Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 01.02.1999, Az.: 8 A 8374/98

Absehen von der Abschiebung eines Ausländers; Ermessensreduzierung bei Gefahr für Leib und Leben; Drohen der Blutrache im Heimatland

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
01.02.1999
Aktenzeichen
8 A 8374/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 29908
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:1999:0201.8A8374.98.0A

Fundstellen

  • AUAS 1999, 234-236
  • NVwZ 1999, 112
  • NVwZ (Beilage) 1999, 112 (Volltext mit amtl. LS)

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 8. Kammer -
ohne mündliche Verhandlung am 1. Februar 1999
durch
den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Struß als Einzelrichter
für Recht erkannt:

Tenor:

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Die Beklagte wird verpflichtet, für den Kläger das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG festzustellen.

Der Bescheid der Beklagten vom 14.5.1998 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Verfahrenskosten tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1

Der Kläger ist albanischer Staatsangehöriger. Er reiste über die Schweiz und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er sei dann mit dem Zug nach Hannover zurückgefahren. Am 4.5.1998 beantragte er die Anerkennung als Asylberechtigter.

2

Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 12.5.1998 erklärte er zu seinen Asylgründen, er sei seit Anfang 1995 Mitglied der Demokratischen Partei gewesen. Er sei ein einfaches Mitglied gewesen und habe sich darüber hinaus nicht politisch betätigt. Er sei in Albanien weder gerichtlich verurteilt worden, noch je im Polizeigewahrsam oder im Gesahrsam sonstiger Sicherheitskräfte gewesen. Er habe den Asylantrag wegen einer ihm von der Familie Balla aus einem Nachbardorf drohenden Blutrache gestellt. Das die Blutrache auslösende Ereignis liege etwa 70 Jahre zurück. Zunächst sei ein Cousin seines Großvaters betroffen gewesnen. Dieser habe jedoch keine Kinder gehabt, weshalb die Blutrache auf seine Familie übergegangen sei. Die Blutrache sei ausgelöst worden, weil der Cousin des Großvaters jemanden aus der anderen Familie umgebracht habe. Sie hätten der anderen Familie mehrfach Versöhnung angeboten. Es habe jedoch nichts genutzt. Deswegen hätten sie sich auch öfter versteckt gehalten. Wenn sie ihn fänden, würden sie ihn erschießen. Die albanische Polizei kenne das Problem, sie könne es jedoch nicht lösen.

3

Mit Bescheid vom 14.5.1998 lehnte die Beklagte den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorliegen. Ferner wurde festgestellt, daß Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Der Kläger wurde zur Ausreise aufgefordert. Ihm wurde die Abschiebung nach Albanien oder in einen anderen möglichen Staat angedroht.

4

Am 26.5.1998 hat der Kläger Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Mit Beschluß vom 3.6.1998 hat die erkennende Kammer die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen den Bescheid der Beklagten vom 14.5.1998 angeordnet (8 B 8375/98).

5

Zur Begründung der Klage vertieft der Kläger sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. In der mündlichen Verhandlung hat er Einzelheiten zu seiner Familie und der Blutrache geschildert. U.a. erwähnte er einen Vermittler zwischen beiden verfeindeten Familien mit dem Namen Safet Toci.

6

Der Kläger hat zunächst beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 14.5.1998 ihm das Asylrecht für die Bundesrepublik Deutschland zu gewähren,

  2. 2.

    festzustellen, daß die Voraussetzungen der §§ 51, 53 AuslG vorliegen.

7

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amtes zur Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers zu einer durch die Familie Balla drohenden Blutrache. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22.12.1998 verwiesen.

8

Nach Vorliegen der Auskunft des Auswärtigen Amtes hat der Kläger die Klage hinsichtlich der Asylanerkennung und der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 AuslG zurückgenommen und auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11.6.1998 auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.

9

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

11

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29.7.1998.

12

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom 29.7.1998 informatorisch angehört worden. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

13

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

15

Im übrigen ist die Klage begründet.

16

Das Gericht darf mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).

17

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG.

18

Nach dieser Vorschrift kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, wobei sich das der Beklagten zustehende Ermessen wegen der betroffenen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit) dahin reduziert, daß sich nur die Gewährung von Abschiebungsschutz als ermessensfehlerfrei darstellt.

19

§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG umfaßt nicht nur eine Gefährdung durch staatliche Stellen, sondern auch eine von privater Seite drohende Gefahr (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 -). Der Kläger hat glaubhaft gemacht, daß ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in der Republik Albanien landesweit eine erhebliche konkrete Gefahr droht, von einem Angehörigen oder einer beauftragten Person der Familie Balla getötet zu werden.

