Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.04.2009, Az.: 15 K 263/08
Voraussetzungen des Anspruchs auf Kindergeld für in Polen lebende Kinder; Feststellungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 17.04.2009
- Aktenzeichen
- 15 K 263/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2009, 13928
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2009:0417.15K263.08.0A
Rechtsgrundlagen
- §§ 62 ff. EStG
- Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO 1408/71
- Art. 13 VO 1408/71
Fundstelle
- Jurion-Abstract 2009, 228875 (Zusammenfassung)
Kein Kindergeldanspruch für in Polen lebende Kinder eines polnischen Staatsangehörigen, der im Auftrag seines polnischen Arbeitgebers in Deutschland arbeitet
Tatbestand
Der Kläger begehrt Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder.
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, A, geb. am ... 2004, und B, geb. am ... 2007, die beide zusammen mit ihrer Mutter, der Ehefrau des Klägers, in Polen leben.
Der Kläger arbeitete in der Zeit vom 12. September 2004 bis 18. August 2005, 23. Oktober 2005 bis 14. September 2006 sowie in der Zeit vom 3. Januar 2007 bis 31. Dezember 2007 im Auftrag seiner polnischen Arbeitgeber in Deutschland. Er war abhängig beschäftigt und in Polen sozialversicherungspflichtig. Eine Versicherungspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit hat nach dem Vortrag des Klägers nicht bestanden.
Mit Bescheid vom 19. März 2008 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Kindergeld für seine beiden Kinder ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2008 abgelehnt.
Mit am 14. Juli 2008 bei Gericht eingegangenem Schreiben beantragte der Kläger Prozesskostenhilfe (PKH). Er beabsichtige eine Klage gegen die ablehnenden Entscheidungen der Familienkasse Oldenburg mit dem Begehren, die Familienkasse zu verpflichten, ihm Kindergeld für die beiden Kinder in Höhe von 154 EUR je Kind für jeden Monat zu zahlen, in dem er in Deutschland beschäftigt war.
Zur Begründung trug er vor, in seinem Fall bestünden an der arbeitsrechtlichen Bindung des Klägers zu seinem (formalen) polnischen Arbeitgeber Zweifel, weil Teile der Lohnvergütung indirekt vom deutschen "Arbeitgeber" gezahlt werden. Für die Zeit seiner Entsendung sei er in Unterkünften untergebracht worden, die allein von seinem deutschen "Arbeitgeber" gestellt bzw. angemietet worden seien; eine Stellung bzw. Anmietung durch den entsendenden polnischen Arbeitgeber sei nicht erfolgt. Die damit entstandenen Aufwendungen bei dem deutschen "Arbeitgeber" seien dadurch berücksichtigt worden, dass eine Kürzung des vom polnischen Arbeitgeber tatsächlich ausbezahlten Lohnes erfolgt sei. Eine Zahlung von Miete durch den (formalen) polnischen Arbeitgeber gegenüber dem deutschen Entleiher sei nicht erfolgt. Damit liege hinsichtlich der erfolgten Nutzung der Unterbringung durch ihn, den Kläger, allein eine Leistungserbringung durch den deutschen Entleiher als Gegenleistung für die vom Kläger erbrachte Arbeitsleistung vor. Damit bestünden in tatsächlicher Hinsicht Zweifel, ob er, der Kläger, als entsandter Arbeitnehmer i. S. des Art. 14 der Verordnung des Rates der Europäischen Union über die Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern Nr. 1408/71 (VO 1408/71) gelte.
Auch seien sämtliche Anweisungen der Beschäftigung allein durch Führungskräfte des deutschen "Arbeitgebers" erfolgt. Eine arbeitsrechtliche Kontrolle i. S. der Ausübung des auf Seiten des Arbeitgebers bestehenden Dispositionsrechts durch den polnischen Arbeitgeber sei nicht erfolgt. Vielmehr seien sämtliche Anweisungen durch den deutschen Entleiher erfolgt. In diesem Zusammenhang verwies der Kläger auf einen Beschluss des Hessischen Finanzgerichts vom 19. Juni 2008 (2 K 800/08), und legte eine Kopie einer anonymisierten Fassung vor (Blatt 21 bis 28 der PKH-Akte). Nach dem Inhalt des Beschlusses bewilligte das Finanzgericht PKH, weil die dort zuständige Behörde keine hinreichenden Feststellungen zur arbeitsrechtlichen Bindung an den ausländischen Arbeitgeber getroffen habe.
