigkeit seiner Aussage spricht darüber hinaus, dass er seine beiden wesentlichen Fluchtgründe, seine sexuelle Orientierung und seine atheistische Glaubensüberzeugung, bereits unmittelbar nach der Einreise nach Deutschland in der grenzpolizeilichen Befragung nannte.
Der Kläger ist unverfolgt aus dem Iran ausgereist, dennoch droht ihm in seinem Herkunftsland Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung.
Bisexuelle und schwule Männer bilden im Iran eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
Demnach gilt eine Gruppe als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.
Die iranische Gesellschaft ist heteronormativ geprägt in einem Maße, dass abweichende sexuelle Orientierungen für die Mehrheitsgesellschaft keine alternative Lebensweise bilden, sondern schon im allgemeinen Sprachgebrauch häufig nur als Beleidigung vorkommen und ansonsten totgeschwiegen werden (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 23). Die Regierung zensiert alle Materialien, die sich auf den Status oder das Verhalten von LGBTI-Personen beziehen, und blockiert insbesondere Websites, die LGBTI-Themen diskutieren (United States Department of State (USDOS), Iran 2019 Human Rights Report, 11.03.2020, S. 50). Zwar sind jüngere Iraner, vor allem in den fortschrittlicheren Teilen der Großstädte, zunehmend toleranter, dennoch wird Homosexualität im Großen und Ganzen nicht offen diskutiert wird und homosexuelle Menschen werden schwer diskriminiert (Australian Government Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Country Information Report Iran, 14.04.2020, S. 54). Insbesondere bei streng Religiösen und Traditionalisten gilt Homosexualität nach wie vor als Sünde, Schande und als strafwürdig (Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), Überblick: Homosexuelle im Iran, https://www.igfm.de/ueberblick-homosexuelle-im-iran/, aufgerufen am: 09.08.2021).
Zudem tätigen die iranischen Behörden regelmäßig Aussagen, die Menschen aufgrund ihrer abweichenden sexuellen Orientierung erniedrigen und entmenschlichen (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 16). Noch im Juni 2019 verteidigte der iranische Außenminister Hinrichtungen von LGBTI-Personen aufgrund ihres Status oder ihres Verhaltens. Auf die Frage eines Journalisten in Deutschland, warum das Land Homosexuelle hinrichte, erklärte er: „Unsere Gesellschaft hat moralische Prinzipien. Und wir leben nach diesen Prinzipien. Das sind moralische Prinzipien, die das Verhalten der Menschen im Allgemeinen betreffen. Und das bedeutet, dass das Gesetz respektiert wird und das Gesetz befolgt wird“ (United States Department of State (USDOS), Iran 2019 Human Rights Report, 11.03.2020, S. 50).
Dies führt dazu, dass LGBTI-Personen Aspekte oder manchmal gar große Bereiche ihres Lebens geheim halten müssen (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 9 – Zusammenfassung, Asylanträge basierend auf sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität, Asylmagazin3/2013, S.70-73). Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Ausgrenzung ist ein öffentliches „Coming out“ grundsätzlich nicht möglich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, 05.02.2021, S. 18). Ansonsten sehen sich viele familiärer Gewalt, gesellschaftlicher Diskriminierung, Missbrauch, Schikanen und in einigen Fällen auch körperlichen Angriffen ausgesetzt (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 8).
Entgegen weltweiter Kritik wurde der Tatbestand der Todesstrafe für „einvernehmliches gleichgeschlechtliches Sexualverhalten“ gem. Art. 233 ff. auch in der Neufassung des Islamischen Strafgesetzbuches von 2013 aufrechterhalten. Homosexuelle Handlungen zwischen Männern sind nach dem hadd-Strafenkatalog abhängig von der Handlung unmittelbar bzw. nach vier Verurteilungen mit dem Tode zu bestrafen. Zwar sind die Beweisanforderungen sehr hoch (vier männliche Zeugen, Ermittlungsverbot in Fällen, in denen zu wenige Zeugenaussagen vorliegen, hohe Strafen für Falschbeschuldigungen). Dennoch wurden im Iran seit der der iranischen Revolution 1979 vermutlich bereits 5.000 Schwule und Lesben hingerichtet (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 16). Im Jahr 2019 wurde ein Mann in Kazeroun wegen verschiedener Anschuldigungen, darunter „Sodomie“, öffentlich hingerichtet, im Jahr 2014 zwei wegen „Sodomie“ angeklagte Männer in Shiraz (International Federation for Human Rights (FIDH), League for the Defense of Human Rights in Iran (LDDHI), No one is spared, The widespread use of the death penalty in Iran). Aufgrund der mangelnden Transparenz des iranischen Gerichtswesens gibt es aber keine offizielle Auflistung der strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen wegen Homosexualität (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 35 Iran, Aktuelle Lage vor den Präsidentschaftswahlen: Die hybride Staatsordnung, Strafrecht, Menschenrechtslage und Ausblick, Mai 2021, S. 11 f.).