20

Bei der Blutrache handelt es sich in Albanien um eine Institution privater Sühnemaßnahmen im Falle von Tötung oder Ehrverletzung. Es gibt u.a. dazu eine mündliche überlieferte und erst im 20. Jahrhundert schriftlich erfaßte Sammlung von Rechtssätzen (vor allem der sog. Kanun des Lek Dukagjinit). Dieses Gewohnheitsrecht hat durch Jahrhunderte Sitte und Brauchtum eines Großteils der Bevölkerung geprägt und war bis 1912 alleinige Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung. Selbst nach der kommunistischen Machtübernahme im Jahre 1944 hatte das Gewohnheitsrecht noch einen erheblichen Einfluß auf das gesellschaftliche Leben. Nach der politischen Wende in den Jahren 1990/91 ist es insbesondere bei Teilen der Bevölkerung, und zwar vor allem in den Bergregionen des Nordens, in Teilbereichen wieder lebendig geworden, auch wenn die strengen Sitten und vor allem die Sanktionen gegen Leib und Leben der Kontrahenten inzwischen stark verflacht sind. Zahlreiche alte Blutrachefehden sind aber in den 90iger Jahren mit einem Schwerpunkt im Norden wieder aufgeflammt. Es handelt sich um mehrere tausend Fälle. Mit ausländischer Hilfe sind mehrere Organisationen zur friedlichen Beilegung der Streitfälle gegründet worden. Der Staat selbst verhält sich gegenüber der Blutrache insoweit indifferent, als er Blutrachetaten zwar als Straftaten verfolgt, dem Betroffenen aber keinen Präventivschutz zukommen läßt, weil man dazu personell nicht in der Lage ist oder die Sache traditionell als Privatangelegenheit ansieht. Nach den bürgerkriegsähnlichen Unruhen Anfang 1997 reicht die staatliche Macht bis heute ohnehin nicht über die Hauptstadt Tirana und einige Ballungszentren hinaus. Nach den Regeln des Kanun gilt bei Tötung einer männlichen Person die Rechtsnorm "Blut für Blut", und zwar nach dem reinen Verursacherprinzip. Der Blutrache verfallen zunächst nur der Täter, sodann aber auch, wenn dieser z.B. nicht greifbar ist, seine Brüder sowie alle männlichen Abkömmlinge auf- und absteigender Linie. Durch die Tötung eines männlichen Familienmitgliedes wird die Tat gesühnt. Danach besteht kein Anspruch auf weitere Vergeltungsmaßnahmen mehr, falls nicht nunmehr umgekehrt die Familie des durch die Blutrache Getöteten ihrerseits bei der anderen Familie Sühne nimmt, sprich dort ein männliches Familienmitglied tötet. Aufgrund der engen familiären Bande der Albaner und dem damit verbundenen äußerst günstigen Informationsfluß läßt sich der Aufenthaltsort einer Person trotz eines fehlenden Meldesystems relativ leicht ermitteln, so daß eine Verlegung des Wohnsitzes, etwa in den Süden, keinen absoluten Schutz bieten kann. Seit der Plünderung der Waffendepots im Frühjahr 1997 muß davon ausgegangen werden, daß ein Großteil der Bevölkerung im Besitz von Feuerwaffen ist, was die Gefährdung durch Blutrachefehden erhöht (vgl. zum Vorstehenden sowie zu weiteren Einzelheiten Auskunft Auswärtiges Amt an VG Augsburg vom 7.1.1998, Lagebericht Auswärtiges Amt vom 17.2.1998, Gutachten Wolfgang Stoppel, Vors.Richter am BPatG, an VG Leipzig vom 22.11.1998).

21

Nach diesen Grundsätzen droht der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer einer Sühnemaßnahme durch die Familie Balla zu werden. Seine Angaben sind glaubhaft, weil diese nicht nur ohne Widersprüche in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gemacht hat, sondern sie auch - soweit dieses möglich war - durch das Auswärtige Amt in der Auskunft vom 22.12.1998 bestätigt worden sind. Das Auswärtige Amt hat den Vermittlungsversuch - und damit das Bestehen einer Blutrachefehde zwischen den beiden Familien -und den Namen des Vermittlers (Safet Toci) bestätigt. Der Familie des Klägers droht eine Sühnemaßnahme, weil der Cousin des Großvaters des Klägers jemanden aus der Familie Balla vor etwa 70 Jahren umgebracht hat und diese Tat nach den Regeln der Blutrache bislang nicht gesühnt wurde. Vermittlungsversuche sind bislang gescheitert. Von den für die Blutrache in Betracht kommenden männlichen Familienmitgliedern leben nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung fünf Brüder im Ausland. Neben seinem Vater kommt also nur noch der Kläger als Opfer in Frage. Das Gericht erachtet die sich aus dieser Situation ergebende Wahrscheinlichkeit, getötet oder bei einem fehlgeschlagenen Versuch verletzt zu werden, als beachtlich. Nach den zitierten Auskünften besteht in den übrigen Landesteilen Albaniens keine Sicherheit, der Verfolgung zu entgehen. Für eine beachtliche wahrscheinliche Gefährdung sprechen auch die beiden von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderten Vorfälle, der Wurf mit der Handgranate und die Schüsse aus dem Gewehr von unbekannten Tätern. Da keine Umstände ersichtlich sind, weshalb der Kläger sonst den Zorn anderer Personen auf sich gezogen haben sollte, ist ein Zusammenhang mit der Blutrache wahrscheinlich. Der Kläger war nach seinen Angaben nämlich lediglich einfaches Mitglied der Demokratischen Partei, hat sich politisch nicht betätigt und bei seinen Eltern gelebt.

22

Die Abschiebungsandrohung in dem angefochtenen Bescheid vom 14.5.1998 ist insoweit rechtswidrig, als der Staat Albanien darin als Zielstaat der Abschiebung genannt wird. Über den Wortlaut des § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG hinaus ist in der Abschiebungsandrohung auch der Staat zu bezeichnen, in dem der Ausländer nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht abgeschoben werden darf (BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 6.95 -, AuAS 1997, S. 50). Da § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG den Abschiebungshindernissen nach §§ 51 und 53 Abs. 1-4 AuslG im Rahmen des § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG nur dann gleichgestellt werden darf, wenn es sich um ein zwingendes Abschiebungshindernis handelt, ist vorliegend ausschlaggebend, daß eine Ermessensreduzierung auf Null zu einem zwingenden Abschiebungshindernis führt.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.

24

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist die Entscheidung unanfechtbar (§§ 92 Abs. 3 Satz 2, 158 Abs. 2 VwGO).

Dr. Struß