Im Übrigen wies der Kläger auf eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 20. Mai 2008 (C-352/06) hin. Nach Ansicht des Klägers sei dieser Entscheidung zu entnehmen, dass ihm ein Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht zustehe. Der EuGH habe deutlich gemacht, dass ein Mitgliedsstaat auch dann, wenn er nicht als Beschäftigungsstaat i. S. des Art. 13 VO 1408/71 gelte, Kindergeld nach nationalem Recht gewähren könne.
Im Streitfall stehe auch § 65 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetze (EStG) der Gewährung von Kindergeld nicht entgegen. Der Kläger wies darauf hin, dass ihm in Polen kein Anspruch auf Kindergeld zustehe, da er die dort geltenden Einkommensgrenzen überschreite.
Mit Beschluss vom 23. September 2008 hat der 15. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts den Antrag auf Bewilligung von PKH abgelehnt, der dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 29. September 2008 zugegangen ist.
Der Kläger hat nunmehr mit bei Gericht am 15. Oktober 2008 eingegangenem Schreiben Klage erhoben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Klagefrist beantragt. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf sein Vorbringen im PKH-Verfahren.
Durch Beschluss im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 17. April 2009 ist das Verfahren wegen Kindergeld für das Kind B für die Monate September 2004 bis August 2005, Oktober 2005 bis September 2006 und Januar 2007 bis Juli 2007 nach § 73 FGO abgetrennt und nach § 72 Abs. 2 FGO eingestellt worden, da die Klage insoweit zurückgenommen worden ist.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Bescheids vom 19. März 2008 und des Einspruchsbescheids vom 12. Juni 2008 die Beklagte zu verpflichten, ihm Kindergeld für seine Tochter A für die Monate September 2004 bis August 2005, Oktober 2005 bis September 2006 sowie für die Zeit vom Januar 2007 bis Dezember 2007 und für seinen Sohn B für die Monate August bis Dezember 2007 zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an ihrer im Einspruchsbescheid vertretenen Rechtsauffassung fest und verweist auf die dortigen Ausführungen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt (§ 79a Abs. 3, 4 FGO; Schriftsatz des Klägers vom 31. Dezember 2008, Blatt 23 der Gerichtsakte; Schriftsatz der Beklagten vom 7. Januar 2009, Blatt 60 der Gerichtsakte).
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
1.
Die Klage ist nicht innerhalb der Klagefrist i.S. des § 47 FGO erhoben worden. Nach § 56 FGO ist dem Kläger Wiedereinsetzung in die Klagefrist zu gewähren.
Nach § 56 Abs.1 FGO setzt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand voraus, dass der Antragsteller ohne Verschulden verhindert war, die Klagefrist einzuhalten. Diese Voraussetzung liegt im Streitfall vor.
a)
Ein Verfahren über die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) ist ein berechtigter (weil unverschuldeter) Grund für die Überschreitung der Klagefrist. Das unverschuldete Hindernis endet aber mit der unanfechtbaren Entscheidung des Finanzgerichts über das PKH-Gesuch. Danach bleiben dem Antragsteller noch einige Tage zur Überlegung, ob er das beabsichtigte Klageverfahren auf eigene Kosten durchführen will (Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 27. November 1991 III B 566/90, BFH/NV 1992, 686 und st. Rspr. des Bundesgerichtshofs, zuletzt Beschluss vom 20. Januar 2009 VIII ZA 21/08, [...], m.w.N.). Danach beginnt die Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO, in welcher der Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt werden muss.
b)
Demnach war das Überschreiten der Klagefrist im Streitfall unverschuldet, da der Kläger zunächst ein Verfahren über die Gewährung von PKH angestrengt hatte. Nach Erhalt des ablehnenden Beschlusses am 29. September 2008 verblieben dem Kläger zumindest 2 Werktage zur Überlegung, ob er das beabsichtigte Klageverfahren auf eigene Kosten durchführen wolle. Der Kläger hat dann innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO am 15. Oktober 2008 Klage erhoben und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt.
2.
Der Kläger hat in Deutschland keinen Anspruch auf Kindergeld für seine beiden Kinder.
Die Beklagte hat zutreffend einen Kindergeldanspruch des Klägers mit der Begründung versagt, dass nach der VO 1408/71 das deutsche Kindergeldrecht und damit die §§ 62 ff. EStG ausgeschlossen sind.
a)
Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der VO 1408/71. Es ist eine Familienleistung i. S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung (Urteil des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, HFR 2004, 1139). Der Kläger unterliegt als Arbeitnehmer auch dem persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71.