Nach der Gesetzeslage im Iran drohen Männern unterschiedliche Strafen für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, je nachdem, ob sie der „aktive“ oder der „passive“ Teilnehmer sind. Der passiven Person droht die Todesstrafe, aber der aktiven Person droht die gleiche Strafe nur, wenn sie verheiratet ist oder es sich um eine Vergewaltigung handelte. Die Gesetze können zu Misstrauen zwischen den Partnern führen, denn wenn sie erwischt werden, ist die einzige Verteidigung für den „passiven“ Partner Vergewaltigung. Damit ist auch die Bedrohung durch Erpressung ein großes Problem für schwule Männer (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran, 29.02.2021, S. 69).
Sicherheitskräfte schikanieren, verhaften und halten Personen fest, die sie verdächtigten, LGBTI zu sein. In einigen Fällen führen Sicherheitskräfte Hausdurchsuchungen durch und überwachen Internetseiten auf Informationen über LGBTI-Personen. Diejenigen, die der „Sodomie“ beschuldigt werden, sehen sich oft Schnellverfahren gegenüber und die Standards der Beweisführung wurden nicht immer eingehalten. Die iranische LGBTI-Aktivistengruppe 6Rang merkte an, dass Personen, die unter solchen Bedingungen verhaftet wurden, regelmäßig erzwungenen Anal- oder Sodomie-Untersuchungen und anderen erniedrigenden Behandlungen sowie sexuellen Beleidigungen ausgesetzt wurden (United States Department of State (USDOS), Iran 2019 Human Rights Report, 11.03.2020, S. 50). In den Haftanstalten sind homosexuelle Männer in besonderem Maße Misshandlungen ausgesetzt, Berichten zufolge werden sie angekettet oder jahrelang in Einzelhaft festgehalten (Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), Überblick: Homosexuelle im Iran, https://www.igfm.de/ueberblick-homosexuelle-im-iran/, aufgerufen am: 09.08.2021).
Eine beträchtliche Anzahl von Lesben, Schwulen und Transgendern berichtet, dass sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität verschiedenen Formen von Missbrauch durch ihre Familienmitglieder ausgesetzt war. Dazu gehörten Schläge und Auspeitschungen sowie Formen des psychischen Missbrauchs wie erzwungene Isolation von Freunden und der Gesellschaft, Vernachlässigung und Verlassenwerden, verbale Beleidigungen und Todesdrohungen (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 25). Diejenigen, die Gewalt oder Drohungen ausgesetzt waren, sind in der Regel nicht bereit, diese Übergriffe den Behörden zu melden, aus Angst, dass sie selbst einer Straftat angeklagt werden (United Kingdom Home Office, Country Policy and Information Note Iran: Sexual orientation and gender identity or expression, Juni 2019, S. 9). Selbst Täter von sog. „Ehren“-Morden im Iran werden milder bestraft, wenn das Opfer eines hadd-Verbrechens wie eben auch der Vornahme homosexueller Handlungen beschuldigt bzw. verdächtigt wurde (Amnesty International, Iran: Murder of 20-year old gay man highlights urgent need to protect LGBTI rights, 17.05.2021). Im Mai 2021 enthaupteten Familienmitglieder in Khuzestan Alireza Fazeli Monfared, einen schwulen, nicht-binären 20-Jährigen, nachdem sie eine von der Regierung ausgestellte Karte gesehen hatten, die ihn wegen „Perversionen, die gegen soziale und militärische Werte verstoßen“ vom Militärdienst befreite – eine Formulierung, die sich auf Monfareds sexuelle Identität bezog (United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), Country Update: Iran, August 2021, S. 1; Amnesty International, Iran: Murder of 20-year old gay man highlights urgent need to protect LGBTI rights, 17.05.2021).
Die rechtlichen und medizinischen Praktiken gegenüber der LGBTI-Gemeinschaft sind ebenfalls ein Problem. Homosexualität und Geschlechtsinkonformität werden im Iran als psycho-sexuelle Krankheit und medizinischer Zustand (Geschlechtsidentitätsstörung) betrachtet, der durch eine vom Staat unterstützte Geschlechtsumwandlungschirurgie behandelt wird. Der gesetzliche Rahmen bietet nur die Wahl, entweder eine sogenannte „reparative Therapie“ zu machen, um Personen von ihrer gleichgeschlechtlichen Anziehung oder ihrer Geschlechtsabweichung zu „heilen“, oder sich einer geschlechtsangleichenden Operation oder Sterilisation zu unterziehen (UN General Assembly: Situation of human rights in the Islamic Republic of Iran; Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Islamic Republic of Iran; Note by the Secretary-General, A/74/273, 02.08.2019, S. 15). „Konversionstherapien“ beinhalten, neben anderen missbräuchlichen Praktiken, die Verabreichung von Elektroschocks, Hormonen und starken psychoaktiven Medikamenten, selbst gegen Kinder (Amnesty International, Iran: Murder of 20-year old gay man highlights urgent need to protect LGBTI rights, 17.05.2021; Australian Government Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Country Information Report Iran, 14.04.2020, S. 53). Laut einem Bericht der Nichtregierungsorganisation 6Rang nahm die Zahl der privaten und halbstaatlichen psychologischen und psychiatrischen Kliniken, die angeblich „korrigierende Behandlungen“ oder reparative Therapien von LGBTI-Personen durchführen, im vergangenen Jahr weiter zu. NGOs berichten darüber hinaus, dass die Behörden LGBTI-Personen unter Druck setzen, sich einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen (United States Department of State (USDOS), Iran 2019 Human Rights Report, 11.03.2020, S. 51).
All diese Diskriminierungen und Gefahren begründen für Homosexuelle und Bisexuelle im Iran ein Klima der Unterdrückung, Ausgrenzung und Angst. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, das im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a AsylG so bedeutsam für die Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden darf, darauf zu verzichten (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 03.12.2020 - A 6 K 2552/18 -, juris Rn. 23). Homosexuelle und bisexuelle Männer besitzen im Iran auch eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie in einer Art und Weise von dem vorherrschenden Männlichkeitsideal abweichen, die die umgebende Gesellschaft ganz überwiegend nicht toleriert, und damit als andersartig betrachtet werden (vgl. zu Afghanistan: VG Bremen, Urteil vom 25.02.2020 - 4 K 1174/17 -, juris Rn. 24). Der Europäische Gerichtshof bejaht dieses Merkmal richtigerweise bereits bei Vorliegen strafrechtlicher Bestimmungen, wie hier der Art. 233 ff. IStGB, die spezifisch Homosexuelle betreffen (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris; ebenso VG Magdeburg, Urteil vom 10.03.2020 - 9 A 294/18 -, juris Rn. 33). Ein Verfolgungsgrund liegt damit vor.
Dem Kläger drohen auch gerade wegen seiner Bisexualität (§ 3a Abs. 3 AsylG) Verfolgungshandlungen in Form von Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), gesetzlichen, administrativen, polizeilichen oder justiziellen Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), sowie unverhältnismäßiger oder diskriminierender Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG).
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger auch in Deutschland seine sexuellen Vorlieben im Hinblick auf Männer lediglich im Verborgenen auslebt, sich also nur seinen Sexualpartnern gegenüber als bisexuell offenbart. Dass der Kläger in Deutschland vor Beginn der Coronapandemie und seiner festen Beziehung zu einer Frau bereits sexuell mit anderen Männern verkehrt hat, steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, insbesondere, da er auf Nachfrage auch spontan in der Lage war, etwa Namen und Berufe der Betreffenden zu nennen. Inwiefern der Kläger seine Bisexualität bisher ausgelebt hat, ob im Herkunftsland oder im Aufnahmeland Deutschland, ist aber nicht maßgeblich für die Annahme einer Verfolgungsgefahr.
Die diskrete Lebensweise des Klägers führt zum einen nicht dazu, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung abzulehnen wäre (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 03.12.2020 - A 6 K 2552/18 -, juris, Rn. 20).
Insbesondere hat der Kläger nicht nur dann mit Verfolgung zu rechnen, wenn ihm die Vornahme homosexueller Handlungen gerichtsfest mit der nach dem Iranischen Strafgesetzbuch erforderlichen Anzahl an Zeugen nachgewiesen werden kann. Denn schon bei Aufkommen eines entsprechenden Verdachts wäre der Kläger voraussichtlich von diskriminierenden und erniedrigenden Untersuchungsmaßnahmen der Polizeibehörden betroffen. Zudem wäre er in dem Fall, wie oben ausgeführt, unabhängig von der Beweislage etwaigen gewalttätigen Übergriffen aus dem privaten Umfeld ausgeliefert, weil der iranische Staat homo- und bisexuellen Personen keinen Schutz bietet (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 14.12.2017 - 4 A 8009/16 -, juris Rn. 33).
Ein solcher Verdacht kann auch dann aufkommen, wenn der Kläger sich wie bisher nur heimlich mit anderen Männern zu sexuellen Aktivitäten trifft. Bei seiner sexuellen Orientierung handelt es sich um ein Merkmal, das den Kläger noch für den Rest seines Lebens prägen und begleiten wird, sodass noch viele potenzielle Gelegenheiten bestehen, bei denen der Kläger „enttarnt“ werden könnte. Hinzu kommt, dass die Gefahr einer Entdeckung nicht alleine von seinem eigenen Verhalten abhängt. Sofern er auch nur vereinzelt weiterhin sexuelle Kontakte zu Männern unterhält, ist er auch der Gefahr ausgesetzt, durch seine Sexualpartner verraten oder etwa bei der Nutzung einschlägiger Messenger von den Behörden aufgespürt zu werden.
Zum anderen ist dem Kläger auch eine Rückkehr in den Iran wegen seiner diskreten Lebensweise nicht eher zuzumuten als jemandem, der etwa an exponierter Stelle in der deutschen LGBTI-Community aktiv ist oder aktuell offen in Partnerschaft mit einem Mann lebt.
Im Gegensatz zur politischen oder religiösen Überzeugung, die sozial geprägte Bereiche darstellen und sich typischerweise in der Kundgabe und Verbreitung bestimmter politischer Positionen bzw. der Vornahme von und Beteiligung an religiösen Riten äußern, betrifft die sexuelle Betätigung die Intimsphäre eines Menschen. Somit darf von einer nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis dazu geschlossen werden, wie es etwa naheläge, wenn ein vorgeblich religiöser Mensch keinerlei Kontakt zu anderen Gläubigen sucht oder ein mutmaßlicher politischer Aktivist kein erkennbares Interesse an regimekritischen Tätigkeiten zeigt. Dies gilt umso mehr, wenn der Betreffende in einem gesellschaftlichen Umfeld wie im Iran aufgewachsen ist und geprägt wurde, in dem jedwede Sexualität ein tabuisiertes Thema und offiziell dem Kontakt zwischen Eheleuten vorbehalten ist und in dem abweichende sexuelle Orientierungen als krankhaft und kriminell geächtet werden. Auch wenn sich die Betroffenen diesen Einflüssen durch ihre Flucht entzogen haben, ist zu erwarten, dass ihre sexuelle Orientierung für sie aufgrund der erlebten Stigmatisierung noch lange ein scham- oder gar schuldbesetztes Thema bleibt (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 03.12.2020 - A 6 K 2552/18 -, juris Rn. 19).
Angesichts dessen davon sind Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Auslebens der sexuellen Neigungen durch eine nach Überzeugung des Gerichts homo- oder bisexuelle Person grundsätzlich problematisch. Sie dürfen jedenfalls nicht entscheidender Maßstab für die Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland sein.
Auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist anerkannt, dass „bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten [können], dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden“ (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 76). Dies wird von der deutschen Rechtsprechung bisher weitgehend dahingehend ausgelegt, dass diskretes Verhalten bei der Prüfung eines Asylantrages nicht vom Antragsteller „verlangt“ werden (so VG Potsdam, Urteil vom 27.05.2021 - 2 K 3028/18.A -, juris Rn. 35; VG Berlin, Urteil vom 17.08.2020 - 6 K 686.17 A -, juris Rn. 42), er nicht „darauf verwiesen“ werden (so BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22.01.2020 - 2 BvR 1807/19 -, juris Rn. 19; VG Würzburg, Urteil vom 15.06.2020 - W 8 K 20.30255 -, juris Rn. 26) oder es ihm nicht „zugemutet“ werden (so VG Chemnitz, Urteil vom 18.05.2021 - 4 K 2610/17.A -, juris Rn. 39) dürfe.
Dennoch wird in der Regel eine Prognose dahingehend angestellt, in welchem Umfang der Betroffene voraussichtlich seine Neigungen im Herkunftsland ausleben wird, ob im Verborgenen oder äußerlich erkennbar, oftmals orientiert an der bisherigen Risikobereitschaft oder der Lebensweise in Deutschland (so etwa VG München, Urteil vom 08.03.2019 - M 9 K 17.39188 -, juris Rn. 21; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 08.10.2020 - 4 K 945/18 -, juris Rn. 52; VG Berlin, Urteil vom 17.08.2020 - 6 K 686.17 A -, juris Rn. 46). Es wird von den Antragstellern mithin erwartet, dass sie in irgendeiner Form unter Beweis stellen, dass ihnen das Verfolgen ihrer Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil ihrer Identität ist.
Die sexuelle Orientierung ist aber zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen. Dies würde man auch einer heterosexuellen Person nicht absprechen, selbst wenn diese seit Jahren ohne Partner oder sexuelle Kontakte lebt. Wie viel Platz Sexualität und Partnerschaft im Leben eines Menschen einnehmen, ist individuell unterschiedlich und kann sich jederzeit massiv verändern, wenn der Betreffende eine Person kennen lernt, zu der er sich hingezogen fühlt (ähnlich VG Chemnitz, Urteil vom 18.05.2021 - 4 K 2610/17.A -, juris Rn. 30). Selbst wenn das bisherige ungebundene Dasein für denjenigen bis zu dem Zeitpunkt akzeptabel oder sogar erfüllt gewesen sein mag, kann sich sodann von einem Tag auf den anderen das Bedürfnis einstellen, mit dieser Person sein Leben zu verbringen oder etwa eine Familie zu gründen. Unter dieser Prämisse darf ein Geflüchteter nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihm das offene Zusammenleben mit einem frei gewählten Partner der Gefahr staatlicher Verfolgung aussetzen würde.
Auch der Europäische Gerichtshof hat in der Originalfassung des Urteils vom 07.11.2013 (C-199/12 bis C-201/12) bei wörtlicher Übersetzung tatsächlich ausgeführt, „bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft könnten die zuständigen Behörden vernünftigerweise [bzw. billigerweise] nicht erwarten, dass der Asylbewerber, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, im Herkunftsland seine Homosexualität geheim hält oder seine sexuelle Orientierung nur zurückhaltend zum Ausdruck bringt,“ (niederländische Originalfassung einzusehen unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/NL/ALL/?uri=CELEX%3A62012CJ0199; vgl. Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD), Korrektur zweier Übersetzungsfehler im Urteil ECLI:EU:C:2013:720, 18.05.2021). Der Einschub „von dem Asylbewerber“ (vgl. juris a. a. O.) anstatt „vernünftigerweise“ bzw. „billigerweise“ ist eine Veränderung des Urteilstextes in der deutschen Übersetzung, die den Sinn der Aussage verändert. Es muss angenommen werden, dass der Gerichtshof nicht nur ausschließen wollte, dass die Behörden ein solches Verhalten vom Betroffenen verlangen oder fordern (i. S. v. etwas „von jemandem“ erwarten), sondern klarstellen, dass sie eine solche Diskretion auch nicht – etwa aufgrund einer bisher sexuell zurückhaltenden Lebensweise – unterstellen oder prognostisch vermuten und daraus Schlüsse ziehen dürfen. Diese Annahme wird bestätigt durch die Begründung des Urteils, in der der Gerichtshof ausführt, „dass [der Betroffene] die Gefahr dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person, ist insoweit unbeachtlich“.
Schon weil die Einzelrichterin also davon überzeugt ist, dass der Kläger tatsächlich bisexuell ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine dauerhafte und erzwungene Unterdrückung seiner Neigungen im Iran für ihn zumutbar wäre. Die Entscheidung, wie jemand seine sexuelle Orientierung auslebt und insbesondere, ob er sich offen zu seiner sexuellen Orientierung bekennen möchte oder nicht, ist eine höchstpersönliche, deren Bewertung dem Gericht entzogen ist. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der Bewahrung dieser Freiheit einschließlich der freien Wahl des richtigen Zeitpunkts für ein „Outing“.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative i. S. v. § 3e Abs. 1 AsylG ist nicht gegeben, denn die oben dargestellte Situation für Homo- und Bisexuelle gilt im gesamten Iran.
Im Hinblick auf die dem Kläger drohende Verfolgung als Bisexueller lässt die Einzelrichterin offen, ob daneben auch seine atheistische Glaubensüberzeugung die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen begründet.
Weil dem Kläger somit die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen ist, war die Ziffer 1 des Bescheides aufzuheben, da sie dem entgegensteht. Dementsprechend waren auch die Ziffern 3 und 4 des Bescheides aufzuheben, da die Entscheidung über den subsidiären Schutzstatus sowie die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen, regelmäßig gegenstandslos werden, wenn die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft Erfolg hat. Entsprechendes gilt für die Ausreiseaufforderung und Androhung der Abschiebung in den Iran (Ziffer 5) sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 6).