Die Frage, ob dem Kläger ein Anspruch auf Kindergeld zusteht, ist demzufolge nach den Bestimmungen der VO 1408/71 zu entscheiden. Die Art. 13 bis 17a des Titels II der VO legen fest, welche Rechtsvorschriften auf Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, anwendbar sind. Sie bilden nach der Rechtsprechung des EuGH ein geschlossenes System von Kollisionsnormen und bezwecken, dass die Betroffenen (zu einem bestimmten Zeitpunkt) nur einem System der sozialen Sicherheit unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden (vgl. EuGH-Urteil vom 10. Juli 1986 Rs. 60/85, EuGHE 1986, 2365, Randnr. 12; Urteil des Bundessozialgerichts vom 15. Dezember 1992 10 RKg 18/91, NVwZ 1993, 919; BFH-Urteil vom 13. August 2002 VIII R 61/00, BStBl II 2002, 869).
Im Streitfall unterfällt der Kläger den polnischen Rechtsvorschriften. Gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) VO 1408/71 unterliegt ein Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates von einem Unternehmen beschäftigt wird, dem er gewöhnlich angehört, und von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates entsandt wird, weiterhin den Rechtvorschriften des ersten Staates, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und er nicht einen anderen Arbeitnehmer ablöst, für den die Entsendungszeit abgelaufen ist. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger.
Der Kläger war jeweils weniger als zwölf Monate als Arbeitnehmer seiner polnischen Arbeitgeber in Deutschland tätig. Es ist nicht vorgetragen worden, dass der Kläger eine Person abgelöst hat, für welche die Entsendungszeit abgelaufen war. Damit ist im vorliegenden Fall die Anwendung der Vorschriften des X. Abschnitts des EStG über das Kindergeld auf den Kläger ausgeschlossen, da er nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) VO 1408/71 nur den polnischen Rechtsvorschriften unterliegt.
Dabei teilt der erkennende Berichterstatter nicht die vom Kläger vorgebrachten Zweifel an der arbeitsrechtlichen Bindung des Klägers an seine polnischen Arbeitgeber. Die Anmietung der Unterkunft des Klägers in Deutschland durch den deutschen Unternehmer lässt nicht den Schluss zu, dass eine arbeitsrechtliche Bindung diesem gegenüber bestand. Dagegen spricht, dass der polnische Arbeitgeber die Kosten hierfür mit dem Arbeitslohn verrechnete. Ebenfalls hat der Kläger nicht substantiiert vorgetragen, dass der deutsche Unternehmer Weisungen an seine Person als Arbeitgeber - und nicht nur als Auftragnehmer des polnischen Arbeitgebers des Klägers - erteilt hätte.
Auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Hessischen Finanzgerichts vom 19. Juni 2008 (2 K 800/08) kommt der Senat nicht zu einem anderem Ergebnis. Denn die Feststellungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs trägt der Kindergeldberechtigte. Insofern ist es - insbesondere da vorliegend ein Auslandssachverhalt gegeben ist (vgl. § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung) - die Sache des Klägers, seine arbeitsrechtliche Stellung zu seinen polnischen Arbeitgebern darzulegen. Diesen Anforderungen ist er nicht genügend nachgekommen.
b)
Der erkennende Berichterstatter kommt nicht zu dem Ergebnis, dass dem Kläger neben den Regelungen der VO 1408/71 ein Kindergeldanspruch aus §§ 62 ff. EStG zusteht. Dabei folgt er der Ansicht der Finanzgerichte Köln und Düsseldorf (Urteil des FG Köln vom 11. Juni 2008 14 K 4462/07, EFG 2008, 1901; Urteile des FG Düsseldorf vom 22. Dezember 2008 10 K 404/08 Kg, StE 2009, 124 , vom 17. Februar 2009 10 K 1810/08 Kg, [...]), nach der das deutsche Kindergeldrecht keine (auch nicht subsidiäre) Anwendung findet, wenn nach der VO 1408/71 das Recht eines anderen Mitgliedstaats Platz greift.
c)
Entgegen der Ansicht des Klägers kann er auch aus der Entscheidung des EuGH vom 20. Mai 2008 (C-352/06) keinen Kindergeldanspruch herleiten. In diesem Urteil hat der EuGH lediglich festgestellt, dass Art. 13 Abs. 2 VO 1408/71 nicht ausschließe, dass der Wohnsitzstaat Familienleistungen nach seinen Rechtsvorschriften gewähren könne. Im vorliegenden Fall ist Wohnsitz- und Beschäftigungsstaat Polen. Dass ein Staat, im vorliegenden Fall Deutschland, der nach der Regelung der VO 1408/71 weder als Wohnsitz- noch als Beschäftigungsstaat anzusehen ist, Kindergeld zu gewähren hat, kann dem Urteil des EuGH nicht entnommen werden.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Im Hinblick auf die beim BFH anhängigen Verfahren zur Frage des Kindergeldanspruchs im Anwendungsbereich der VO 1408/71 (III R 51/08, III R 52/08, III R 55/08) wird die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen.